Letzte Aktualisierung am 21. September 2021.

Oder die falsche Interpretation von Statistiken (SAIDI-Wert)

Quelle: www.handelsblatt.com

Die Energiewende macht das Management des Stromnetzes immer schwieriger. Die durchschnittliche Dauer an Unterbrechungen sank 2020 aber auf einen Tiefstand.

Seit Deutschland vor mehr als zwei Jahrzehnten die Energiewende vollzogen hat und die erneuerbaren Energien ausbaut, warnen die Kritiker vor flächendeckenden Stromausfällen. Schließlich gehen die gut zu kalkulierenden Atom- und Kohlekraftwerke vom Netz, während der Stromertrag von Wind- und Solaranlagen vom Wetter abhängt.

Tatsächlich aber ist das Schreckensszenario bislang ausgeblieben. Im Gegenteil: Das deutsche Stromnetz ist so sicher wie nie. Im vergangenen Jahr sank die Unterbrechungsdauer in der Stromversorgung im bundesweiten Durchschnitt auf den tiefsten Wert seit Beginn der Veröffentlichung durch die Bundesnetzagentur im Jahr 2006.

Nach Angaben der Behörde verringerte sich die durchschnittliche Unterbrechungsdauer je angeschlossenen Letztverbraucher im Vergleich zum Vorjahreswert um 1,47 Minuten auf 10,73 Minuten. Dabei war schon 2019 (12,2 Minuten) ein Tiefstand verzeichnet worden.

„Die Zuverlässigkeit der Stromversorgung in Deutschland war im Jahr 2020 erneut sehr gut“, sagte Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur: „Die Energiewende und der steigende Anteil dezentraler Erzeugungsleistung haben weiterhin keine negativen Auswirkungen auf die Versorgungsqualität.“

Kommentar

Solche Meldungen sind grundsätzlich erfreulich. Die Schlussfolgerungen sind jedoch eine Truthahn-Illusion!

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SAIDI-Wert

„Der System Average Interruption Duration Index gibt die jährliche Stromunterbrechung im Nieder- und Mittelspannungsnetz an. Einem Stromausfall können grundsätzlich unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen. Zum einen sind es Naturkatastrophen und Wettereinflüsse allgemein, die eine Unterbrechung der Versorgung herbeiführen können. Diese Ursachen von Stromausfällen sind, so das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, tendenziell zunehmend, fließen allerdings nicht in die Berechnung des SAIDI mit ein. Des Weiteren sind technisches und menschliches Versagen als Ursachen möglich. Dazu zählen beispielsweise Unterbrechungen, die auf die Zuständigkeiten der Netzbetreiber, Einwirken Dritter, oder auf aus anderen Netzen rückwirkende Störungen zurückzuführen sind. Unterbrechungen dieser Art werden bei der Berechnung berücksichtigt. Die Unterbrechung muss zudem länger als drei Minuten dauern. Quelle: www.next-kraftwerke.de

Ableitungen

  1. Der SAIDI-Wert berücksichtigt nur Ausfälle im Nieder- und Mittelspannungsnetz. Der Wert würde 2021 durch die weitreichenden Zerstörungen im Ahrtal merklich ansteigen, was aber nicht passiert, da diese Ausnahmeereignis nicht in der Statistik aufscheinen wird (siehe die Zusammensetzung der Kennzahl).
  2. Es werden erst Ausfälle ab 3 Minuten gemessen.
  3. Daher werden die für die Systemstabilität relevanten „Netzwischer“ nicht berücksichtigt. Diese richten aber bereits heute große Schäden an: Siehe etwa https://www.saurugg.net/2019/blog/stromversorgung/zunehmend-mehr-instabilitaeten-im-europaeischen-verbundsystem oder
    https://www.saurugg.net/2016/blog/stromversorgung/nur-eine-sekunde-ohne-strom-50-000-euro-schaden
  4. Der SAIDI-Wert sagt daher nichts über die Zukunft und über die Systemstabilität aus und trägt maximal zur Truthahn-Illusion bei!
  5. Bei einem Blackout könnten die 10 Minuten plötzlich auf mehrere tausend Minuten ansteigen, womit die Statistik für die letzten Jahrzehnte mit einem Schlag irrelevant wird.

Die Versorgungsqualität hat auch nur bedingt mit Versorgungssicherheit zu tun. D.h. es ist sogar so, dass die Versorgungsqualität bei einem Verteilnetzbetreiber (VNB) durch die Investitionen in der Mittelspannung/Niederspannung (MS/NS) gerade im ländlichen Bereich, der mit Faktor 7 überspeist ist, besser geworden ist. Da, wo früher eine Freileitung mit einem Klingeldraht war, liegt jetzt ein 300 mm² Erdkabel.
Netzflicker, Oberschwingungen usw. haben damit abgenommen. Es gibt auch bei Gewitter weniger Störungen, weil jetzt kein Blitz mehr einschlägt und kein Baum reinfallen kann. Über die Zuverlässigkeit des Europäischen Verbundnetzes sagt das aber nichts aus.

Kommentar Marco Felsberger 

Quelle: LinkedIn

Ich habe letzte Woche einen Artikel zum Thema „Multiplikatives vs. additives Risiko“ gepostet. Diese grundlegenden Risikoeigenschaften werden häufig nicht berücksichtigt, bzw. falsch eingeschätzt.
Ganz eng damit verbunden ist das Konzept von „Mediocristan und Extremistan“ (Nassim Taleb).
Dazu habe ich bereits einen ausführlichen Artikel geplant, aus gegebenen Anlass möchte ich allerdings vorab einen kurzen Beitrag dazu teilen.

Mediocristan ist das „Land“ der Normalverteilung und des „Gesetztes der Großen Zahl“. Man kann hiermit den Durchschnittswert ermitteln und Analysen durchführen.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Körpergröße. Ich kann nach Erhebung einer Stichprobe mit ausreichender Wahrscheinlichkeit sagen, dass ich keinen vier Meter großen Menschen begegnen werde. In Mediocristan können wir sehr präzise Berechnungen anstellen. Unglücklicherweise weisen komplexe Systeme, wie das Stromnetz, andere Eigenschaften auf. Diese sind Extremistan zuzuordnen.

In Extremistan bestimmen die statistischen Ausreißer, die Black Swans, das Geschehen. Extremistan ist ein komplexes, vernetztes System und es folgt einer Fat-Tailed Verteilung (Power-Law). Man kann davon ausgehen, dass der entscheidende Wert (noch) nicht in der Statistik auftaucht. Das anschaulichste Beispiel hierzu ist eine statistische Erhebung des Reichtums. Stellt euch vor, ihr befragt 10.000 Menschen nach ihrem Nettovermögen. Sollte Bill Gates nicht unter den befragten Menschen sein, wird das Ergebnis dramatisch anders ausfallen als wenn er in der Stichprobe vertreten ist.

Ein klassischer Fall von Extremistan sind Stromausfälle. Man weiß, dass Stromausfälle einem Power-Law folgen. Es gibt viele kurze Ausfälle, allerdings nur wenige große. Wir wissen jedoch, dass ein flächendeckender Ausfall relativ wahrscheinlich ist, da das Stromnetz fragil ist.

Kürzlich wurde von einigen RisikoexpertInnen, der SAIDI Wert (System Average Interruption Duration Index) in Österreich als sehr gut beurteilt und die Schlussfolgerung gezogen, dass in AT eine hohe Ausfallsicherheit herrscht. Der SAIDI Wert berechnet sich aus dem Durchschnitt der vergangenen Stromausfälle. Hier wird Extremistan mit Mediocristan verwechselt.

Wir können ziemlich sicher sein, dass der entscheidende Wert in dieser Risikokennzahl fehlt.
Man stelle sich vor, dass nach Jahren der kurzen Stromausfälle (guter SAIDI Wert), ein Blackout folgt. Der SAIDI Wert würde sofort in die Höhe schießen.
Was hilft uns also der SAIDI Wert im Risikomanagement, bzw. in der Einschätzung der Versorgungssicherheit? Richtig, relativ- wenig.
Der SAIDI Wert zählt Tag für Tag die „Weißen Schwäne“ und schließt daraus, dass es keine „Schwarzen Schwäne“ gibt.