Quelle: https://science.orf.at

Software, die nach jedem Update komplizierter wird – und Texte, die sich in Wortgirlanden verlieren: Die alte Weisheit „Weniger ist mehr“ tut sich in der Wirklichkeit schwer. Das könnte mit einem psychologischen Mechanismus zusammenhängen, wie neue Experimente zeigen: Wenn wir Probleme lösen, neigen wir eher zum Zufügen neuer Elemente als zum Weglassen alter.

Über diese Vorliebe zu „additivem“ statt „subtraktivem“ Verhalten, berichtete ein Team um die Sozialpsychologin Gabrielle Adams von der University of Virginia in einer Studie, die soeben in der Fachzeitschrift „Nature“ erschienen ist.

„Einfachheit – die höchste Stufe der Vollendung“

Gleichgültig ob Materielles oder Geistiges: Die Praxis, Dinge immer eher auszubauen als zu reduzieren, durchzieht die Menschheitsgeschichte. Dabei hat sie das Antidot immer begleitet. „Einfachheit ist die höchste Stufe der Vollendung“, soll Leonardo da Vinci gesagt haben (mit Sicherheit eine “Apple-Reklame“). In der Philosophie schnitt Ockhams Rasiermesser unnötigen Theorieballast ab, in Kommunikationsabteilungen heißt es „Keep it simple, stupid“ und im Alltag „Weniger ist mehr“.

Ein schönes Beispiel dafür findet der Verhaltensforscher und Studien-Mitautor Leidy Klotz bei Laufrädern für kleine Kinder. Jahrzehntelang mühten sich diese mit Rädern ab, die mehr oder weniger gut durch Stützräder abgesichert waren. „Der Durchbruch gelang, indem man einfach die Pedale wegließ“, so Klotz, und die Laufräder in Mode kamen.

Mit seinen Kolleginnen und Kollegen tüftelte er eine Reihe von Experimenten aus, mit denen additive und subtraktive Lösungsversuche empirisch untersucht werden können. Eines davon basiert auf Legosteinen. Die Versuchsanordnung (siehe Bild unten) war mit folgender Aufforderung verbunden: Verbessern Sie das (nur auf einem Stein ruhende) Dach mithilfe weiterer Legosteine so, dass die kleine Figur nicht zu Schaden kommt, wenn man einen Ziegelstein aufs Dach legt.

Die meisten Menschen stabilisierten das Dach, indem sie zusätzliche Steine darunter einbauten. Erst nach dem ausdrücklichen Hinweis, dass man Steine auch wegnehmen kann und dies im Gegensatz zum Hinzufügen nichts koste (10 Cent pro Stein laut Experimentanordnung), änderte sich das. Während zuvor nur 41 Prozent den einen Stein entfernten und das Dach niedriger setzten, waren es danach 61 Prozent. „Die subtraktive Lösung ist viel wirkungsvoller, aber man kommt erst auf sie, wenn man sich nicht gleich auf die additive stürzt“, sagt der Psychologe Benjamin Batten, ein weiterer Studienautor.

Kognitiv anstrengender

Die Vorliebe fürs Hinzufügen zeigte sich auch bei den anderen Experimenten der Forscherinnen und Forscher. So galt es u. a. ein Gitter mit 10×10 Kästchen symmetrisch grün und weiß einzufärben – entweder durch Hinzufügen oder Wegnehmen von Kästchen. Nur 20 Prozent der Probanden entschieden sich für Letzteres. Dieser Hang zu additivem Verhalten zeigte sich auch abseits des Labors in der richtigen Welt, etwa bei Verbesserungsvorschlägen, die einem neu angetretenen Uni-Rektor zugekommen waren. Nur elf Prozent meinten, dass man bestehende Regeln, Gewohnheiten oder Studienprogramme abschaffen sollte, alle anderen machten neue Vorschläge.

Woher unsere Standardeinstellung „Mehr ist mehr“ kommt? Nicht daher, dass wir den Wert des Wegnehmens von Elementen an sich nicht anerkennen. Das Hinzufügen scheint kognitiv aber einfacher zu sein – subtrahieren dementsprechend anstrengender. Additive Lösungsversuche könnten sozial auch wünschenswerter sein, wie es in einem “Nature“-Begleitartikel heißt. „Etwas wegnehmen“ gelte als weniger kreativ als „etwas Neues hinzufügen“. Außerdem gebe es so etwas wie eine Ehrfurcht vor dem Bestehenden, das ja aus guten Gründen bestehen müsse und uns vor dem Eliminieren zurückschrecken lasse.

Lieber etwas länger nachdenken

Ein Haken der Studie: Die rund 1.100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer stammten aus den USA, Japan und Deutschland. Ob sich die Neigung zum additiven Problemlösen auch in anderen Kulturkreisen zeigt, bleibt zu untersuchen. Sollte sie aber generalisierbar sein, wäre sie eine gute Erklärung für eine Reihe von Phänomenen. Gabrielle Adams und ihre Kollegen zählen u. a. auf: die Schwierigkeit vieler mit explodierenden Zeitplänen; Institutionen, die mit wachsender Bürokratie kämpfen und der gesamte Planet Erde, der an die Grenzen seiner Ressourcen gerät.

Im Alltag, so heißt es in der Studie, kann das additive Problemlösen gut funktionieren. „Wenn vergleichbare und mitunter überlegene subtraktive Alternativen aber nicht überlegt werden, können Menschen Möglichkeiten verpassen, ihr Leben erfüllender, ihre Institutionen effektiver und ihren Planeten lebenswerter zu machen.“

Kommentar

Diese Erkenntnisse sind auch im Umgang mit der Energiewende und den sonstigen aktuellen Transformationsprozessen wichtig! Denn es geht immer nur um „mehr“ und selten um eine Reduktion. Die Energiewende ist aber mit einem weiter wie bisher nicht umsetzbar und ignoriert vor allem das eigentliche Problem: Die Grenzen des Wachstums und Die Grenzen des Denkens