Letzte Aktualisierung am 18. November 2020.

Quelle: Complexity Science Hub Vienna 

Es ist von strategischer Bedeutung, die Zuliefernetzwerke der österreichischen Wirtschaft besser zu verstehen, um Schwachstellen identifizieren und die Wirtschaft systematisch resilienter und krisenbeständiger aufstellen zu können. Im Rahmen einer Umfrage wurden erstmals die Lieferkettenrisiken in der österreichischen Wirtschaft erhoben. Die Auswertung zeigt, dass ein Drittel der befragten Firmen mindestens einen Lieferanten hat, dessen Ausfall einen kompletten Stillstand des Betriebs bedeuten würde, nachdem die aktuellen Lagerbestände aufgebraucht sind. Für 55 Prozent dieser zentralen Lieferanten (bzw. 40 Prozent aller Zulieferer) gibt es keine Alternativen. Relativ hohe Lagerbestände puffern das Risiko, sodass es im Fall von Lieferausfällen nicht zu einem unmittelbaren flächendeckenden Produktionsausfall kommt.

Das Risiko für Lieferkettenkrisen hat durch die Globalisierung, vor allem die Auslagerung der Produktion, über die letzten Jahrzehnte kontinuierlich zugenommen. Wie groß es mittlerweile ist, wurde durch die COVID-19-Krise weltweit sichtbar – so kam es zu einer Krise der Autoproduktion in der EU und Korea [1] oder zum Zusammenbruch der Fleischversorgung und einer Krise bei Medizingütern in den USA [2, 3]. Auch in Österreich wurde durch einen kurzfristigen Ausfall von Hefe-Lieferungen deutlich, wie schnell es zu Produktionsausfällen kommen kann. Wenn eine Firma wesentliche Produktionskomponenten nicht mehr geliefert bekommt und die eigenen Lagerbestände aufgebraucht sind, kann sie nicht produzieren; im Handel oder Dienstleistungssektor kommt es zu Betriebsstillstand. Können Vorprodukte nicht an andere Firmen ausgeliefert werden, können sich Lieferausfälle in Kaskaden durch das ganze Lieferkettennetzwerk fortpflanzen und im schlimmsten Fall zu einem Komplettausfall ganzer Industriezweige führen – einem s. g. Lieferkettenkollaps. Wie sehen die Lieferketten in Österreich aus? Wie resilient ist das Zuliefernetzwerk der Firmen, wie groß und wie voll sind ihre Lager, und wie lange können sie nach einem Ausfall ihrer wichtigsten Zulieferer noch produzieren? Diese Fragen waren das zentrale Thema einer Umfrage der WKÖ, die mit dem CSH erarbeitet und analysiert wurde.

Methode

Ein elektronischer Fragebogen wurde am 8. April 2020 an 102.386 Mitglieder der WKÖ versandt mit der Bitte um Beantwortung bis zum 20. April – also mitten in der Coronakrise. Die Unternehmen wurden gebeten, ihre zentralen Zulieferer und Abnehmer sowie ihre typischen Lagerstände zu nennen. Außerdem wurde erhoben, wie viele MitarbeiterInnen ausfallen können, bevor die Produktion gefährdet ist, und wie viele MitarbeiterInnen im Zuge der Coronakrise verfügbar waren. Insgesamt haben 17.393 Unternehmen den Fragebogen beantwortet, 5.955 gaben Details zu Lieferanten und Abnehmern an. Die anonymisierten Fragebögen wurden vom CSH statistisch ausgewertet.

Resultate

[Die Abbildungen befinden sich im Original-Bericht/PDF]

1. Kritische Zulieferer. Mehr als ein Drittel der Firmen gab an, mindestens einen Zulieferer zu haben, durch dessen Ausfall es zu einem kompletten Betriebsstillstand kommen würde. Dies betrifft kleine und große Unternehmen gleichermaßen (siehe Abb. 1). Die Situation ist für Handel, Bauwirtschaft, Dienstleistungen und verarbeitende Betriebe ähnlich.

Etwa 40 Prozent aller genannten Zulieferer stammen aus dem Ausland. Auch von den für die Betriebe hoch kritischen Zulieferern befinden sich etwa 35 Prozent im Ausland (Abb. 2).

2. Ersatz für kritische Zulieferer. Auf die Frage, ob es Alternativen zu den genannten Lieferanten gibt, wurde für über 40 Prozent aller Zulieferer mit „nein“ geantwortet. Etwa 40 Prozent der Unternehmen gab an, alternative Lieferanten zu haben, der Rest antwortet mit „weiß nicht“. Ungefähr ein Drittel der Firmen hat mindestens einen Lieferanten, dessen Ausfall den kompletten Stillstand des Betriebs bedeuten würde. Von diesen Firmen haben 55 Prozent keine Alternative für ihre hoch kritischen Lieferanten.

3. Lagergrößen. Auf die Frage, wie lange Firmen mit ihren derzeitigen Lagerbeständen weiterarbeiten können, bevor es zu einem lieferantenbedingten Betriebsstillstand kommt, meldeten 14 Prozent Lagerbestände für mehr als zwei Monate, 18 Prozent Lagerbestände bis zu vier Wochen. Ein Viertel der Firmen gab an, dass keine Probleme zu erwarten seien, etwa ein Viertel wollte keine Schätzung abgeben. Etwa 15 Prozent konnten zum Befragungszeitpunkt bereits nicht mehr produzieren.

Insgesamt ergibt sich das Bild, dass die angegebenen Lagerbestände vieler Betriebe durchschnittlich einen Monat lang ausreichen. Die angegebenen Lagerreichweiten größerer Firmen sind tendenziell etwas größer (zwei bis drei Monate ist der am häufigsten genannte Wert bei Betrieben mit mehr als 50 MitarbeiterInnen).

Nach Branchen aufgeschlüsselt zeigt sich, dass nur fünf Prozent der Dienstleistungsunternehmen geringe Lagerreichweiten von weniger als zwei Wochen angeben. Für den Handel steigt dieser Wert auf zehn Prozent, im verarbeitenden Gewerbe geben 15 Prozent und in der Bauwirtschaft 18 Prozent aller Betriebe geringe Lagerreichweiten von bis zu zwei Wochen an. Bei den angegebenen Stillständen während der Befragung zeigt sich jedoch ein umgekehrtes Bild: Ca. 20 Prozent der Betriebe aus dem Dienstleistungssektor gaben einen aktuellen Stillstand an, für die Sektoren Handel, verarbeitendes Gewerbe und Bauwirtschaft lag dieser Prozentsatz bei acht, fünf bzw. vier Prozent.

4. SchlüsselmitarbeiterInnen. Über 30 Prozent der Unternehmen brauchen ihre SchlüsselmitarbeiterInnen unbedingt, um den Betrieb aufrechterhalten zu können (Abb. 5). Das gilt unabhängig von der Größe des Betriebs, für kleine Betriebe mit zwei bis fünf MitarbeiterInnen also ebenso wie für größere Firmen mit über 50 Beschäftigten. Im verarbeitenden Gewerbe gab etwa die Hälfte der Firmen an, 60 bis 100 Prozent ihrer SchlüsselmitarbeiterInnen unbedingt zu benötigen.

5. Derzeit verfügbare MitarbeiterInnen. Ein Fünftel der Betriebe gab an, zum Zeitpunkt der Befragung keine MitarbeiterInnen verfügbar zu haben. Die Hälfte der kleinen Firmen (zwei bis fünf MitarbeiterInnen) und 40 Prozent der mittleren Unternehmen (sechs bis 50 MitarbeiterInnen) hatten alle MitarbeiterInnen verfügbar.

6. Neustart? Der Großteil der kleinen Unternehmen gab an, den Betrieb unmittelbar wieder aufnehmen zu können, größere Firmen konnten das innerhalb von zwei Wochen. Nur ein sehr kleiner Teil benötigt mehr als zwei Wochen für den Restart (Abb. 6). Etwa ein Fünftel konnte nicht einschätzen, wie schnell wieder geöffnet werden kann. Das Bild ähnelt sich in den verschiedenen Branchen.

Schlussfolgerungen des CSH

  • Die große Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten bedeutet, dass die österreichische Zulieferkette insgesamt nur beschränkt robust ist. Der hohe Anteil an Lieferanten, für die es keine aktuell verfügbaren Alternativen gibt, verstärkt dieses Risiko. Daher könnte es relativ leicht zu systemisch relevanten kaskadenartigen Zulieferkrisen kommen.
  • Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die große Abhängigkeit von ausländischen Zulieferern.
  • Die Lagerbestände in Österreich sind relativ hoch und können einen Kollaps bei Zulieferausfällen puffern. Im Schnitt kann etwa einen Monat lang weiter produziert werden.
  • Von der Coronakrise betroffene österreichische Unternehmen können ihren Normalbetrieb relativ schnell (innerhalb von zwei Wochen) wiederaufnehmen.
  • Es besteht großer Bedarf an einer genauen Analyse und Kenntnis der Zuliefernetzwerke, insbesondere bei den Herstellern kritischer Güter, um Schwachstellen identifizieren und die Resilienz der österreichischen Wirtschaft insgesamt erhöhen zu können. Nach dem Vorbild anderer Länder könnte eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe – bestehend aus VertreterInnen der Wissenschaft, der öffentlichen Hand und der Wirtschaft – die notwendigen Zahlen, Daten und Fakten für die Analysen von Zulieferketten und die Schätzung von Risiken identifizieren und erheben.

 

Kommentar

Es ist sehr erfreulich, dass das CSH sich diesem Thema angenommen hat und die „gefühlte Unsicherheit“ mal näher beleuchtet hat. Es ist durchaus erwartbar, dass sich die reale Situation noch deutlich ungünstiger darstellt. Auf der einen Seite haben wohl vorwiegend Unternehmen an der Umfrage teilgenommen, wo es bereits eine gewisse Sensibilität gibt. Zum anderen ist davon auszugehen, dass viele Wirkungsbeziehungen gar nicht so richtig bewusst sind. Und Dinge, die im Einzelfall stimmen, müssen es nicht, wenn es zu einem großflächigen Problem kommt, wo die Gefahr von kaskadierenden Entwicklungen zu erwarten ist. Hier kommen dann Mechanismen der Komplexität ins Spiel, die noch viel zu wenig beachtet werden. Aufgrund der bisher in der Coronakrise sehr stabilen Versorgungsketten ist durchaus ein gewisser Optimismus angebracht, wenngleich sich das auch noch als Truthahn-Illusion herausstellen könnte. Das ist die große Unsicherheit in komplexen Systemen (systemische Risiken), wo es bei größeren Störungen zu abrupten Phasenübergängen („Crash“) kommen kann. Wachsamkeit und Achtsamkeit sind daher weiterhin geboten. 

 

Projekt PRognosemodellE zur SIcherung der DaseinsvorsorgE (PRESIDE)

Quelle: www.fraunhofer.at

Ein von Fraunhofer Austria und der TU Wien entwickeltes Dashboard liefert in wenigen Sekunden die Antworten auf strategische Fragen zur Versorgungssicherheit.

Angenommen, ein Nachbarland wird von der Corona-Krise hart getroffen und die Grenze muss geschlossen werden – bei welchen Lebensmitteln könnte es dann zu Lieferschwierigkeiten kommen? Welche Konsequenz hat das Abriegeln einer bestimmten innerösterreichischen Region für die Verfügbarkeit der dort produzierten oder gelagerten Produkte? Diese Fragen stellen sich im Zuge einer Pandemie immer wieder, und Entscheidungsträger benötigen Antworten rasch, um geeignete Maßnahmen setzen zu können. Fraunhofer Austria hat im Rahmen seiner Tätigkeit im Covid-19 Future Operations Clearing Board und in Zusammenarbeit mit Partnern aus dem Lebensmittelhandel nun ein Tool entwickelt, mit der sich Fragen dieser Art innerhalb von Sekunden beantworten lassen: das „Fraunhofer Austria PRESIDE Dashboard“. So unterstützt Fraunhofer Austria die Ministerien mit notwendigen Informationen.

Basis der Visualisierung sind Handelsdaten verschiedener Unternehmen, die die ForscherInnen von Projektpartnern wie dem Lebensmittelgroßhändler KASTNER erhielten. „Die Grundlage jeder Analyse ist ein solider und gut gepflegter Datensatz,“ erklärt Big Data Experte Philip Ramprecht von Fraunhofer Austria. „Die KASTNER Gruppe und ein weiterer Partner haben uns umfangreiche Daten zur Verfügung gestellt. Bei KASTNER handelt es sich hierbei beispielsweise um die Echtdaten aus der Lieferkette des Großhandels für selbstständige Kaufleute und die Daten des Bio-Fachhandels. Dank dieser Kooperationen können wir in unserem Dashboard Warenströme visualisieren und sofort sehen, welche Produktgruppen aus welchen Regionen geliefert werden. Die Antworten auf wesentliche Fragen der Grundversorgung sind jetzt nur noch wenige Klicks entfernt.“

Das Tool, dessen Entwicklung vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds im Rahmen des Projekts PRESIDE – „PRognosemodellE zur SIcherung der DaseinsvorsorgE“ unterstützt wurde, stellt sicher, dass im Krisenfall jetzt jederzeit schnell regiert werden kann.

 

Update 18.11.20: Lieferketten reißen meist in Krisensituationen

Quelle: www.risknet.de

Lieferketten sind sensibel, feingliederig, weit verzweigt und reißen meist in Krisensituationen. Dies zeigt sich nicht erst in der jüngsten Coronakrise. Naturkatastrophen, Finanzkrisen oder Kriege können Unternehmen mit Lieferabhängigkeiten schnell in die Knie zwingen. Davon betroffen sind alle Branchen, gerade mit internationalen Lieferanten und Produktionsstandorten. Mit Blick auf die Charakteristika vieler Lieferketten zeichnen diese sich unter anderem durch unterschiedliche Akteure – von der Fertigung über den Handel bis zu Dienstleistungen und der Logistik aus. Hinzu komme ein oftmals langer Weg, bei gleichzeitig hoher Komplexität sowie hohen Anforderungen an die Kosten, den Service und die Flexibilität.

Im Rahmen einer BME-Umfrage zur Logistik unter 214 Teilnehmern vom Sommer 2020 zeigt sich, dass fast 70 Prozent der Teilnehmer über kein Supply Chain Risk Management (SCRM) verfügen. Die Frage was gegen ein SCRM spricht, beantworteten die Teilnehmer unter anderem mit zusätzlichen Kosten im Rahmen der Steuerungsmaßnahmen, mit mehr Bürokratie sowie Aufwand als auch das Nichterkennen des Nutzens eines Risikomanagements im Supply-Chain-Bereich.