Aus der aktuellen Flüchtlingslage können einige Aspekte von „Vernetzung & Komplexität“ abgeleitet bzw. sichtbar gemacht werden.

Erstversion: 13.09.15; Update: 23.09.15, 14.10.15 (Wiener Apps sollen Flüchtlingen helfen), 25.01.16 (Fluchthelfer Smartphone, Digitaler Salon)

Hoher Vernetzungsgrad

Viele Flüchtlinge sind mit Smart Phones ausgestattet. Was im ersten Moment so manchen Mitbürger irritiert – wie kann das sein, wenn sie so arm sind – ist durchaus nachvollziehbar. Die Menschen kommen ja nicht aus dem Urwald, sondern waren genauso in eine Zivilisation eingebettet. Und das wenige das ihnen oft geblieben ist, ist halt das Smart Phone. Auch wir würden wohl auf einer Flucht zumindest dieses Gerät mitnehmen. Und nachdem offensichtlich die Bezahlung der Verträge irgendwie funktioniert bzw. wir ihnen Gratis-WLAN zur Verfügung stellen, funktioniert auch die Kommunikation rückwärts – in die Heimat oder in die Flüchtlingscamps vor Ort. Dorthin können nicht nur Sprache, sondern auch Bilder und Videos  übertragen werden, wie gut es bei uns läuft und wie willkommen sie geheißen werden. Was natürlich wiederum andere motiviert, ebenfalls aufzubrechen.

Zudem kommt hinzu, dass wir sie rasch mit Busen und Zügen weiter transportieren, was noch zusätzlich den Vernetzungsgrad und die Dynamik erhöht.

Kleine Ursache, große Wirkung

Ein möglicher Auslöser für die Wanderwelle war anscheinend auch eine Meldung, dass Deutschland 800.000 Flüchtlinge aufnehmen wolle. Auch hier spielt wiederum die Vernetzung  (Medien, Soziale Medien) und Reichweite der vermeintlichen Meldung eine große Rolle.

Fehlende Reichweitenbegrenzung

Störungen können sich bei fehlenden Reichweitenbegrenzungen rasch ausbreiten. In diesem Fall sind das die fehlenden Grenzkontrollen und in kürzester Zeit konnten große Menschenmengen nach Deutschland kommen, was natürlich auf Dauer nicht gut gehen kann. Daher ist die heute eingeführte Grenzkontrolle nachvollziehbar und durchaus im Sinne der Systemsicherheit. Natürlich sind damit nicht alle Probleme gelöst bzw. werden sich Umgehungsrouten finden, aber der kurzfristige Druck kann zumindest verringert werden.

Symptombehandlung

Die Aufnahme von Flüchtlingen stellt nur eine Symptombehandlung dar und kann auch nur beschränkt funktionieren. Insbesondere, sollte sich in absehbarer Zukunft – wie sich derzeit immer stärker abzeichnet – auch in Europa die wirtschaftliche Lage verschlechtern. Sollte das Finanzsystem einen Crash erleben – was auch in Reichweite ist – dann könnte hier eine schwer abschätzbare Dynamik entstehen, auf die wir wohl nicht vorbereitet sind. Auch Zäune können nur eine bedingte Lösung sein. Viel mehr ist es notwendig, die Probleme an den Wurzeln zu packen. Aber auch das wird nur schwer möglich sein, da der arabische Raum zunehmend zerfällt und in Instabilität verfällt. Dennoch sollte wohl dort angesetzt werden. In den grenznahen Flüchtlingszentren aber auch in der Stabilisierung vor Ort. Dabei muss wohl auch berücksichtigt werden, dass der Zerfall der Nationalstaaten auch Teil der Transformation zur Netzwerkgesellschaft ist und es daher wenig Sinn macht, zu versuchen, die alten (bisher berechenbaren) Strukturen aufrecht zu erhalten. Daher geht es auch hier um weit mehr als nur um eine kurzsichtige Stabilisierung. Das alles unter einen Hut zu kriegen ist auf keinen Fall einfach und wohl nicht rasch zu realisieren.

Die andere Seite der Medaille

Die Zivilgesellschaft übernimmt die Versorgung

Es gibt hier aber auch noch eine weitere – positive – Seite, die man hier beobachten kann und wie etwa Die Presse am Sonntag vom 13. September 2015 berichtete:

Die freiwilligen Helfer vom Hauptbahnhof

Der 22-Jährige ist einer jener Menschen, die hier seit knapp zwei Wochen die Betreuung tausender Flüchtlinge organisieren, die über Ungarn nach Deutschland fahren. Wobei das Bemerkenswerte daran ist, dass keine Organisation dahinter steckt, sondern sich ein Netzwerk quasi von selbst aufgestellt hat. Es begann mit zwei Steigen Äpfel, die Freiwillige hierher brachten. Und steht bei derzeit mehr als 1000 Freiwilligen, die hier bei der Betreuung der Flüchtlinge helfen.

Persönliches Engagement. Train of Hope war der Slogan, unter dem sich vor allem junge Menschen zusammenfanden, Lebensmittel organisierten, Kleidung sammelten und Medikamente auftrieben. Selbst organisiert, ohne Hilfe von Staat oder etablierten Einrichtungen. Ein wilder Haufen, könnte man meinen. Und anfangs mag es auch noch gestimmt haben, mag das persönliche Engagement und der Idealismus das wichtigste Element gewesen sein. Doch mittlerweile haben die Helfer eine gewisse Struktur aufgebaut. Mittlerweile hat die Truppe so etwas wie Hauptkoordinatoren, die den Überblick bewahren.

Längst hat sich auch eine Arbeitsteilung etabliert. Freiwillige werden gefragt, was sie können – und werden dementsprechend eingeteilt.

Sogar ein eigenes Team für Social Media hat man. Und das braucht man auch – es ist sogar das Rückgrat der Bewegung. Über Facebook wird nach Helfern gesucht, wird verkündet, woran es gerade mangelt. In der Regel dauert es nicht lange, bis die ersten Freiwilligen genau damit beim Hauptbahnhof ankommen. Die Hierarchien sind flach. Der Eintritt ist für jeden möglich. Wer will, kann sich einfach melden. Und wird in der Regel gleich eingesetzt.

Am Hauptbahnhof, wo auch immer wieder Züge mit Flüchtlingen ankommen, hat das zivilgesellschaftliche Kollektiv das Kommando übernommen.

Spontane Selbstorganisation

Wie dieses Beispiel zeigt, führt Vernetzung auch zur spontanen Selbstorganisation und wirft das bisherige Denken über den Haufen. Es braucht nicht mehr unbedingt die gewohnte Top-Down-Hierarchie, um Probleme zu lösen, die Zivilgesellschaft nimmt das einfach selbst in die Hand, wenn es nicht anders funktioniert. Im Prinzip gibt es hier eine starke Ähnlichkeit zu „Plötzlich Blackout!“ bzw. meinen eigenen Aktivitäten. Das bedeutet nicht, dass alle bisherigen hierarchischen Strukturen aufgelöst werden oder obsolet sind, sondern – sowohl-als-auch – beides parallel vorkommt und funktioniert bzw. funktionieren kann. Dies erfordert jedoch ein offeneres Denken von Seiten der bisherigen Akteure, damit ein gutes Miteinander entstehen kann. Hierzu möchte ich auf das Diskussionspapier “Führung und Zusammenarbeit in Unternehmen” von Conny Dethloff verweisen, das zwar mit einem anderen Hintergrund erstellt wurde, aber sehrwohl auch hierher passt und die neue Dynamik bzw. erforderliche Flexibilität beschreibt. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Vernetzung, ohne der das nicht funktionieren würde.

Leider haben wir hier – gerade was das bisher sehr erfolgreiche Staatliche Krisenmanagement betrifft – einige blinde Flecken, wie etwa Dominik Mungenast in seiner Masterarbeit Staatliches Katastrophenmanagement: Krisenkommunikation 2.0 herausgearbeitet hat.

Wiener Apps sollen Flüchtlingen helfen

Vier neue Apps für das Handy sollen Flüchtlingen und Helfern das Leben erleichtern. Programmiert wurde die Software an nur einem Wochenende von 25 Freiwilligen, Programmierern und Designern in Wien. „Es ist toll, was Menschen, die sich gar nicht kennen, in kurzer Zeit schaffen können“, sagte Mitinitiatorin Helene Pattermann im Gespräch mit der APA.

In vier Teams tüftelten die Freiwilligen beim „Refugee Hack Vienna“ in zwei Wiener Gemeinschaftsbüros, Stockwork Coworking und Sektor Fünf, an der Software. Sieger des freundschaftlichen Wettbewerbs wurde die App „Where 2 Help“, die die Koordinierung von Freiwilligen erleichtert. Das Problem sei immer, dass es entweder zu wenige oder zu viele Helfer an Ort und Stelle gebe. „Da gibt es viel Unzufriedenheit bei allen“, sagte Pattermann. Helfer könnten mit der App nun in Echtzeit sehen, wo sie gebraucht werden.

Quelle: wien.orf.at

Zu lösende Konflikte

Dazu passt auch der Beitrag „Eine Rosskur mit Amtsschimmel“ im Standard vom 22.09.15.

Helfen ist nicht einfach. Die zivilgesellschaftlichen Helfer in Nickelsdorf und die organisierten vom Ro­ten Kreuz sind nun anein­andergeraten. Es geht um lebensmittelrechtliche Be­stimmungen, allfälligen Versicherungsschutz und die Ordnung des Ablaufs.

Aber den Helfern ist in die­sen 17 Tagen halt auch einiges an Geimpftem aufgegangen. „Warum muss man in so einer Notsituation unbedingt den Amtsschimmel reiten?“

Eberstaller und sein vom Weingut Umathum initiiertes regionales Netzwerk „Region Neusiedler See hilft“ist mit seiner Grenzhilfe auch an die Grenzen der Bürokratie gestoßen. Die kennt zum Beispiel den Begriff HACCP – Hazard Analysis an Critical Control Point –, auf dem alle europäischen Lebensmittelhygieneverordnungen beruhen.

„Wenn einem Helfer was passieren würde: Niemand von uns ist versichert.“

Das der Versicherungsschutz noch immer nicht gelöst ist – obwohl das schon länger (Hochwasser) ein Thema ist, ist befremdent. Dabei gebe es bereits ein positives Beispiel mit der Wiener Versicherung für Freiwillige, wo man sich rasch und unbürokratisch versichern kann.

Das Problem, dass wir nur die „Normalität“ und keinen Ausnahmezustand kennen und daher immer alle Vorschriften einzuhalten sind, wird uns wohl noch häufiger und intensiver beschäftigen.

Dass die etablierten Einsatzorganisationen dringend Strukturerweiterungen benötigen, um etwa ungebundene / freiwillige Helfer auch in einer Win-Win-Form einbinden zu können, zeichnet sich auch schon länger ab.

Kleine Ursache, große Wirkung

Train of Hope ist ebenfalls ein Beispiel für „Kleine Ursache, große Wirkung“ – eine Einzelinitiative mobilisiert innerhalb kürzester Zeit 1.000 Mitmacher.

Refugee Hero – Ein weiteres Beispiel für die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft

Drei junge Start-up-Unternehmer in den Niederlanden haben in Anlehnung an Websites zur Suche nach Ferienwohnungen eine Website für Flüchtlingsunterkünfte gestartet.

Auf der in nur vier Tagen aus dem Boden gestampften Seite Refugeehero.com wird allerdings kein Geld für die zeitweise Unterbringung von Flüchtlingen gezahlt.

Vielmehr können Privatleute, Schulen, Kirchen und andere Organisationen dort Räume gratis anbieten und eine Kontakttelefonnummer hinterlassen.

Länderübergreifende Angebote

Seit dem Start am Montag haben bereits mehr als 60 Menschen Unterkünfte angeboten, nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Irland, Schweden und Frankreich. Einer der Mitbegründer der Website, der 25-jährige Jamal Oulel, sagte der Nachrichtenagentur AFP, der offizielle Weg zur Flüchtlingsunterbringung sei „ineffizient“. Quelle: orf.at

Die Zivilgesellschaft ist durchaus in der Lage, Probleme selbst in die Hand zu nehmen, man sollte sie nur stärker einbinden und aktivieren. Natürlich werden sich damit nicht alle – vor allem langfristige – Problemstellungen lösen lassen. Aber auf jeden Fall die Akuthilfe – und wir brauchen ein sowohl-als-auch-Denken! Zum anderen zeigt dieses Beispiel, dass unsere Plattform www.wirpackenan.at durchaus Sinn macht.

Siehe auch dazu passend Musterbrechen heißt Widersprüche lieben.

Update 25.01.16 – Fluchthelfer Smartphone, Digitaler Salon

Viele Flüchtlinge nutzen auf der Flucht ein Smartphone, um so Kontakt zu Schleppern aufzunehmen, als Navigation und Medium, um sich in der neuen Heimat zu vernetzen. Dazu gab es bereits im Oktober 2015 eine sehr interessante Veranstaltung, die aufgezeichnet und auf Deutschland Radio Wissen / Hörsaal als Podcast zur Verfügung steht.

Dieser Auszug verdeutlicht ganz besonders, was sich hier in den vergangenen Jahren verändert hat und welche Rolle dabei die Vernetzung spielt: