VuK-Newsletter #14 – 16. Oktober 2015

Die Themen dieses Newsletters:

  • Aktuelle Herausforderungen im Netzbetrieb
  • Lehren aus der Atomkatastrophe von Fukushima
  • Zusammenfassung der Erkenntnisse von Fukushima
  • Flüchtlingssituation
  • Zusammenfassung der Erkenntnisse zu Redundanzen
  • Verschiedene Meldungen und Berichte
  • Situation im europäischen Stromversorgungssystem

Liebe Leserin, lieber Leser,

zahlreiche Newsletterempfänger werden zurzeit bei der Bewältigung der Flüchtlingssituation eingebunden sein und zu wenige Ressourcen für andere Themen haben. Das ‚Herumreiten‘ auf einem möglichen Blackout mag einigen längst auf den Nerv gehen, denn dieses ist ja nicht einmal bei der Sonnenfinsternis eingetreten. War die Vorsorge der europäischen Übertragungsnetzbetreiber ‚zu gut‘?

Wir sehen trotzdem die Notwendigkeit, anhand einer multiplen Katastrophe, die zuvor unvorstellbar war  die Erdbeben-, Tsunami- und Atomkatastrophe von Japan im Jahr 2011 – Analogien aufzuzeigen, um daraus lernen und zukünftige Schäden verhindern zu können. Auf den ersten Blick mag diese Katastrophe weit entfernt und für unsere Breiten wenig relevant erscheinen, was sich bei einer näheren Betrachtung aber rasch als Irrtum herausstellt.

Zusätzlich möchten wir allgemein gültige Erkenntnisse aus der aktuellen Flüchtlingssituation ableiten. Ziel ist die Identifizierung von möglichen Lehren aus anderen Bereichen, um die gesamtgesellschaftliche Resilienz zu erhöhen bzw. um besser auf zukünftige Unsicherheiten und Überraschungen vorbereitet zu sein. Wie sich immer wieder zeigt, geht es vor allem um organisatorische Herausforderungen, welche durch ein intensives ‚Lernen von anderen Ereignissen‘ besser bewältigt werden könnten. Wir sollten immer bis zum (bitteren oder auch erfolgreichen) Ende denken und angeblich ‚Undenkbares‘ trotzdem behirnen, statt zu ignorieren oder auch nur zu vernachlässigen. Vernetztes Denken ist in einem komplexen Umfeld unverzichtbar, will man böse Überraschungen reduzieren bzw. verhindern.

Aktuelle Herausforderungen im Netzbetrieb

Die Situation im Stromversorgungssystem war im 3. Quartal und auch aktuell sehr herausfordernd (siehe Auswertung Redispatching & Intradaystops). Wie berichtet wurde, rechnet der österreichische Übertragungsnetzbetreiber Austrian Power Grid (APG) heuer mit Kosten von mehr als 116 Millionen Euro für die fast täglich notwendigen netzstabilisierenden Eingriffe. 2014 waren es noch rund 22 Millionen und 2013 ’nur‘ 13 Millionen Euro (siehe Pläne für Stromzäune spalten Europa). Die Netzbetreiber zeigen, dass sie alles im Griff haben. Aber die steigenden Herausforderungen machen das System für (Groß)Störungen anfälliger. Das sollte uns bewusst sein und endliche neue (bessere!) Rahmenbedingungen zur Folge haben. Hier kündigt sich etwas an, was später im Rückblick zur Erkenntnis führt: Hätten wir doch früher diese Zeichen ernst genommen. Ein System kann nicht ohne Folgen andauernd überlastet werden.

Lehren aus der Atomkatastrophe von Fukushima

Die Atomkatastrophe von Fukushima ist wohl noch allen in Erinnerung. Kürzlich ist dazu auf Deutsch das Buch von Naoto Kan, Als Premierminister während der Fukushima-Krise, erschienen. Die meisten von uns kennen die Ereignisse nur aus den Medien. Daher bietet dieses Buch tiefgehende Einblicke und erschütternde Erkenntnisse. So hat etwa der Premierminister den Schluss gezogen, ‚dass dieser Unfall letztlich nicht zum Zusammenbruch von Japan geführt hat, ist auf das Zusammenwirken mehrerer glücklicher Umstände zurückzuführen. Eigentlich muss man sogar sagen, dass es am Ende nichts anderes als Glück war. Es kann allerdings nicht angenommen werden, dass sich so ein Glück auch in Zukunft fortsetzen wird.‘ Er ist durch seine Erlebnisse auch vom klaren Atombefürworter zum Atomgegner geworden.

Besonders nachdenklich macht dieser Absatz:

Ein schwerer Unfall in einem Atomkraftwerk passiert nicht. Unter dieser Voraussetzung wurde die japanische Gesellschaft aufgebaut. Unter dieser Voraussetzung wurden 54 Kernreaktoren errichtet. Das Rechtssystem, die Politik und die Wirtschaft, ja selbst die Kultur basierten auf der Voraussetzung, dass ein Unfall in einem Atomkraftwerk nicht passieren würde. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass man auf nichts vorbereitet war. Als dann tatsächlich ein Unfall passierte, war dem nichts entgegenzusetzen. Die Aussage von Politikern, Energieversorgern und Aufsichtsbehörden, dass man sich das „nicht vorgestellt“ hätte, entspricht in gewisser Hinsicht durchaus der Wahrheit.

Obwohl Japan mehr als 50 Atomreaktoren hat, gibt es keine einzige staatliche Expertenorganisation mit dem Auftrag, Atomunfälle unter Kontrolle zu bringen. (…) Der Grund dafür, warum es keine Organisation für die Bekämpfung von Atomunfällen gibt, ist, dass solche Unfälle eben nicht passieren.

Eine ganz klare ‚Truthahn-Illusion‚ , wie sie auch häufig im Zusammenhang mit dem Thema ‚Blackout‘ in Europa zu beobachten ist (siehe etwa Blackout: ‚Wahrscheinlichkeit geringer als vor 10 Jahren‘), aber auch, was das Risiko eines Störfalls in einem der 134 europäischen Reaktoren betrifft. Noch schlimmer ist dabei, dass es zwischen einem Blackout und einem atomaren Störfall einen direkten Zusammenhang bzw. massive wechselseitige Abhängigkeiten gibt. Umso erschreckender sind daher Erkenntnisse, wie etwa: Europas Atomkraftwerke sind nicht sicher genug

Zudem hat sich in Japan einmal mehr gezeigt, dass es oft an vermeintlichen Kleinigkeiten scheitern kann (Zitat aus dem Buch von Naoto Kan):

Die verzweifelt zur Verfügung gestellten Stromversorgungsfahrzeugen waren aus vielerlei Gründen, die wir später erfuhren, nutzlos: Die Stecker der Fahrzeuge hatten nicht die richtige Spezifikation und konnten nicht angeschlossen werden, die Kabel waren nicht lang genug, der Stromverteiler war nicht zu verwenden usw. usf. (…) Ein Löschfahrzeug für die Flutung mit Meerwasser schließlich konnte nicht betrieben werden, weil es kein Benzin mehr hatte. (…) Hätte die Bereitstellung von Menschen und Materialien funktioniert, hätte die Kernschmelze in den Reaktoren 2 und 3 möglicherweise aufgehalten werden können.

Es lohnt sich, die gesamte Zusammenfassung des Buches zu studieren und entsprechende Schlüsse daraus zu ziehen.

Zusammenfassung der Erkenntnisse von Fukushima

Im Wesentlichen lassen sich die Erkenntnisse aus dem Buch von Naoto Kan auf folgende wichtige Eckpfeiler zusammenfassen:

  • Es gibt keine 100-prozentige Sicherheit niemals und nirgends!
  • Diese Realität auszublenden oder zu leugnen, verhindert nicht den Eintritt eines gravierenden Vorfalles, verschlimmert aber die Auswirkungen, weil die Vorbereitung fehlt.
  • Durch vernetztes Denken und Handeln sowie regelmäßiges Üben des Beherrschens von (undenkbaren?) Vorfällen können viele Stolpersteine bereits im Vorfeld minimiert werden.
  • Oft bringt bereits das gedankliche Durchspielen eines (undenkbaren?) Vorfalles Erkenntnisse, welche Vorbereitungen doch nötig sind.
  • Ein atomarer Störfall in einem europäischen Atomkraftwerk ist in Folge eines Blackouts, z. B. wegen dem Verlust der Fähigkeit zum Kühlen durchaus möglich.
  • Ein europäisches Blackout hat das verheerende Potential, eine multiple Katastrophe durch Dominoeffekte auszulösen.

Alles in allem verhindert die Ignoranz von möglichen Ereignissen nicht deren Eintritt. Siehe dazu die Erkenntnisse aus der 1st INTERNATIONAL CONFERENCE ON NUCLEAR RISK

Flüchtlingssituation

Die aktuelle Flüchtlingssituation zeigt auch, wie rasch bisher ignorierte Szenarien und Entwicklungen – denn dass der Migrationsdruck in den Krisenregionen steigt,  ist schon länger bekannt – eskalieren können. Bei diesem Ereignis kommt hinzu, dass ein Ende nicht absehbar ist und daher zu erwarten ist, dass die Herausforderungen noch steigen werden, obwohl die Ressourcen bereits heute am Limit sind. Die aktuelle Situation lässt zahlreiche Ableitungen zum Thema ‚Vernetzung & Komplexität‚ zu.

Besonders positiv kann dabei hervorgehoben werden, dass die Zivilgesellschaft eine wesentliche Rolle und Stütze in der Bewältigung der Situation eingenommen hat und dies oftmals auf die spontane Selbstorganisation zurückzuführen ist. Damit wird einmal mehr bestätigt, dass man der Bevölkerung mehr zutrauen und sie als aktiven Akteur in der Krisenbewältigung einbinden sollte. Derart gravierende Ereignisse können nicht nur mit der geplanten und organisierten Hilfe bzw. von hauptamtlichen Einsatzkräften allein bewältigt werden. Hier wäre es nun besonders wichtig, das Potential in der Zivilgesellschaft noch besser zu mobilisieren, indem entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. Etwa ein automatischer Versicherungsschutz für ungebundene Helfer (siehe in Wien), das Angebot einer psychosozialen Betreuung, wie sie mittlerweile für Einsatzkräfte selbstverständlich ist, die Entschädigung für Arbeitgeber, wie dies für Feuerwehren seit Jahren diskutiert wird, usw.

Hier ist wiederum ein sowohl-als-auch-Denken erforderlich. Wir brauchen sowohl die bisherigen organisatorischen Strukturen/Einsatzkräfte, als auch die flexible Möglichkeit eines ‚Aufwuchses‘, um bei größeren oder länger anhaltenden Ereignissen entsprechend Ressourcen mobilisieren zu können. Womit sich einmal mehr die Notwendigkeit einer integrierten Sicherheitskommunikation und Grundausbildung einer möglichst breiten Bevölkerungsschicht bestätigt.

Zusammenfassung der Erkenntnisse zu Redundanzen

Ein robustes und lebensfähiges System – und damit auch eine Gesellschaft – benötigen Redundanzen. Im Zuge des Workshops zum Projekt „Digitaler Stillstand“ wurden dazu folgende wichtige Erkenntnisse gewonnen/verdichtet:

  • Bei Redundanzen geht es nicht zwangsläufig darum, technische Systeme mehrfach abzubilden, sondern die damit verbundenen Leistungen. Es ist in der Regel kein 1:1 Ersatz für eine Infrastruktur notwendig, wie häufig angenommen wird, sondern eine definierte Minimalleistung (Rückfallebene). So kann eine Redundanz zur Wasserversorgung bedeuten, dass jeder Haushalt gemäß den jeweiligen Möglichkeiten (Lagerung) eine Ausfallsicherheit in Form von Flaschenwasser selbst vorrätig hält. Das Gleiche gilt für die Lebensmittelversorgung.
  • Im Bereich Kritischer Infrastrukturen geht es nicht nur um Redundanzen, sondern um die Hochverfügbarkeit der zu erbringenden Leistung. Hier muss auch über bestehende ‚Grenzen‘ hinaus nachgedacht werden. Zum Beispiel könnte die Hochverfügbarkeit des Mobilfunksystems auch dadurch erreicht werden, indem für außergewöhnliche Situationen/Netzausfälle ein temporäres Inlands-Roaming vorgesehen wird. Denn hier gibt es ja bereits eine mehrfache Infrastrukturabdeckung, die aber im Anlassfall meistens nicht genutzt wird, außer man besorgt sich eine SIM-Karte eines anderen Betreibers.
  • Redundanzen, Reserven oder Diversität sind nur einzelne Aspekte, um Robustheit und Resilienz zu schaffen. Daher geht es nicht um die Optimierung von Einzelelementen, sondern um die des Gesamtsystems/der Funktionalität.
  • Die Wiederherstellung nach Ausfällen muss stärker in den Fokus rücken, nicht nur die Verhinderung von Ausfällen.
  • Dezentralität / zellulare Strukturen / Rückfall- oder Brandabschnittsebenen schaffen (technisch als auch organisatorisch) Voraussetzungen für robuste Systeme. Hier sollten wir von bewährten Systemen und Organisationen, etwa von den Feuerwehren oder dem vorbeugenden Brandschutz lernen.
  • Das derzeitige Systemdesign in vielen Infrastrukturbereichen (Zentralismus, Abhängigkeit von Leitzentralen, Master-Slave-Prinzip, usw.) aber auch auf organisatorischer Ebene stellt einen Single Point of Failure (SPOF) dar.

Verschiedene Meldungen und Berichte

Cyber/IT-Sicherheit

Situation im europäischen Stromversorgungssystem

Die angeführten Beispiele stammen rein aus öffentlich verfügbaren Quellen. Sie zeigen die aktuellen Herausforderungen auf und sollten uns an die Truthahn-Illusion erinnern.

Rund um das Thema ‚Blackout‘

Energiezellensystem

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