Letzte Aktualisierung am 23. Oktober 2015.

Folgender Leserbrief aus Deutschland wurde uns zur Verfügung gestellt. Nachdem er sehr wichtige Fragen aufwirft, möchten wir ihn hier auch aufgreifen. Grundsätzlich geht es um das Flüchtlingsthema, wobei sich einzelne Aspekte auch wiederum auf andere Bereiche übertragen lassen.

Sehr geehrte Redaktion,

die Bundeskanzlerin hat mit Ihrem Satz „Asylrecht kennt keine Obergrenze“ nach gesinnungsethischen Gesichtspunkten entschieden und eine Lawine losgetreten. Diese Art der Entscheidung (mit dem Herzen) kennt keine Abwägung der daraus resultierenden Folgen. Sie ist somit relativ bequem. Von einem Politiker sollte man aber erwarten, dass er sein Verhalten verantwortungsethisch ausrichtet, d. h., dass er die Folgen seiner Entscheidung mit in seine Überlegungen einbezieht. Das vermisse ich hier völlig.

Wir haben einen Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Asyl und dem unbegrenzten Zuzug von Asylbegehrenden. Dieser „Konflikt“ ist nicht aufgelöst, da niemand der Verantwortlichen bereit ist, Zahlen zu nennen.

Ob das Asylrecht und die notwendige Administration für Situationen geschaffen wurde, wie sie jetzt herrschen (unbegrenzte massenhafte Zuwanderung von Flüchtlingen innerhalb kürzester Zeit) darf bezweifelt werden.

Es kann einem angst und bange werden bei der naiv-panischen und konzeptionslosen Vorgehensweise der politisch Verantwortlichen zur Bewältigung der Flüchtlingsproblematik.

Man kann die zu lösende Aufgabe mit einem umzusetzenden Projekt vergleichen. Leider hat Deutschland mit der Realisierung von Großprojekten bisher nur Schiffbruch erlitten und sich nicht mit Ruhm bekleckert (Elbphilharmonie, Stuttgart21, Flughafen Berlin, Endlagerung radioaktiven Abfalls usw.). Dies ist ein Projekt von erheblich größeren Dimensionen mit europäischen Auswirkungen. Für ein Projekt braucht man einen Auftraggeber, der eine klar umrissene Aufgabenstellung vorgibt. Auftraggeber ist der Bund, initiiert durch das Grundgesetz Artikel 16a.

Die Aufgabenstellung ist grob und schwammig definiert. Aufnahme einer unbekannten Anzahl Asylbegehrender, Unterbringung in Erstaufnahmelagern, schnelle Erstellung bzw. Schaffung von Wohnraum, Bereitstellung von Sprachkursen, Schaffung von Arbeitsplätzen, Integration der neuen Mitbürger. Das Problem besteht schon darin, dass der Bund diese Aufgabe an Länder und Kommunen „delegiert“ und sich somit der Verantwortung entzieht. Das weitere Problem ist, dass keine Obergrenzen für die Aufnahmekapazität festgelegt werden (Feigheit die Tatsachen zu benennen?). Für ein Projekt braucht man ein Budget. Dieses wird durch den Steuerzahler aufgebracht. Damit sind trotzdem keine Mittel in unbegrenzter Höhe vorhanden. Das wird spätestens dann deutlich, wenn Umschichtungen im Haushalt zu Lasten anderer Aufgaben (Bereiche) vorgenommen werden. Anders ist die „schwarze Null“ als Vorgabe für einen ausgeglichenen Haushalt nicht zu halten.

Für ein Projekt braucht man einen zeitlichen Rahmen. In diesem Fall ist das Ende nicht definiert. Auf Grund der drängenden Probleme ist aber das Zeitfenster für die anstehenden Aufgaben zu klein. Schon hier ist zu erkennen, dass die Aufgabe nicht vernünftig gelöst werden kann. Wohnungen lassen sich nicht mal eben aus dem Boden stampfen, deutsch lernt man nicht im Crashkurs usw.

Für ein Projekt braucht man einen verantwortlichen Projektleiter mit weitreichenden Vollmachten, der nur seinem Auftraggeber verantwortlich ist. Diesen Projektleiter und die damit notwendige Koordinierung gibt es weder auf Bundes- noch auf Landesebene. Damit ist die vernünftige Realisierung dem Zufall überlassen und gefährdet. Mit vielen gutwilligen hilfsbereiten Mitbürgern lässt sich die Aufgabe nicht umsetzen. Weitere Probleme ergeben sich dadurch, dass wir unsere Regeln nicht umsetzen oder dauernd in Frage stellen. Z. B. keine konsequente schnelle Rückführung abgelehnter Asylbewerber. Für den Hausbau gelten plötzlich neue Regeln die vorher strengstens einzuhalten waren, z. B.: Keine Dämmung mehr? Klimaschutz nicht mehr wichtig? Energiewende ade? Verdichtete Bebauung, Hochhäuser, Gefahr der Ghettobildung?

Nichts wird, soweit möglich, zu Ende gedacht! Hinzu kommt die zurzeit herrschende Unkultur, Leute, die ihre Einwände und Bedenken mit einem “ ja aber“ beginnen sofort in die rechte Ecke zu stellen oder zu ignorieren. Auch die Printmedien und das Fernsehen haben sich an dieser Stelle nicht mit Ruhm bekleckert und beginnen jetzt erst auch kritische Stimmen zu veröffentlichen.

Fazit: Das Projekt wird scheitern, wenn nicht klare Vorgaben und Regeln erstellt und umgesetzt werden. Das ist für die, denen geholfen werden muss und für die heimische Bevölkerung außerordentlich bedauerlich. Wir können die Debatte nicht so führen, als wenn nur dieses Jahr 1 Million Flüchtlinge zu uns kommen und der Zustrom dann abebben würde. Außerdem wird sträflich vergessen, die Bevölkerung über die Konsequenzen aufzuklären und mitzunehmen.

Ich glaube nicht, dass es durch das Asylrecht gedeckt ist, die einheimische Bevölkerung zu überfordern oder das Land zu ruinieren. Die Bundeskanzlerin befindet sich in der Rolle von Goethes Zauberlehrling, sie beherrscht die Geister nicht mehr die sie rief.

Wir schaffen das. Schaffen wir das??

Kommentar von Franz Hein

Die Ähnlichkeiten bei der gegenwärtigen Flüchtlingsproblematik und dem konzeptlosen, ideologisch verengten Vorgehen bei der Energiewende sind bezeichnend. Hier wie dort ersetzt Meinung die Wirklichkeit – wir „meinen“, wir schaffen es – und weil wir das „meinen“, muss es wohl so sein. In Gesetzesvorhaben zum Strommarkt verwenden wir Begriffe wie „Intelligentes Messsystem“, dann muss das intelligent sein.

Die ideologische Vorpolung und eine Überschätzung der eigenen Möglichkeiten ignoriert besonders die Endlichkeit aller Ressourcen, ob das nun Wohnraum, Unterbringungsmöglichkeiten, Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten sind oder der Mangel an Energiebevorratungsmöglichkeiten und wachsender Mangel bei der Abdeckung physikalischer Gesetzmäßigkeiten durch nur technisch zu realisierenden Komponenten.

In diesem Leserbrief wird ausgeführt, dass der Umgang mit der Endlichkeit aller Ressourcen ein professionelleres Vorgehen verlangt. Professionalität ist allen Anschein nach kein deutsches Talent mehr, weder bei der Flüchtlingsproblematik noch bei der Energiewende (und beim Berliner Flughafen auch nicht).

Anmerkung: Der Leserbrief wurde im September 2015 erstellt. Mittlerweile gibt es auch in Deutschland einen „formalen“ Koordinator. Ob sich jedoch ein aktiver Amtschef (Kanzleramt) voll auf diese Aufgabe konzentrieren wird können, wird sich zeigen. Hier ist wohl der österreichische Koordinator in einer „glücklicheren“ Lage. Ganz abgesehen davon, dass es nicht nur um Quartiere geht, sondern dass vielschichtige Projektaufgaben zu lösen wären, wie der Leserbrief sehr gut  auf den Punkt bringt. Das Krisenmanagement – auch wenn nirgends offiziell/formal von einer Krise gesprochen wird – ist dann nochmals ein Thema für sich, dass viele Fragen aufkommen lässt. Was passiert erst, wenn es wirklich zu einem europäischen strategischen Schock, wie nach einem Blackout, kommt?

Siehe auch Vernetzung & Komplexität und die aktuelle Flüchtlingslage.