Letzte Aktualisierung am 31. März 2020.

Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 31.03.20 überarbeitet und spiegelt
den Stand der Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt wider. 

 

Hätte vor wenigen Wochen irgendjemand die heutige Situation in Europa beschrieben, wäre er wohl für verrückt erklärt worden. Doch innerhalb weniger Tage wurde vieles auf den Kopf gestellt, was bisher für unmöglich gehalten wurde. Wir stehen aber noch ganz am Anfang. Was hier losgetreten wurde, werden wir wohl erst in ein paar Jahren wirklich begreifen. Doch wie geht es nun weiter? Derzeit gibt es wesentlich mehr Fragen als Antworten und das dürfte sich nicht so rasch ändern. Eines erscheint jedoch bereits absehbar: Die Welt, wie wir sie bisher kannten, wird sich drastisch verändern. Dazu ein paar systemische Überlegungen und Betrachtungen.

Wirkungsgefüge Pandemie

Causality diagram for anticipative disaster preparedness from „Disasters as Extreme Events
and the Importance of Network Interactions for Disaster Response Management“

Anfang 2020 breitete sich in China eine neue Infektionskrankheit aus. Nicht zum ersten Mal nahm eine Epidemie oder Pandemie, also eine länderübergreifende bzw. weltweite Epidemie, ihren Ausgang in China. Jedoch konnten diese bisher immer relativ gut eingedämmt und beherrscht werden. Diesmal ist alles anders.

In Mitteleuropa wurde man erstmals hellhörig, als aus China berichtet wurde, dass binnen 10 Tagen ein komplettes Spital mit 1.000 Betten aus dem Boden gestampft wurde, um die Notversorgung in der hauptbetroffenen Region Wuhan aufrechterhalten zu können. Da sind wohl einige Planer in Mitteleuropa neidisch geworden. Die massiven Isolationsmaßnahmen und die unter Quarantänestellung von Millionen Menschen löste hier häufig nur Kopfschütteln aus: „So etwas geht nur in China.“ Wie rasch sich die Realität ändern kann.

Falsche Lagebeurteilung

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) musste am 11. März 2020 die COVID-19-Pandemie ausrufen. Die Erste nach der „Schweinegrippe“ im Jahr 2009/2010. Der relativ glimpfliche Verlauf der Schweinegrippe in unseren Breiten hat wohl auch dazu beigetragen, dass COVID-19 lange unterschätzt und heruntergespielt wurde. Ein fataler Irrtum, der mittlerweile auch in Europa vielen tausenden Menschen das Leben gekostet hat.

Erfahrungen und falsche Ableitungen

Man wollte sich wahrscheinlich nicht erneut der Gefahr aussetzen, im Nachhinein für Überreaktionen angeprangert zu werden. In Österreich ist vor allem der Ankauf von Grippeschutzmasken im Jahr 2006 noch im kollektiven Gedächtnis eingebrannt. Die Vorgangsweise beim Ankauf mag durchaus zweifelhaft gewesen sein. Zum Glück wurden die Schutzmasken nicht wie in Belgien nach der Überschreitung des Ablaufdatums ersatzlos entsorgt. Denn sie werden jetzt dringend als strategische Reserve benötigt und auch bereits eingesetzt.

Mangelhafte Sicherheitskommunikation

Leider ist es in der Vergangenheit nicht gelungen, den Menschen die damalige Lage, die Entscheidungsgrundlagen und die Sinnhaftigkeit der getroffenen Maßnahmen zum jeweiligen Entscheidungszeitpunkt zu vermitteln. Denn in Krisen müssen Entscheidungen so gut wie immer unter Zeitdruck und unter Informationsmangel getroffen werden. Im Nachhinein ist man immer klüger. Das hätte man auch durch eine entsprechende Transparenz und Sicherheitskommunikation vermitteln können.

Unzureichende Nachbereitungen

Daher ist häufig folgendes Phänomen zu beobachten: Passiert nichts, oder kommt es nicht so schlimm, wie erwartet, dann werden die Maßnahmen als übertrieben wahrgenommen. Kommt es anders, wird sofort ein Versagen unterstellt. Daher sind auch wir alle Teil des Problems. Im heutigen Umfeld kommt auch noch die Wirkung von Sozialen Medien hinzu, wo sich Dinge leicht emotional aufschaukeln lassen. Wenn dann klassische Medien auch noch aufspringen, entwickelt sich eine kaum beherrschbare Eigendynamik. Dies auch, weil den meisten Menschen die Risikokompetenz fehlt, um gewisse Dinge überhaupt einordnen zu können.

Organisationen neigen dazu, nach Ereignissen oder Übungen rasch wieder in den Alltag überzugehen. „Lessons Identified“, sofern diese überhaupt dokumentiert wurden, bekommen oft nicht die notwendige Aufmerksamkeit. Dies wohl auch, da damit eine Anpassung und Verhaltensänderung notwendig wäre, was häufig unserer menschlichen Natur widerspricht. Wir mögen Veränderungen nicht besonders gerne.

Daher ist es jetzt besonders wichtig, dass so viel als möglich in einem „(Einsatz)Tagebuch“ dokumentiert wird, was im jeweiligen Bereich gut funktioniert und was weniger, damit wir die Geschichte nicht wiederholen müssen. Was heute präsent ist, wird übermorgen durch neue Eindrücke verdrängt. Daher ist das schriftliche Festhalten so wichtig. Auch, um gewisse Abläufe und Zusammenhänge im Nachhinein besser nachvollziehen und beurteilen zu können.

Krisenkommunikation ist keine PR-Kommunikation

In den ersten Tagen nach dem Beginn der Krise wurde von der Regierung PR-Kommunikation anstatt Krisenkommunikation betrieben. Zum Teil auch noch danach. Das bedeutet, es werden Dinge schöngeredet und nicht klar angesprochen oder mit einer Salamitaktik behandelt. Informationen werden nur scheibchenweise kommuniziert. Das könnte zu einem Bumerang werden und zu einem massiven Vertrauensverlust führen, da sich die Menschen nicht auf die längerfristigen Entwicklungen einstellen können. Unterschwellig klingt mit, dass es bald wieder vorbei sein könnte, obwohl ganz das Gegenteil zu erwarten ist. Was aber mittlerweile auch bereits angedeutet wird. Natürlich wissen die Verantwortlichen auch oft nicht, wie es genau weitergehen wird. Aber auch das gehört zu einer guten Krisenkommunikation: Einzugestehen, was man nicht weiß. Das können die Menschen eher ertragen, als wenn sie das Gefühl haben, dass sie hinters Licht geführt werden, auch wenn das nicht stimmen muss.

Transparenz ist notwendig

Transparenz und eine angemessene Sicherheitskommunikation wären hier sehr wichtig. Auch, um potenzielle Fehlerquellen zu reduzieren. Denn gerade bei einer solch unfassbaren vernetzten Krise kann niemand alle Dimensionen überblicken. Daher wäre es umso wichtiger, dass von möglichst vielen unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Situation und auch auf die Entscheidungen geblickt wird, um mögliche Fehlentwicklungen frühzeitig erkennen zu können. Das ist derzeit nicht wahrnehmbar. Vielmehr wird auf Expertenmeinungen berufen, ohne die Experten und deren Hintergrund zu benennen. Experten vertreten auch nur einzelne Domänen. Daher wäre jetzt ein interdisziplinärer Zugang umso wichtiger. Ansonst war am Ende die Operation erfolgreich, aber der Patient ist trotzdem verstorben. Bei diesem Thema geht es nicht nur um die Zukunft einzelner Gruppen, sondern um die von uns allen.

Die bisher gelebte österreichische Risikokultur, Risiken so lange es irgendwie geht zu ignorieren, bewährt sich nur so lange, bis die harte Realität zuschlägt. Bei einer vernetzten Krise, wie wir sie gerade erleben, führt das zu unheimlich vielen Problemen. Gleichzeitig. Hier kann sich niemand mehr einfach wegducken.

Unterschätzte Komplexität

Komplexität entsteht durch Vernetzung. Durch das Internet, die Globalisierung oder den globalen Just-in-Time Warenströmen wurde ein unfassbar komplexes System geschaffen, über dessen potenziell negativen Nebenwirkungen wir bisher kaum nachgedacht haben, auch wenn es genug mahnende Stimmen gab. Diese wurden jedoch häufig ignoriert oder als Schwarzmaler abgetan.

Komplexe Systeme, wo es permanent zu Rückkoppelungen und Veränderungen kommt, können mit den bisherigen Werkzeugen nur beschränkt beherrscht werden. Das funktioniert in stabilen Zeiten durchaus, wie wir das bisher erlebt haben. Das hat aber auch zu falschen Schlüssen verleitet: Es geht ja eh, was aber nur bis zu dem Zeitpunkt stimmt, wo eine große Störung alles aus dem Gleichgewicht bringt. Daher waren auch die Risikobeurteilungen oftmals unzureichend, da extrem seltene Ereignisse mit den bewährten Methoden nicht ausreichend behandelt werden können, oder man es nicht wollte.

Systemische Risiken

Häufig blieben viele Wechselwirkungen und Abhängigkeiten im Verborgenen. Es sind systemische Risiken entstanden, die mit unseren bisher bewährten Risikomanagementwerkzeugen nicht ausreichend erfasst werden können. Denn systemische Risiken zeichnen sich durch einen hohen Vernetzungsgrad und vielen wechselseitigen Abhängigkeiten aus. Durch ein unzureichendes Systemdesign können sich Störungen großflächig und rasch ausbreiten. Rückkopplungseffekte und zeitverzögerte Wirkungen führen dazu, dass kleine Ursachen großen Auswirkungen nach sich ziehen können. Es kommt zu massiven Dynamiken, die bis hin zum Kollaps des Systems führen können. Die Auslöser und auch die Auswirkungen werden häufig unterschätzt. Dinge, die wir jetzt in vielen Bereichen beobachten müssen.

Folgekrisen und einseitiger Fokus

Es wurde daher mit COVID-19 eine Lawine losgetreten, wo wir noch nicht abschätzen können, wo diese zum Stillstand kommen wird. Es zeichnen sich eine Reihe von Folgekrisen ab, auf die weder die Menschen noch die Unternehmen oder die Staaten insgesamt vorbereitet sind.

Der derzeitige Fokus liegt vor allem auf den kurzfristigen Entwicklungen im Gesundheitsbereich. Das ist wichtig, um die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Aber das wird bei Weitem nicht ausreichen, um die erwartbaren Folgekrisen bewältigen zu können, womit wir wieder bei den notwendigen interdisziplinären Blickwinkeln wären, die sowohl im großen wie auch im kleinen, etwa auf der Unternehmensebene, notwendig sind. Je früher wir uns darauf einstellen und anpassen, desto eher wird es uns gelingen, wieder Fuß zu fassen.

Irreversibilität

Denn ein weiteres Kennzeichen von komplexen Systemen ist die Irreversibilität. Das bedeutet, dass wir nicht mehr einfach zu einer Welt zurückkehren werden, wie sie noch vor wenigen Wochen für viele Menschen als völlig unverrückbar wahrgenommen wurde.

Eine steigende Dynamik, also permanente Veränderungen, sind ein weiteres Kennzeichen von komplexen Systemen, wenn sie falsch designt sind und Rückkoppelungsmöglichkeiten nicht ausreichend gedämpft werden. Viele von uns wurden bereits in den vergangenen Monaten und Jahren von der steigenden Dynamik in der Arbeitswelt gefordert und zum Teil auch überfordert. Die jetzige und auch weiterhin erwartbare Dynamik wird aber wohl noch vieles in den Schatten stellen. Eine kleine Ursache, die zu unfassbaren Folgewirkungen und Veränderungen führt und führen wird.

Der Kollaps von komplexen Systemen

Hoffen wir, dass sie nicht im völligen Chaos endet. Wobei der Kollaps von komplexen Systemen kein Fehler ist, sondern ganz im Gegenteil, ein Designmerkmal: Damit wird in der Natur eine periodische Erneuerung und Anpassung sichergestellt. Zum Beispiel mit den Jahreszeiten oder der begrenzten Lebenszeit von Lebewesen. Alles Lebendige ist in komplexen Systemen organisiert, die mit der Umwelt interagieren. Damit der Schaden bei einer großen Störung nicht zu groß werden kann, hat sich evolutionär „small-is-beautiful“ durchgesetzt. Als Basis dienen zellulare Strukturen, also autonome funktionale Einheiten, die in der Regel in größeren Einheiten („Organismen“) zusammengefasst sind. Zum Beispiel Lebewesen, die zwar wieder miteinander interagieren können, aber trotzdem abgeschlossene Einheiten bilden. Auch das ist uns selten in dieser Form bewusst. So wissen wir etwa, das Kleinstlebewesen wie Bakterien oder Einzeller fast alle externen Einflüsse überleben können. Die letzte Rückfallebene.

Aktionismus ist gefährlich

Die Politik versuchte zu Beginn zu vermitteln, alles im Griff zu haben: „Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet.“ Dieses vorgegebene Selbstbewusstsein wurde im Laufe der Zeit doch deutlich relativiert. Denn in der Realität hat sich häufig gezeigt, dass Vorbereitung durch Improvisation ersetzt werden musste.

Besonders zu beachten ist, dass durch „Quick-and-dirty“ Lösungen sogar die Gefahr besteht, das Ganze noch zu verschlimmern. Denn wie wir aus der System- und Komplexitätswissenschaft wissen, führen scheinbar kurzfristig erfolgreiche Lösungen häufig langfristig zu mehr Problemen und Schäden. Langfristig erfolgreiche Lösungen erfordern hingegen meist kurzfristige Einschnitte und Entbehrungen. Man denke hier nur an das Change-Management.

Aktionismus ist daher gefährlich, da sich jeder Eingriff in ein komplexes System an vielen unterschiedlichen Stellen und vor allem auch zeitverzögert auswirkt. Nicht handeln oder entscheiden ist aber genauso gefährlich. Wir haben hier ein Dilemma mit der Widersprüchlichkeit, also Ambivalenz. Es gibt kein klares falsch oder richtig. Daher droht mit einem einfachen Ursache-Wirkungsdenken rasch ein Scheitern.

Vernetzte Krisen werden unterschätzt

Die Möglichkeit einer Pandemie oder eines europaweiten Strom- und Infrastrukturausfalls („Blackout“) wurde bisher weitgehend unterschätzt, auch wenn sie in den verschiedenen Risikomatrizen angeführt wurden. Insbesondere wurden Vorsorgemaßnahmen nur halbherzig oder gar nicht umgesetzt. Oft wird auch ein Plan mit funktionierenden Prozessen gleichgesetzt, was aber so gut wie nie stimmt. Nur das was wirklich geübt und trainiert wurde, funktioniert. Der beste Plan ist nur eine Hilfestellung. Fertige Krisenpläne sollten sogar erst am Schluss einer Prozesskette stehen und nicht, wie häufig, am Beginn.

Jetzt müssen wir unter enormen Zeitdruck handeln. Durch die nicht vorhandene Vorsorge fehlen auch die Handlungskompetenzen, um gleichzeitig mit den vielen Dimensionen von vernetzten Krisen umgehen zu können. Daher besteht die große Gefahr, dass wir uns nur auf das konzentrieren, was unmittelbar akut erscheint. Das kennen wir etwa aus dem Rettungsdienst, wo wir ohne Ausbildung und Training dazu neigen, jenen zuerst zu helfen, die am lautesten schreien. Diese benötigen aber in der Regel am wenigsten dringend eine Soforthilfe. Diese Gefahr droht jetzt auch im wirtschaftlichen Umfeld. Daher ist es unverzichtbar, dass bei weitreichenden Entscheidungen auch die potenziellen und langfristigen Nebenwirkungen mitbetrachtet werden. Was derzeit nicht erkennbar ist oder nicht transparent gemacht wird.

Steigende Blackout-Gefahr

Mit dem aktuellen „Lockdown“ und den wirtschaftlichen Einbrüchen steigt auch die Gefahr für einen europaweiten Strom- und Infrastrukturausfall („Blackout“). Die Energieversorgungsunternehmen beteuern unisono, dass sie alles unternehmen, um die Versorgungssicherheit und die Handlungsfähigkeit des eigenen Personals aufrechtzuerhalten. Jedoch gibt es eine Reihe von Faktoren, welche neben der potenziellen Erkrankung von wichtigem Personal die Systemstabilität gefährden.

So kommt es etwa durch den Wirtschaftseinbruch zu einer sinkenden Stromnachfrage. Damit entsteht zu bestimmten Zeiten ein enormer Stromüberschuss. Aufgrund der derzeitigen regulatorischen Rahmenbedingungen, speziell in Deutschland, muss aber Strom aus Erneuerbare Energien (EE) Erzeugungsanlagen vorrangig abgenommen werden. Ein Gegensteuern wäre hier rasch notwendig, ist aber nicht erkennbar.

Denn was zwar für den Klimaschutz erfreulich ist, führt gleichzeitig zu wenig beachteten Nebenwirkungen. Diese betreffen zum einen die rotierenden Massen (Generatoren), welche ohne Steuerungseingriffe die immanente und systemkritische Stabilität und Ausregelung des fragilen Systems sicherstellen. Diese kritische Systemdienstleistung kann bisher im großen Stil nur mit rotierenden Massen erbracht werden. Batteriegroßspeicher können zwar kurzfristig einspringen, aber es benötigt dann wieder flexible, rasch und verlässlich verfügbare Kraftwerke, die eine Abweichung über einen längeren Zeitraum als für ein paar Sekunden oder Minuten ausgleichen können müssen. Das alles rechnet sich im derzeitigen Marktumfeld jedoch nicht.

Konventionelle Kraftwerke und damit die rotierenden Massen werden durch die sinkenden Strompreise aus dem Markt gedrängt (Merit-Order-Effekt). Steht zu wenig rotierende Masse zur Verfügung, könnte das gesamte europäische Verbundsystem abrupt aus dem Gleichgewicht geraten. Ein Blackout wäre die Folge.

Viele konventionelle Kraftwerke können beim derzeitigen Strompreis nicht einmal mehr die Betriebskosten decken. Die wirtschaftlichen Folgen sind absehbar. Auf kurze Sicht mag das durchaus positiv klingen. Sowohl für den Klimaschutz als auch für den Endkundenstrompreis. Jedoch ist das nicht zu Ende gedacht. Denn sollte es zu einem Blackout kommen, wäre der gesellschaftliche Schaden unbezahlbar. Der niedrige Strompreis kommt nicht beim Endkunden an, da die steigenden Aufwände für kritische Netzeingriffe („Redispatching“) auch an die Kunden weiterverrechnet werden.

Hinzu kommt, dass sich der Bau von für die Energiewende unverzichtbaren Speichersystemen, wie Pumpspeicherkraftwerken oder rasch einsetzbaren, flexiblen Kraftwerken oder Großspeichern, um die volatile Erzeugung aus Windkraft- und PV-Anlagen ausgleichen zu können, weiter verzögern wird. Diese Anlagen haben sich bisher nicht gerechnet und werden das unter den derzeitigen Rahmenbedingungen noch weniger tun. Und wenn sie es tun, ist es bereits zu spät, da Infrastrukturprojekte nicht von heute auf morgen realisiert werden können.

Ein gefährlicher Teufelskreis, wo massive regulatorische Eingriffe erforderlich wären. Diese müssten aber in eine völlig andere Richtung gehen als bisher, was nicht sehr wahrscheinlich ist. Damit steigt die kurz- bis mittelfristige Blackout-Gefahr.

Too-big-to-fail

Hinzu kommt, dass das europäische Stromversorgungssystem zu den „too-big-to-fail“ Systemen gehört. Aufgrund des vorrangigen betriebswirtschaftlichen Fokus zählten in den vergangenen Jahren fast nur kleingeistige betriebswirtschaftliche Betrachtungen. Reserven und Redundanzen mussten auch hier wie in allen anderen Bereichen als „totes Kapital“ zurückgefahren werden. Damit auch die ehemalige zellulare Struktur. Das spiegelt sich etwa im steigenden grenzüberschreitenden Stromhandel wider, der sogar deutlich erhöht werden soll. Störungen können sich dadurch wesentlich einfacher und leichter ausbreiten, wenn sie einmal eine gewisse Größe erreicht haben.

Vieles davon konnten wir jetzt bei der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie beobachten. Das Österreichische Bundesheer, als vermeintliche strategische Reserve der Republik, kann kaum mehr ausreichend qualifizierte militärische Hilfe leisten. Nicht, weil man nicht wollte, sondern weil die Ressourcen fehlen. Der Aufschrei des ehemaligen Verteidigungsministers im vergangenen Sommer ist wirkungslos verhalt. Nun ist Zahltag, auch wenn bisher rasch und umfassend Soldaten zum Einsatz gekommen sind. Aber als einfache Hilfskräfte.

Lieferketten

Ein weiteres massives Problem wird erst nach und nach durch die langen Transportwege sichtbar werden. Lieferverzögerungen und -unterbrechungen von Waren aus China und wohl bald auch aus anderen Weltregionen, ja selbst innerhalb von Europa, sind absehbar. Während das in vielen Bereichen kurzfristige eher nachrangig sein wird, kann das im medizinischen Umfeld und bei der Medikamentenversorgung zu dramatischen Konsequenzen führen. Ein Großteil der Medikamenten- und vor allem Antibiotikaproduktion erfolgt mittlerweile in China und Indien. Indien ist der weltgrößte Generikahersteller und bezieht gleichzeitig rund 70 % der Ausgangsstoffe aus China. Indien befindet sich gerade ebenfalls in einem Lockdown mit unbekanntem Ausgang. In China bereitet man sich auf eine mögliche zweite Infektionswelle vor.

Zusätzlich ist beim Wiederanlauf der Versorgungsketten mit weitreichenden Aufschaukelungsprozessen zu rechnen, wie wir sie aus dem bekannten „Beer-Game“ kennen. Die ganze Just-in-Time-Logistik gerät aus dem Takt. Dabei stellen nicht nur leere Lager, sondern auch wie gerade aktuell in Deutschland übervolle Lager ein Problem dar. Die Situation wird mit den sehr heterogenen Vorgangsweisen der unterschiedlichen Länder und Regionen noch weiter eskalieren. Zusätzlich ist zu erwarten, dass es in den kommenden Monaten zu neuen Infektionszyklen kommen wird, bis eine ausreichende Herdenimmunität und Robustheit des Gesundheitssystems hergestellt werden kann. Dadurch wird es auch immer wieder zu Über- und Unterproduktionen und massiven Problemen in den Lieferketten kommen. Eine Kette ist bekanntlich nur so stark, wie ihr schwächstes Glied. Und davon gibt es jetzt jede Menge.

Top-Risiko “Supply-Chain-Unterbrechungen”

Eine Unterbrechung der Lieferketten („Supply Chains“) gehört seit Jahren zu den gefürchtetsten Top-Risiken in Unternehmen. Die aktuelle und noch erwartbare Dimension war wohl für kaum einen Risikomanager vorstellbar. Nicht einmal in den schlimmsten Alpträumen. Noch weniger klar ist, wie die ganze Synchronisation wiederhergestellt werden kann und wie lange das dauern wird.

Massenarbeitslosigkeit

Auch eine Massenarbeitslosigkeit zeichnet sich bereits ab und viele kleinere Unternehmen werden diese Krise nicht überstehen, wenn hier nicht rasch neue und innovative Denkmodelle umgesetzt werden. Allein in Österreich ist die Arbeitslosenzahl in der ersten 15 Tagen nach dem Lockdown um rund 180.000 Menschen gestiegen. Im Februar waren noch rund 330.000 Menschen ohne Arbeit gemeldet. Ein weiterer massiver Anstieg ist zu befürchten. Viele große Unternehmen haben bereits Kurzarbeit angekündigt. Das alles wird noch enorme Auswirkungen auf die Stimmung und Psyche der betroffenen Menschen nach sich ziehen.

Aber auch viele große Unternehmen werden ins Wanken geraten, nicht zuletzt, weil sie häufig von vielen kleinen Unternehmen abhängig sind. Das gesamte Wirtschafts- und Sozialsystem gerät aus den Fugen. Hinzu kommt, dass wir aus den Systemwissenschaften wissen, dass ein System, das nur durch permanentes Wachstum überleben kann, nicht auf Dauer lebensfähig ist. Hier zeichnet sich eine dramatische Bereinigung ab.

Finanzcrash

Und damit sind wir wohl auch mitten im größten Finanzcrash, den es jemals gab. Galt bisher häufig: „So lange die Musik spielt, einfach weiter tanzen“, dürfte die Party nun endgültig vorbei sein. Denn hier gibt es kein Auffangnetz mehr, auch wenn jetzt Milliarden und sogar Billionen in Aussicht gestellt und ins System gepumpt werden. Das mag zwar kurzfristig etwas beruhigen, hat aber kaum Aussicht auf eine langfristige Nachhaltigkeit. Schon gar nicht in Ländern, die bisher wirtschaftlich massiv angeschlagen waren, wie Italien, Spanien oder Frankreich. Das zerstörte Grundvertrauen und der tiefe Schock wird nicht so einfach bzw. nur langsam zu überwinden sein. Man erinnere sich nur an die letzte Finanzkrise vor nicht einmal 15 Jahren.

Eine Dystopie könnte wohl nicht schlimmer ausformuliert werden. Dabei wurden hier nur einige wenige Aspekte betrachtet. Die wirkliche Dimension ist noch um vieles größer und facettenreicher und wurde wohl bereits beim Erscheinen dieses Beitrages um ein Vielfaches übertroffen. Potenzielle weitere Themen wie der Überwachungsstaat oder eine Technokratie wurden hier bewusst ausgespart.

Wie kann es nun weitergehen?

Es ist noch zu früh, um eine seriöse Einschätzung abgeben zu können. Eines scheint jedoch klar zu sein: Ein weiter wie bisher ist äußerst unwahrscheinlich. Schon Albert Einstein hat dazu gesagt, dass man Probleme nicht mit derselben Denkweise lösen kann, mit der sie entstanden sind.

Grundsätzlich gibt es ein umfangreiches Know-how, wie sich in der Natur lebensfähige (komplexe) Systeme bewähren und überlebt haben: „small-is-beautiful“, Energiebedarfssenkung, dezentrale funktionale Einheiten oder Fehlerfreundlichkeit sind nur ein paar wichtige Stichwörter, die uns weiterhelfen können. Wenn wir eine robuste Gesellschaft werden wollen, werden wir uns an diesen erfolgreichen Designprinzipien orientieren müssen. Alles andere würde uns nur noch anfälliger machen.

Sollte es, wie angedeutet, zum Crash des Finanzsystems kommen, müssen wir sowieso völlig neue Wege gehen. Das würde einem Reset wie nach dem Zweiten Weltkrieg gleichkommen. Nur mit dem Glück, dass keine Infrastrukturen zerstört sind. Andererseits wird sich die Frage stellen, wie wir den Weiterbetrieb sicherstellen können. Einerseits, wenn die finanziellen Mittel fehlen und andererseits, wenn die Komponenten für eine permanente Erneuerung (Wartung) nicht verfügbar sind. Auch hier könnte eine Reduktion auf das Wesentliche notwendig werden.

Wer soll das machen?

Viele Menschen erwarten, dass irgendjemand da „oben“ schon wissen wird, wie es geht und dass die das machen werden. Das ist eine Illusion. Komplexe Systeme oder ein kollabiertes System lassen sich nicht mit einem Masterplan oder den bisherigen Denkmustern beherrschen. Und warum sollten gerade jene es wissen, welche die jetzige Situation auch nicht kommen sehen oder nicht rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen eingeleitet haben? Was ist mit den vermeintlichen Plänen passiert?

Wir alle sind nun gefragt. Denn weitere Eskalationen, in welchen Bereichen auch immer, werden wir nur durch eine dezentrale Selbstorganisation und einer „bottom-up“ Stabilisierung bewältigen können. Also in der Nachbarschaft, in den Gemeinden und Regionen. Kleinteilige Ver- und Vorsorgemaßnahmen. Regionalwirtschaft. Wir wissen noch nicht, was funktionieren und sich bewähren wird. Daher geht es auch um Diversität, ebenfalls ein wichtiges Robustheitsmerkmal. Dinge müssen ausprobiert und rasch an die neuen Bedingungen angepasst werden. Das kennen wir von der Start-up-Branche und wir dürfen das von ihr lernen. Denn die Disruption hat bereits begonnen.

Unternehmen können jetzt erfolgreich sein, wenn sie rasch einen Mehrwert für die gesamte Gesellschaft liefern können. Alles andere wird auf absehbare Zeit kaum benötigt werden.

Niemanden zurücklassen

Die enorme gesellschaftliche Herausforderung ist nun, dass wir niemanden zurücklassen dürfen. Viele Menschen haben bereits ihre Arbeit und damit ihre bisherige Lebensgrundlage verloren. Viele werden noch folgen. Wenn wir hier nicht rasch eine Abfederung schaffen, werden noch viel schlimmere Folgekrisen hinzukommen. Auch hier werden wir neue Lösungsansätze benötigen, um den sozialen Zusammenhalt aufrechterhalten zu können.

Resilienz: Lern- und Anpassungsfähigkeit

Für viele mag das jetzt hart und übertrieben klingen. Andere werden sich bestätigt fühlen. Resilienz bedeutet nicht nur Widerstandsfähigkeit, sondern vor allem Lern- und Anpassungsfähigkeit. Dazu gehört auch, bisher erfolgreiches aber nun überholtes Wissen und Handeln aufgeben zu können, um Platz für Neues zu schaffen. Je früher wir die neue Realität akzeptieren und uns darauf einlassen und neue Lösungswege ausprobieren, desto schneller werden wir wieder eine neue Stabilität gewinnen. Es gibt kein zurück.

Es gibt aber auch eine positive Aussicht: Nach jedem schweren Rückschlag und Schock ging es in der Menschheitsgeschichte langfristig immer besser weiter. Wir haben nun nicht nur eine unvorstellbare Krise vor uns, sondern auch eine große Chance, bisherige Dinge und Verläufe zu hinterfragen und neu zu organisieren (Stichwort: Wachstumsökonomie oder Konsumgesellschaft).

Selbstwirksamkeit

Kurzfristig ist jetzt wichtig, dass möglichst viele Menschen ihre persönliche Selbstwirksamkeit und Selbsthilfefähigkeit erhöhen, sollte es zu erwartbaren Versorgungsengpässen und -unterbrechungen kommen. Dabei sind die bisherigen Blackout-Vorsorgemaßnahmen sehr hilfreich: Sich zumindest zwei Wochen mit dem Notwendigsten selbst versorgen können, ohne einkaufen gehen zu müssen. Hoffen wir, dass wir nicht die ganze Palette von weiteren Überlegungen benötigen werden. Dennoch sollten wir nicht blauäugig sein. Wir alle entscheiden jetzt mit unserem Verhalten und unseren Aktivitäten, wie sich die Zukunft gestalten wird.

Dieser Beitrag wurde unter dem Gesichtspunkt von Albert Einsteins Aussage geschrieben: Wenn ich eine Stunde Zeit habe, um die Welt zu retten, verwende ich 55 Minuten für die Problemdarstellung und -analyse und die restlichen fünf Minuten, um Lösungen zu finden. Wir neigen eher zum Gegenteil. Wenn wir aber das Problem nicht verstanden haben, werden wir auch kaum eine funktionierende oder passende Lösung finden. Daher lade ich Sie ein, jetzt noch viel genauer darauf zu achten, was die Menschen, Kunden oder die Gesellschaft insgesamt wirklich brauchen, um wieder Sicherheit und Stabilität zu gewinnen. Und wenn immer es möglich ist, werden wir auch in gewisse Vorleistungen gehen müssen. Anders werden wir nur schwer wieder in die Gänge kommen. In diesem Sinne: „Es ist wie es ist. Aber wird, was wir daraus machen!“