Die Komplexität des Strommarktes verstehen
Die Strompreise haben sich seit dem 2. Quartal 2021 massiv verändert. Dieser Beitrag versucht, einige wichtige Aspekte dazu zu beleuchten und Hintergrundinformationen zu liefern. Dabei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben.
- Der Strommarkt und seine Teile
- Der Merit-Order-Modell: Ein vereinfachtes Modell
- Die Schattenseiten des aktuellen Strommarktes
- Kannibalisierung der Einnahmen
- Die 70%-Regel der EU
Siehe zusätzlich den Beitrag: Das Strommarktdesign hat seinen Grenznutzen erreicht
Bisher konnte mir niemand wirklich plausibel erklären, wie der Preis zum Zeitpunkt X konkret zustande gekommen ist und welches Kraftwerk etc. dafür ausschlaggebend war. Es wird häufig auf das Merit-Order-Modell verwiesen und dass das Marktmodell den volkswirtschaftlich besten Preis erzielt, aber letztlich ist das Ganze eine Blackbox, die selbst Insider immer wieder überrascht. Als das System entwickelt wurde, waren die Rahmenbedingungen völlig anders und es ist auch plausibel, dass die Ergebnisse damals den Absichten entsprachen. Ob das heute noch so ist, mag man glauben oder auch nicht. Wirklich nachprüfbar ist es jedenfalls nicht und es sind einige Zweifel angebracht, die auch in diesem Beitrag angesprochen werden.
Für Themen, die hier nicht behandelt werden, empfehle ich das Wissenslexikon von Next Kraftwerke.
Der Strommarkt und seine Teile
Der Strommarkt besteht aus mehreren Teilen, die unterschiedliche Zeiträume und Handelsmechanismen abdecken. Hier sind die wichtigsten Komponenten:
1. Future-Markt (Terminmarkt)
Der Future-Markt, auch als Terminmarkt bekannt, umfasst den Handel mit Stromlieferungen, die in der Zukunft stattfinden. Diese Verträge können Monate oder sogar Jahre im Voraus abgeschlossen werden. Der Future-Markt bietet Marktteilnehmern die Möglichkeit, sich gegen Preisschwankungen abzusichern und langfristige Planungssicherheit zu gewährleisten.
In diesem Bereich gibt es auch sogenannte PPAs oder Power Purchase Agreements (Stromabnahmeverträge). Ein PPA ist ein langfristiger Vertrag außerhalb der Strombörse zwischen einem Stromerzeuger und einem Stromabnehmer, der die Bedingungen für den Kauf und Verkauf von Strom festlegt. Diese Verträge sind besonders wichtig für die Finanzierung und den Betrieb von Erneuerbare-Energien-Projekten wie Solar- und Windkraftanlagen.
2. Day-Ahead-Markt
Der Day-Ahead-Markt – der hier hauptsächlich betrachtet wird – ist der Handel mit Stromlieferungen für den nächsten Tag. Hier werden die Preise für die Stromlieferung am folgenden Tag festgelegt. Dieser Markt ist besonders wichtig, da er eine kurzfristige Anpassung an die tatsächliche Nachfrage und das Angebot ermöglicht. Der Day-Ahead-Markt schließt in der Regel am Vortag gegen Mittag, sodass die Marktteilnehmer genügend Zeit haben, ihre Lieferungen zu planen. Der Umfang der gehandelten Strommengen variiert, liegt aber in der Regel zwischen der Hälfte und einem Drittel des erwarteten Stromverbrauchs.
3. Intraday-Markt
Der Intraday-Markt ermöglicht den Handel mit Stromlieferungen innerhalb desselben Tages. Dieser Markt ist besonders flexibel und erlaubt es den Marktteilnehmern, kurzfristig auf unerwartete Änderungen in der Nachfrage oder im Angebot zu reagieren. Der Intraday-Markt ist kontinuierlich geöffnet und ermöglicht den Handel bis kurz vor der tatsächlichen Lieferung.
Da Merit-Order-Modell
Das Merit-Order-Modell ist ein häufig zitiertes, aber stark vereinfachtes Modell der Preisbildung am Strommarkt. Es besagt, dass erneuerbare Energien die Preise an der Strombörse senken würden. Dieses Modell geht davon aus, dass Kraftwerke jede einzelne Stunde entscheiden können, ob sie auf Basis von stündlichen Grenzkosten produzieren oder nicht, und den resultierenden digitalen Fahrplan aus Volllast und Nulllaststunden dann auch abfahren können.
Die Realität: Komplexe Kraftwerksflexibilitäten
In Wirklichkeit ist die Situation weitaus komplexer. Die meisten konventionellen Kraftwerke können nicht beliebig an und abgeschaltet werden. Die Fahrweise in einer bestimmten Stunde beeinflusst in großem Umfang die Fahrweise in den nachfolgenden Stunden. Diese physikalischen Gegebenheiten und Kraftwerksflexibilitäten werden bei der Preisbildung an der Börse berücksichtigt, da es keinen Sinn macht, dass ein Kraftwerk eine Fahrweise verkauft, die es nicht liefern kann. Je seltener ein Kraftwerk eingesetzt wird, desto teurer wird sein Betrieb, da die gesamten Betriebskosten in kürzerer Zeit/weniger Stunden erwirtschaftet werden müssen.
Preisbildung an der Strombörse
Der Börsenalgorithmus berücksichtigt nicht nur Angebote für einzelne Stunden, sondern auch ganze Tagesfahrpläne. Kraftwerke können Alternativen anbieten, wie beispielsweise Fahrplan 1 zu Preis P1 oder Fahrplan 2 zu Preis P2. Diese Angebote sind so bepreist, dass das Kraftwerk für den gesamten Fahrplan mindestens seine variablen Kosten deckt. Die Börse optimiert in einem Lauf alle 24 Tagespreise, um die Lastdeckung zu gewährleisten.
Auswirkungen erneuerbarer Energien auf den Strompreis
Durch die Einspeisung von Solarenergie kommt es mittags immer häufiger zu einer Überdeckung, was zu niedrigen oder sogar negativen Preisen führt (siehe dazu auch den Beitrag Strompreisentwicklungen). Jene konventionellen Kraftwerke, die vor und nach der Solareinspeisung die Last decken, müssen jedoch für den gesamten angebotenen Fahrplan ihre Grenzkosten erzielen. Dies kann zu Preisspitzen in den Morgen und Abendstunden führen, um die Verluste aus den Solareinspeisungsstunden auszugleichen.
Empirische Beobachtungen
Entgegen der Annahme des Merit-Order-Effekts ist der durchschnittliche Strompreis seit 2021 deutlich angestiegen, was durch den massiven Anstieg des Gaspreises infolge des Ukraine-Krieges 2022 zu extremen Ausreißern geführt hat. Gleichzeitig sinken oft die Marktwerte der erneuerbaren Einspeisung, obwohl der durchschnittliche Strompreis steigt (Kannibalisierungseffekt). Strom ist billig, wenn Sonne und Wind zur Verfügung stehen, und sonst umso teurer.
Probleme des Merit-Order-Modells
Der Hauptfehler des Merit-Order-Modells liegt in der Annahme einer digitalen Fahrweise der Kraftwerke. In Wirklichkeit stellen Kraftwerke Blockgebote über mehrere Stunden und fahren nur dann, wenn sie für den gesamten Block einen auskömmlichen Preis erzielen. Die Börse bestimmt alle 24 Tagespreise in einem Optimierungslauf. Negative Preise zu bestimmten Tageszeiten können zu Preisspitzen zu anderen Zeiten führen, um insgesamt einen auskömmlichen Durchschnittspreis zu erzielen.
Herausforderungen bei erneuerbaren Energien
Die Subventionierung erneuerbarer Energien verzerrt die Preismechanismen am Strommarkt. Erneuerbare Energien erhalten garantierte Preise, unabhängig vom Börsenpreis, was zu negativen Preisen führen kann, selbst wenn die Einspeisung keinen Mehrwert für die Lastdeckung bietet. Ein rascher Stopp der Subventionen würde jedoch zu Problemen führen:
- Es gibt zu viele nichtsteuerbare Kleinanlagen, die bereits ab Frühling 2025 einen kritischen Netzzustand verursachen könnten.
- Wenn der Strompreis das Steuerungssignal ist, merken die Netzbetreiber erst in der Sekunde, wer sich vom Netz nimmt, was dann wiederum systemkritisch werden kann. Daher kann der Strompreis nie das alleinige Steuersignal sein, sondern der Markt muss vielmehr der Physik und nicht umgekehrt folgen.
Die Schattenseiten des aktuellen Strommarktes
Oder warum Gestehungskosten allein nicht ausreichen
Die Problematik der reinen Kostenorientierung
Der aktuelle Strommarkt belohnt primär jene Erzeugungsanlagen, die die niedrigsten Gestehungskosten aufweisen. Während dies auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, vernachlässigt dieser Ansatz wichtige Nebeneffekte und fördert ein Denken in Einzelteilen, das langfristig die Systemsicherheit gefährdet.
Der österreichische Sonderfall
Österreich verfügt traditionell durch seine zahlreichen Wasserkraftwerke über einen sehr hohen Anteil an erneuerbaren Energien (EE). Interessanterweise spiegelt sich dies kaum in den Marktpreisen wider. Stattdessen bestimmen vor allem die volatilen EE-Quellen wie Wind und Photovoltaik (PV) die Merit-Order.
Der Trugschluss des raschen EE-Ausbaus
Verschiedene Akteure fordern einen noch schnelleren Ausbau weiterer Wind- und PV-Anlagen, in der Überzeugung, dadurch die Strompreise weiter zu senken. Diese Annahme erweist sich jedoch als Irrtum:
- Zwar sinken die Marktpreise zu bestimmten Zeiten der Überkapazitäten, aber dafür steigen die Systemkosten auf der anderen Seite.
- Die erforderlichen Redispatch- und Engpassmanagementkosten werden in den Netzentgelten „versteckt“ und auf alle Verbraucher umgelegt.
- Die Infrastrukturausbaukosten steigen erheblich und schlagen sich ebenfalls in den Netzentgelten nieder.
- Dunkelflauten: Auch wenn diese nur sehr selten auftreten, wie z.B. Anfang November oder Mitte Dezember 2024, werden für diese Zeiten ohne nennenswerte Wind- und PV-Stromproduktion nahezu vollständige Back-up-Strukturen und Kraftwerke benötigt. Selbst bei einem zügigen Ausbau von Batteriespeichern reichen diese Kapazitäten bei weitem nicht aus, um diese Lücken über Tage zu schließen.
Investitionshemmnisse für verlässliche Erzeugung
Ein weiteres Problem: Die Fokussierung auf kurzfristige Kostenvorteile führt dazu, dass immer weniger in zuverlässig verfügbare Erzeugungsanlagen investiert wird. Diese rechnen sich zunehmend weniger, insbesondere aufgrund ihrer hohen Investitionskosten.
Mangelndes Systemverständnis
Der derzeitige Marktmechanismus löste bisher kaum Investitionen in dringend benötigte Speichertechnologien aus. Selbst wenn die derzeit beabsichtigten Speicher tatsächlich gebaut werden, konzentrieren sich diese auf einen sehr begrenzten Zeithorizont von wenigen Stunden, in dem sie wirtschaftlich und rentabel betrieben werden können. Dies ist jedoch bei weitem nicht ausreichend, da Dunkelflauten auch mehrere Wochen andauern können und Puffer über einen sehr großen Zeitbereich zur Verfügung stehen müssen. Diese langfristigen und kostenintensiven Infrastrukturprojekte finden im derzeitigen System keinen Platz.
Die Gefahr der Einzelteiloptimierung
Das „System“ optimiert sich so lange selbst, bis es kollabiert. Der Grund: Es wird häufig nur in Einzelteilen gedacht und gehandelt, die der Systemstabilität entgegenwirken. Ein ganzheitlicher Ansatz, der die Komplexität und Interdependenzen des Strommarktes berücksichtigt, ist dringend erforderlich, um langfristig eine stabile und nachhaltige Energieversorgung zu gewährleisten. Um die Herausforderungen der Energiewende zu meistern, bedarf es eines umfassenden Systemverständnisses und einer Neuausrichtung des Strommarktes, die über die reine Kostenbetrachtung hinausgeht.
Ein pragmatischer Ansatz
Alle, die ab einer bestimmten Größe am Strommarkt teilnehmen wollen, müssen eine definierte Anzahl von Stunden im Jahr gesichert einspeisen können. Das würde die EE-Anlagen automatisch zur Kooperation veranlassen, sei es mit Speichern oder mit konventionellen Kraftwerken. Dann kann man noch einen CO₂-Rahmen hinzufügen, um auch die andere Seite in Bewegung zu bringen, und das Ganze regelt sich von selbst. Derzeit wird aber in alle Richtungen gefördert, was das Problem nur verschärft, weil jeder nur seinen Eigennutz sieht und verfolgt. Es sollten nur noch systemdienliche Anlagen gefördert werden bzw. sollte für jede Förderung ein Ausstiegsszenario verpflichtend vorgegeben werden, damit man nicht ständig in eine Sackgasse rennt. Denn niemand will der Spaßverderber sein, der das Ganze dann wieder abstellt. Also von Anfang an Klarheit schaffen und zu Ende denken!
Albert Einstein
„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“
Kannibalisierung der Einnahmen
Der Strommarkt erlebt in vielen Ländern einen tiefgreifenden Wandel, der hauptsächlich durch den raschen Ausbau erneuerbarer Energien, insbesondere Photovoltaikanlagen, vorangetrieben wird. Diese Entwicklung bringt durch den nicht systemischen Umbau des Stromversorgungssystems enorme Herausforderungen mit sich. Spanien führt etwa bei der Anzahl der Stunden mit Null- oder negativen Strompreisen. Bis Mitte Oktober 2024 gab es fast 800 Stunden, in denen die Strompreise bei null oder darunter lagen. Dies ist hauptsächlich auf die hohe Solarstromproduktion während der Spitzenzeiten zurückzuführen. Diese Entwicklung ist in immer mehr Ländern zu beobachten. Auch in Deutschland gab es 2024 einen neuen Rekord mit 459 Stunden mit negativen Preisen. Zusätzlich 537 Stunden zwischen 0 und 20 €/MWh, wo kein Kraftwerk wirtschaftlich betrieben werden kann.
Quelle: Julien Jomaux
Siehe auch die interessaneten weiterführenden Beiträge auf seinem Blog.
Kannibalisierung der Einnahmen
Die hohe Produktion erneuerbarer Energien führt zu einer Kannibalisierung der Einnahmen, insbesondere bei Solar- und Windenergie. Im März 2024 lag der Preis in Spanien für fast 50 % der Windkraftstromerzeugung bei 10 € oder weniger. Diese Entwicklung stellt herkömmliche Finanzmodelle für Stromabnahmeverträge (PPAs) in Frage.
Preisvolatilität und Komplexität
Der Markt erlebt eine zunehmende Preisvolatilität, mit niedrigen oder negativen Preisen während Zeiten hoher erneuerbarer Energieproduktion und steigenden Preisen in den abendlichen Spitzenzeiten. Siehe auch den Beitrag Strompreisentwicklungen.
Solarer Marktwertfaktor (Solar Capture Rate)
Die „Solar Capture Rate“ bezeichnet den mengengewichteten Durchschnittspreis, zu dem Solarstrom auf dem Markt verkauft wird. Sie wird häufig in Prozent angegeben. Die Solarsaison 2024 in Europa ist zu Ende, und der Marktwert von PV-Strom ist in vielen Ländern im Vergleich zu den Vorjahren deutlich gesunken. Während in den Jahren 2021 und 2022 die monatlichen Einnahmeraten aus Solarenergie meist über 80 % lagen, sind sie im Jahr 2024 stark zurückgegangen. In Deutschland fielen die Raten in der gesamten Saison unter 60 %, mit einem Tiefstwert von unter 50 % im Mai. Frankreich verzeichnete ähnlich niedrige Werte, und Spanien erreichte im April einen Tiefpunkt von 41 %. Besonders bemerkenswert ist der Rückgang in Griechenland, wo die Abscheidungsraten von einem Tiefstwert von 76 % im Jahr 2023 auf 55 % im April 2024 sanken. Angesichts des erwarteten Zubaus an Solarkapazität zwischen den Saisons 2024 und 2025 ist davon auszugehen, dass diese Raten weiter sinken und PV-Anlagenprojekte ohne Förderung zunehmend unwirtschaftlich werden.
Chancen und Risken für Energiespeicher
Die wachsende Spanne zwischen Höchst- und Tiefstpreisen verbessert das Geschäftsmodell für Energiespeicherung. Allerdings bestehen noch Herausforderungen wie Einschränkungen der Netzinfrastruktur und regulatorische Hürden, die bewältigt werden müssen. Zum anderen ist auch mit dem Speicherausbau mit einer ähnlichen Preis- und Rentabilitätskkannibalisierung zu rechnen. Siehe auch die Probleme mit den Heimspeichern. Leider gibt es auch hier viele unreflektierte Annahmen und Fehlinterpretationen über die tatsächliche Verfügbarkeit der vorhandenen Speicherkapazitäten.