Das Buch „Was nun? Eine Philosophie der Krise“ von Konrad Paul Liessmann aus dem Zsolnay-Verlag bietet eine philosophische Auseinandersetzung mit der aktuellen Zeit.
Hier wieder einige Zitate aus dem Buch
Die Krise ist die Unterbrechung des Alltags, nicht dessen Fortsetzung mit anderen Mitteln. Die Krise ist kein Dauerzustand. Wer das Gefühl hat, ständig mit und in Krisen zu leben, hat im strengen Sinn keine Krise. Es lohnt sich also, etwas schärfer über den Begriff der Krise nachzudenken. Eine Krise ist eine plötzliche Veränderung, ein dramatischer Einschnitt, das Ende einer gewohnten Lebensform, ein Wendepunkt in einem Prozess, ohne dass klar würde, was nun kommen wird. Eine Krise, so legt es die Etymologie nahe, ist eine Phase, in der sich die Dinge scheiden. Die Krisis leitet sich von dem griechischen krínein ab, das so viel wie trennen oder unterscheiden bedeutet.
Eine Krise markiert eine dramatische Unterscheidung zwischen einem Davor und Danach.
In einer Krise bricht etwas zusammen, von dem man nicht wollte, dass es zusammenbricht.
Zu einer signifikanten Krisenerfahrung gehört deshalb eine momentane Rat- und Orientierungslosigkeit, die sich dramatisch auswirkt.
Sich passiv in das Unvermeidliche zu fügen und einfach zu warten, was geschieht, ist durchaus eine Möglichkeit, auf Krisenerfahrungen zu reagieren. Mitunter lassen sich dadurch manche Probleme besser lösen als durch hektischen Aktivismus oder undemokratische Anordnungen.
Folgt man diesen Überlegungen, wird deutlich, warum es nicht wirklich sinnvoll ist, von einer Klimakrise zu sprechen. Das mag überraschen. Abgesehen davon, dass das Klima an sich in keiner Krise sein kann, sondern die vom Klima betroffenen Menschen Probleme bekommen, bricht im Falle des Klimawandels nicht plötzlich ein funktionierendes System zusammen, das dann durch einige Interventionen rasch stabilisiert werden könnte. Die Rede von der Klimakrise weckt aber genau diese Erwartungen. Man müsse nur — wie bei der Stabilisierung von Finanz- oder Immobilienmärkten — rasch das Richtige tun, und alles kommt wieder ins rechte Lot. Das kann in Klimafragen weder die Politik noch der Bürger oder der Konsument leisten. Selbst wenn sich Klimaveränderungen beschleunigen, ist Plötzlichkeit kein Aspekt derselben. Ob es die berühmten Kipppunkte tatsächlich gibt, die ein Umschlagen klimatischer Bedingungen in irreversible, für uns Menschen höchst negative Prozesse darstellen, ist deshalb unter Klimawissenschaftlern durchaus umstritten. Aber sogar diese stellten keine Krise dar, sondern einen Point of no Return. Dass Klimaveränderungen lange ignoriert oder halbherzig wahrgenommen wurden, hängt wesentlich damit zusammen, dass es sich um keine abrupte Unterscheidung zwischen einem Davor und Danach handelt, sondern um sich allmählich beschleunigende Veränderungen.
Eine Krise ist (noch) keine Katastrophe. Das altgriechische katastrophé bezeichnet eine dramatische Wendung.
Das Tragische besteht dabei darin, dass es die Möglichkeiten richtigen Handelns nicht mehr gibt. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch stellen Katastrophen Unglücksfälle mit verheerenden Folgen dar, die Menschen punktuell und für einen begrenzten Zeitraum treffen.
Und auch dieser Begriff trifft auf den Klimawandel kaum, vielleicht überhaupt nicht zu. Nach allem, was wir wissen — und natürlich ist dieses Wissen wie alles Wissen vorläufig —, wird es die eine große globale Klimakatastrophe nicht geben. Sie ist ein Schreckbild, oft angereichert mit religiösen Bildern — wenn man etwa von der Klimaapokalypse oder dem Weltuntergang spricht —, das gezeichnet wird, um gegenwärtiges Handeln zu motivieren. Die Vorstellung, wir hätten nur mehr die Wahl zwischen Umkehr oder Untergang, entspricht dieser Katastrophenrhetorik, die, nun auch moralisch aufgeladen, alles zitiert, was im Gefolge solcher Prophezeiungen sich einzustellen pflegt: Die Schuldigen und Bösen werden namhaft gemacht und verurteilt (die Klimasünder, die Industrialisierung, der Globale Norden), die Aufforderung, Reue zu zeigen und Buße zu tun, folgt dem auf dem Fuß (Schuldeingeständnisse, Flugscham, das Versprechen, sein Leben zu ändern und sich in Askese zu üben: keine Urlaubsreisen nach Thailand!). Die Natur tritt als säkularisierter Gott auf, der im Jüngsten Klimagericht sein Urteil sprechen wird.
Diese Alles-oder-nichts-Rhetorik enthält eine große Gefahr: Sie verleitet dazu, sich entweder resignativ zu verhalten und einem Weiter-so zu frönen oder in ein panisches Handeln zu verfallen, das angesichts einer drohenden Katastrophe alle, auch undemokratische und gewaltsame Mittel für geboten hält, um diese aufzuhalten. Solche Überzeichnungen sind bedenklich, da sie sich auf eine imaginierte große Klimakatastrophe beziehen und dabei die Realität des Klimawandels aus den Augen verlieren. Denn dieser führt zunehmend zu vielen kleinen Katastrophen. Unwetter, Dürren und Hitzeperioden sind zwar nicht so spektakulär wie das Weltende, aber man kann diese Ereignisse lokalisieren und versuchen, ihnen auf mehreren Ebenen zu begegnen: Von langfristigen Vorhaben wie der CO2-Reduktion bis zum Bau von Dämmen und der Renaturierung von Flusslandschaften steht dafür eine breite Palette von Maßnahmen zur Verfügung. Entscheidend ist nicht ein einmaliges katastrophales Ereignis, der große Zusammenbruch, sondern die zahlreichen auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Formen stattfindenden Auswirkungen eines sich rapide wandelnden Klimas.
Der vermeintlich schwache und beschönigende Begriff des Klimawandels erweist sich bei genauerer Betrachtung als der realistische und damit eigentlich starke Terminus. Im Begriff des Wandels steckt eine Unerbittlichkeit, die ziemlich präzise beschreibt, was in Klimafragen auf uns zukommt. Selbst wenn es gelingen sollte, die CO2-Emissionen in den nächsten Jahrzehnten radikal zu senken, selbst wenn, was in den Sternen steht, die Energiewende in einem globalen Maßstab angesichts einer weiter wachsenden Erdbevölkerung durchgesetzt werden könnte, werden die Folgen der Industrialisierung für viele Generationen den Umgang mit Natur und Klima weiterhin bestimmen.
Aber Krisen, und auch dies ist ein unterschätzter Aspekt, zeitigen prinzipiell ein regressives Moment: Wir möchten oft zu dem Zustand zurückkehren, aus dem uns die Krise schmerzhaft gerissen hat. Krisenbewältigungsrhetorik ist deshalb fast notwendigerweise mit nostalgischen Rückblicken verbunden, mit der Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Welt vermeintlich noch in Ordnung war. Man achte einmal darauf, mit welch einer verklärenden Inbrunst Klimaaktivisten die Formulierung »vorindustrielles Zeitalter« verwenden: Der Spätfeudalismus, in dem neunzig Prozent der Menschen mühselig von einer kargen Landwirtschaft lebten und in jedem Winter Unzählige erfroren, wird zu einem Idealzustand erklärt, in dem bei allem Elend und aller Not das Allerwichtigste gestimmt hat: Der CO2-Gehalt war niedrig, und die Temperaturen lagen deutlich unter den heutigen Werten.
Was jetzt geschieht, ist die Rückkehr zu einer vergessenen Normalität, die von großen sozialen, ökonomischen und energietechnischen Unsicherheiten geprägt war. Und diese Normalität erleben wir paradoxerweise als Krise.
Krisen, wenn es welche sind, holen auch die Fiktionen und Illusionen einer Gesellschaft zurück auf den Boden der Realität. Dafür muss man allerdings den Blick schärfen.
Systeme gelangen nicht nur durch ihre immanente Widersprüchlichkeit in eine Krise, wie es die klassische Kapitalismustheorie marxistischer Provenienz vermeinte, sondern durch das Auftauchen neuer, bisher unbekannter oder vernachlässigter Faktoren.
Krise bedeutet, und damit schließt sich der Kreis, den Zusammenbruch einer etablierten Ordnung zu erfahren und nicht zu wissen, wie es im Moment weitergehen kann.
Der Satz, dass in jeder Krise eine Chance läge, stimmt zwar, er ist aber unpräzise formuliert. Eigentlich müsste es heißen: Die Krise der einen ist immer die Chance der anderen.
Falsch gewählt — Die Krise der parlamentarischen Demokratie
Bis zu einem Drittel einer Wählerschaft diese Legitimation abzusprechen und damit indirekt zu signalisieren, dass sie falsch, weil undemokratisch gewählt hätte und ihre Stimme deshalb keine Berücksichtigung finden darf, mag aus einer ehrlichen Besorgnis um das Wohl der Demokratie gespeist sein, vielleicht aber auch nur die Angst vor einem möglichen Machtverlust zum Ausdruck bringen — bei beiden Motiven steht ein Eckpfeiler der modernen Demokratie zur Disposition: das Parlament. Dessen Zusammensetzung verdankt sich einem einzigen Akt: einer Wahl. In einer Demokratie kann man aus diesem Grund nicht falsch wählen, man kann immer nur anders wählen. Dem Wähler die Wahl zu erleichtern, indem Parteien, die nicht erwünscht sind, verboten werden, sollte in einer Demokratie eine Ultima Ratio sein. Polemische, zugespitzte und fragwürdige Äußerungen einzelner Funktionäre geben dafür noch keine Grundlage ab.
Das Gespräch, die abwägende Besinnung, das deliberative Element gehören zum Wesen dieser Einrichtung, nicht der Streit, der Disput oder gar der physische Kampf. Im Parlament realisiert sich eine diskursive Vernunft, die sich als Verwalterin der allgemeinen Interessen und des Interesses des Allgemeinen versteht.
Perfektion zählt nicht zu den Eigenschaften der Demokratie. Das bedeutet nicht, solchen Defiziten gegenüber nachlässig zu werden, sondern im Gegenteil, das kritische Sensorium für diese zu schärfen.
Auch wenn es dafür Indizien geben mag— es tut einer Demokratie prinzipiell nicht gut, dem Bürger zu suggerieren, dass man seinen Wahlentscheidungen nicht trauen darf und er deshalb nur alle paar Jahre, und wenn, dann am besten unter Aufsicht und ideologischer Betreuung an die Urne darf.
Was spricht dagegen, zwischen gleichermaßen als förderungswürdig beurteilten Anträgen, von denen nicht alle bewilligt werden können, das Los entscheiden zu lassen? Das entschärft Gerüchte über Machenschaften und erspart es hervorragenden Wissenschaftlern, über dunkle Motive der Ablehnung nachdenken zu müssen. Bei der Besetzung von Spitzenposten in der Wirtschaft könnte ähnlich vorgegangen werden. Nach einer strengen Vorauswahl zwischen Gleichqualifizierten das Los entscheiden zu lassen, brächte in der Sache keinen Verlust, erhöhte aber das Vertrauen in ein Verfahren, das eben nicht mehr vom Verdacht unlauterer Absprachen und unsachlich motivierter Bevorzugungen umgeben wäre. Und zum Teil zumindest erledigten sich die Fragen nach den richtigen Quoten damit von selbst: Der Zufall kennt weder Geschlechter noch Hautfarben oder Religionen.
Wer seine verantwortungsvolle Funktion in einem gewissen Maß dem Zufall verdankt, kommt erst gar nicht auf die Idee, sich für so viel besser, schöner, klüger und moralischer zu halten als alle anderen.
Die eigentliche Herausforderung der Toleranz besteht nicht darin, sich zu ihr zu bekennen, sondern darin, ihre Grenzen zu benennen.
Dass, zumindest in Deutschland und Österreich, als vorrangiges Ziel politischen Handelns der Kampf gegen die rechtspopulistische Opposition ausgegeben wird, mag einer echten Besorgnis geschuldet sein — auch wenn diese eine vermeintliche Gefahr einigermaßen überzeichnet. Ebenso deutlich verrät diese medial hochgepuschte Abwehrhaltung, dass man selbst wenig will, nichts begehrt, keine Ziele benennen kann — außer an einer Macht zu bleiben, zu der man sich kaum offen bekennt.
Der Machtrausch ist keine Verzerrung der Macht, er gehört zu ihrem Wesen.
Allzu oft dienten die himmlischen Götter dazu, ziemlich irdische Machtansprüche zu rechtfertigen.
Die Hilflosigkeit, die Regierungen allenthalben ausstrahlen, die Kleinlichkeit, mit der gefeilscht wird, die Unverfrorenheit, mit der lächerliche Pfründen verteidigt werden, zeugen nicht gerade von wirklicher Verfügungsgewalt und Durchsetzungskraft.
Eines ist — sollte Nietzsche nicht ganz falschliegen — in das Reich der Fabeln zu verweisen: die Vorstellung, es gäbe symmetrische, also machtfreie Beziehungen zwischen den Menschen. Was es gibt, sind unterschiedliche Machtgeflechte, vertrackte Verhältnisse, in denen nur selten die Rollen ganz klar verteilt sind. Unsere Sehnsucht, Mächtige und Ohnmächtige, Täter und Opfer klar unterscheiden und benennen zu können, ist verständlich. Und wenn die Weltgeschichte oder die privaten Verhältnisse uns eine Chance dazu einräumen, greifen wir dankbar zu. Wenn es ein wenig komplizierter wird, wirken solch eindeutige Zuschreibungen schnell ideologisch motiviert oder interessengeleitet. Wo immer es um emotionale und materielle Abhängigkeiten, wo immer es um Ansprüche und Formen der moralischen Nötigung geht, geht es auch um Macht.
Die Krise der Wissenschaft im Zeitalter des Aktionismus
Allen, die diesem Ruf nicht bereitwillig folgen wollten, konnte man Ignoranz, Wissenschaftsskepsis, Anfälligkeit für Verschwörungstheorien oder Schlimmeres vorwerfen. Aus den eindeutigen wissenschaftlichen Befunden scheint klar hervorzugehen, was getan werden muss, nur die verstockte Politik und die renitenten Bürger haben die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt. An dieser vermeintlich plausiblen Argumentation ist einiges höchst fragwürdig. Allein die Annahme, es gäbe »die« Wissenschaft, ist irrig. Abgesehen von den methodischen und atmosphärischen Welten, die Geistes- und Naturwissenschaften trennen, ist die neuzeitliche Wissenschaft durch Kontroversen, nicht durch Uniformität gekennzeichnet. Einander widersprechende Hypothesen und Theorien erzeugen eine Dynamik, die wohl gut bestätigte von eher unseriösen Konzepten unterscheiden lässt, aber keine Gewissheit geben kann. Die Überlegung, dass jenen Erkenntnissen am ehesten zu trauen ist, zu denen sich eine Mehrheit der Forscher bekennt, hat einiges für sich und ist in der Wissenschaftsphilosophie als »Konsenstheorie der Wahrheit« bekannt geworden: Wahr ist, worauf sich — wenn nicht alle — dann doch die meisten ausgewiesenen Vertreter eines Faches einigen können. Gegen diese Argumentation spricht nicht viel — außer die historische Erfahrung. Sie zeigt, dass gerade bahnbrechende Entdeckungen und innovative Ideen selten in den Zentren des etablierten Wissenschaftsbetriebs entstanden. Dieser ist seiner Struktur nach beharrend und fördert den Konformismus. Es waren und sind oft die marginalisierten, mitunter verhöhnten Außenseiter, die keine Angst vor originellen und disruptiven Ansätzen haben und so dem Neuen auf der Spur sind. Entscheidend für den Fortschritt in den Wissenschaften ist eine fruchtbare Spannung zwischen konvergenten und divergenten Positionen, zwischen Affirmation und Dissens. Keine Wissenschaft spricht mit einer Stimme.
Die aktuelle akademische Praxis, die wissenschaftliche Qualität vorrangig an den Publikationen in Mainstream-Journals misst, läuft nach Ansicht kritischer Beobachter Gefahr, Mittelmaß und Konformismus zu befördern. Das Gleiche gilt für eine Projektförderungspolitik, die bei Einreichung eines Antrags schon verbindliche Auskunft über die zu erwartenden Ergebnisse einfordert.
Wenn gilt: Wer meine Theorie angreift, greift mich an, ist die Freiheit der Wissenschaft an ein Ende gekommen.
Die Logik des politischen Aktivismus ist der Logik der Wissenschaften diametral entgegengesetzt.
Wissenschaft beschreibt, erklärt, experimentiert, formuliert Hypothesen, entwirft Theorien und entwickelt Modelle, die unterschiedliche Szenarien antizipieren. Was dann getan, wie im Ernstfall gehandelt werden soll, ist keine Frage der Wissenschaft mehr, sondern eine politische Entscheidung.
Dem Aktivismus geht es deshalb nicht um Wissenschaft, sondern um deren Instrumentalisierung.
Wissenschaft lebt vom Diskurs, Aktivismus zerstört jeden Diskurs. Wissenschaft gründet im Wissen, dass der Irrtum immer möglich ist, Aktivismus in der Gewissheit, im Besitz der Wahrheit zu sein.
Im Notstand bleibt keine Zeit für Reflexion. Das mag für junge Weltretter eine sinnerfüllte Maxime sein. Für die Wissenschaft und ihre Freiheit ist es ein Desaster.
Der befleckte Geist — Cancel Culture und die Krise der Sprache
Es ist unübersehbar: Seit geraumer Zeit wird aufgeräumt und saubergemacht. Schmutzige Gedanken und Worte werden geächtet, unliebsame Autoren und Wissenschaftler gemobbt, Redner werden am Sprechen gehindert, Denkmäler wie das von Christoph Kolumbus in Chicago werden gestürzt, die Spielpläne von Theater- und Opernhäusern von vermeintlich rassistischen und sexistischen Stücken befreit, die Literatur vergangener Tage wird nach den moralischen Maßstäben der Gegenwart korrigiert und umgeschrieben. Und lebenden Autoren werden von immer mehr Verlagen Sensitivity Reader zur Seite gestellt, die dafür sorgen, dass kein falsches Wort das Manuskript verunreinigt.
Was in kleinen akademischen Zirkeln als moralisch gut und politisch korrekt gilt, wird zu einem Maßstab verallgemeinert, der keinen Widerspruch, keine Einwände duldet. Die Befindlichkeit und subjektive Betroffenheit von Menschen, die sich diskriminiert fühlen, bestimmen über Verlagsprogramme und die Ausrichtung der Feuilletons, über die Karrieren von Wissenschaftlern und Übersetzern, über den musikalischen und literarischen Kanon, über Straßennamen und Denkmäler im öffentlichen Raum.
Umso erstaunlicher ist es, dass es nun neue Zensurbestrebungen gibt, die nicht von politischen oder religiösen Institutionen ausgehen, sondern aus dem Innersten der Kultur, der Kunst und des Wissenschaftsbetriebs kommen. Es ist paradox, dass diejenigen, deren Arbeitsgrundlage die Freiheit ist, Gefallen daran finden, sich dieser Freiheit selbst zu berauben.
Deplatforming nennt sich diese Variante der Cancel Culture: Wer einem nicht passt, dem darf keine Plattform geboten werden.
Es geht um die Deutungshoheit über Geschichte und Gegenwart. Der Anspruch auf ideologische Reinheit wird dabei dogmatisch durchgesetzt: Die eigene Wahrheit duldet keine anderen Götter neben sich.
Einem gebildeten Publikum sollten irritierende Dokumente vorenthalten werden, so, als müssten mündige Leser wie Kinder vor unanständigen Dingen geschützt werden. Solche aus dem Geist einer falschen Besorgnis getätigten Eingriffe in Textbestände gehören inzwischen immer häufiger zur Praxis von wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen, die ihrem Selbstverständnis nach eigentlich alles daransetzen sollten, solche Entstellungen zu verhindern.
Tatsächlich geht es bei all diesen Bemühungen, Theorien oder Kunstwerke zu exkommunizieren, weder um Gerechtigkeit noch um den Ausweis bisher unbemerkter Ungeheuerlichkeiten, sondern um die Artikulation und Durchsetzung von Machtansprüchen.
Cancel Culture lebt von einer Gewissheit, die keine Begründungen mehr suchen muss.
Der Schrei des bösen Gewissens — Die Krise der Meinungsfreiheit
Die Zensurbehörden des 19. Jahrhunderts und ihre Beamten waren durch die Schule der Aufklärung gegangen. Sie schätzten die Freiheit des Denkens als ein hohes Gut, verlangten aber, dass damit verantwortungsvoll umgegangen werde. Kommt uns das nicht bekannt vor? So heißt es in dieser Zensurinstruktion: »Beleidigende Äußerungen und ehrenkränkende Urteile über einzelne Personen sind nicht zum Druck geeignet.« Marx merkt dazu zynisch an, dass da wohl eine »objektive Bestimmung« dieses Delikts fehle. 1 Zählt nur die subjektive Befindlichkeit, sind willkürlichen Interpretationen Tür und Tor geöffnet. Die aktuellen Verschärfungen im deutschen Strafrecht, die Politiker unter besonderen Schutz stellen und harmlose Schmähungen mit drakonischen Strafen belegen, unterstreichen dies auf erschreckende Art und Weise. Dass sich für dieses Gesetz im Volksmund der Begriff »Majestätsbeleidigungsparagraph« eingebürgert hat, zeigt ein waches Sensorium dafür, dass in der verantwortlichen Regierung eher ein autoritär-absolutistisches denn ein liberales Denken vorherrschte. Des Weiteren sollten durch diese Richtlinien schädliche und missliebige politische Gesinnungen eingedämmt werden.
Diese »Zensur der Tendenz« entlarvt Marx als die »Tendenz der Zensur«. Das erinnert an die vom Digital Services Act der EU legitimierten »Trusted Flaggers« (vertrauenswürdige Hinweisgeber), die gefährliche Inhalte im Netz schon in ihren Ansätzen erkennen und melden sollen, um deren Bekämpfung zu ermöglichen.
Die preußische Zensurinstruktion erlaubte zudem — als wäre sie dieser Tage formuliert worden —, die publizistische Unterstützung verfassungs- und religionsfeindlicher Umtriebe zu verbieten.
Natürlich wollte die preußische Zensur dabei keine »ernsthafte Untersuchung der Wahrheit« behindern— das erinnert an unsere Faktenchecker, die angeblich solcher Ernsthaftigkeit verpflichtet sind und streng über die Form wachen, die Nachrichten annehmen dürfen.
Wenn Marx sich darüber mokiert, dass Kritik an der Regierung zwar erlaubt sei, diese aber nicht »gehässig und böswillig« sein dürfe, fühlt man sich ganz in der Gegenwart angekommen.
Marx: »Gesetze, die nicht die Handlung als solche, sondern die Gesinnung des Handelnden zu ihrem Hauptkriterium machen, sind nichts als positive Sanktionen der Gesetzlosigkeit.«
Gesinnungsgesetze, so Marx mit außergewöhnlicher Schärfe, sind keine Gesetze des Staates für Staatsbürger, sondern Gesetze einer Partei gegen eine andere Partei, unterliegen also einem politischen Machtspiel.
Ach, hätten diejenigen, die solche Gesetze nun für den Kampf gegen rechts fordern oder schon durchgesetzt haben, doch ihren linken Marx gelesen. Sie wüssten, dass — dreht sich der politische Wind, wie zurzeit in den USA — dieselben Gesetze auch gegen sie angewandt werden können. Darüber aber sollte man dann nicht jammern.
»Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen.«
Aber, so wird man dem entgegenhalten, es gibt zweifellos Meinungen und Gedanken, die falsch, böse und gefährlich sind und großen Schaden anrichten können. Und davor muss man die Menschen schützen, denn diese haben ein Recht auf einen Kommunikationsraum, in dem Respekt und Faktentreue die obersten Kriterien sind. Haben sie dieses Recht wirklich? Oder wird ihnen dadurch ein entscheidendes Recht vorenthalten?
Philosoph John Stuart Mill. Man kann und darf zu allem eine Meinung haben und äußern, ob diese mit Fakten, dem Common Sense, einem Mainstream oder einer dominanten Ideologie übereinstimmt, ist für das Recht auf freie Meinungsäußerung ohne jeden Belang. In einer liberalen Gesellschaft dürfte es deshalb generell keine Meinungs- oder Gesinnungsdelikte geben. Und schon gar nicht darf der Staat vorschreiben, wie seine Bürger zu denken oder seine Wissenschaftler zu forschen haben. Die Mode, dass mittlerweile Politik oder Justiz darüber befinden, wie historische Ereignisse zu klassifizieren und zu beurteilen sind, ist ein Unding.
Das »Verbotsgesetz« jedoch auf andere missliebige oder gefährliche Ideologien auszudehnen, nimmt ihm nicht nur seine Schärfe und Legitimation, sondern führt in eine schwierige tagespolitische Debatte darüber, wo denn die Grenzen zwischen dem Sagbaren und dem Nichtsagbaren zu ziehen sind.
Gerade wer von der Richtigkeit seiner eigenen Auffassung überzeugt ist, müsste doch ein Interesse daran haben, diese durch eine Auseinandersetzung mit gegenteiligen Positionen zu stärken. Die heute gerne geübte Diskursverweigerung ließe sich so als Eingeständnis der eigenen Schwäche interpretieren.
Wer sich einer Debatte verweigert, weil er glaubt, die Wahrheit ohnehin zu kennen, beansprucht für sich eine ziemlich erhabene Position: Jede Unterdrückung einer offenen Diskussion ist eine »Anmaßung« von »Unfehlbarkeit«.
Alle Argumente der Gegenwart, die Einschränkungen, Kontrollen, Meldesysteme und Verbote mit dem Hinweis fordern, dass wir ansonsten den Algorithmen und Manipulationen der Social-Media-Plattformen hilflos ausgeliefert wären, sprechen den Menschen prinzipiell ihre Mündigkeit in Meinungsfragen ab. Wir werden behandelt wie Kinder. Was uns als Kampf gegen demokratiegefährdende Ideologien verkauft wird, ist ein Programm der Gegenaufklärung, die Rückführung des Menschen in eine selbstverschuldete Unmündigkeit.
Wenn Menschen in ihrer persönlichen Integrität angegriffen, wenn sie an der Entfaltung ihrer Lebensmöglichkeiten gehindert werden, wenn zur Gewalt aufgerufen oder diese ausgeübt wird, gerät die Freiheit an eine Grenze. Aber eben erst dann. Und vor allem: Worte sind keine Taten. Meinungen sind keine Handlungen. Gesinnungen sind keine Aktionen. Um es auf den Punkt zu bringen: Darf man der Auffassung sein, dass ein Kalifat für Deutschland und seine Muslime besser wäre als ein demokratischer Rechtsstaat? Selbstverständlich! Darf man dafür demonstrieren? Jederzeit! Darf man eine Organisation gründen, die mit Gewalt diese Ansicht durchsetzen will? Nein! Darf man der Auffassung sein, dass ethnisch homogene Gesellschaften besser funktionieren als multikulturelle und dies in der Öffentlichkeit äußern? Selbstverständlich! Darf man dafür demonstrieren? Jederzeit! Darf man eine Organisation gründen, die mit Gewalt diese Ansicht durchsetzen will? Nein!
Darf man der Auffassung sein, dass die Demokratie mit dem Klimawandel überfordert ist und das Schicksal der Erde wichtiger ist als der Rechtsstaat? Selbstverständlich! Darf man dafür demonstrieren? Jederzeit! Darf man eine Organisation gründen, die mit Gewalt diese Ansicht durchsetzen will? Nein!
Sollen wir das Risiko der bösen Freiheit auf uns nehmen, oder versuchen, um des Guten willen die Freiheit einzuschränken?
Nur im Rad materialisiert sich jene Vorbildlosigkeit, die dem Fahren als spezifisch menschliche Tätigkeit zu konzedieren ist.
Das Rad und mit ihm das Fahren zählen zu jenen Technologien, die nicht einfach als Organfortsetzung oder Organverbesserung, sondern als neue Qualität gedeutet werden müssen.
Von Gottlieb Daimler, der den ersten vierrädrigen Wagen mit Verbrennungsmotor entwickelte, wird erzählt, dass er dieser Erfindung kaum Erfolgsaussichten zubilligte: »Die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten— allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren.« Auf die Idee, dass sich nahezu jeder Mensch bereitwillig zu seinem eigenen Chauffeur degradieren und dies auch noch als Ausdruck von Autonomie, Souveränität und Freiheit erleben würde, ist Daimler nicht gekommen.
Die Straße wird bei allem Fahren als eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, die sich wahrlich nicht von selbst versteht. In den idyllischen Verklärungen unendlicher Fahrten durch unendliche Landschaften erscheint die Straße wie ein Stück Natur. Dies ist sie aber mitnichten. Straßen bauen sich nicht von allein. Das Anlegen von befestigten und gesicherten Wegen setzt eine entwickelte, arbeitsteilige Gesellschaft voraus, die geologische Kenntnisse mit Materialbeherrschung, handwerklichen Fähigkeiten und politischem Weitblick verbindet. Straßen sind Orte der Begegnung und des Konflikts, Signale territorialer Ansprüche und Ausdruck zunehmender Mobilität, mit allen ökonomischen, sozialen und militärischen Konsequenzen. Es gibt die Heerstraßen, die vor allem dem raschen Transport und dem Vorankommen
Die Qualität und Dichte eines Straßennetzes gilt Historikern deshalb auch als zuverlässiger Indikator für den Entwicklungsstand einer Zivilisation, der Verfall eines solchen als deutliches Zeichen für einen Niedergang. Paradigmatisch dafür sei an das umfangreiche Straßennetz erinnert, das die Römer quer durch ihr Imperium angelegt hatten und dessen technischer Standard bis heute Bewunderung und Respekt hervorruft.
Manche Wirtschaftsforscher warnen deshalb vor einem »Deskilling«, das das alte Mantra, dass die Arbeitsmärkte der Zukunft anspruchsvollere Qualifikationen erfordern, in sein Gegenteil verkehren könnte: Menschliches Wissen und menschliche Fähigkeiten werden immer seltener gebraucht, der Mensch verliert allmählich entscheidende kognitive Kompetenzen, da er diese nicht mehr einsetzen und üben muss. Eine KI, die auch komplexe Programme schreiben kann, ersetzt Dutzende gut ausgebildeter Programmierer. Aus einem einstigen Zukunftsberuf wird ein Ladenhüter.
Form gewordene Verantwortungslosigkeit — Die Krise der Kunst im Zeitalter der Hypermoral
Mit großem Enthusiasmus nehmen Künstler und Intellektuelle an jener Veranstaltung teil, die der Philosoph Philipp Hübl »Moralspektakel« nennt: die Inszenierung der eigenen moralischen Überlegenheit als Statussymbol. Man spricht deshalb immer weniger über Ästhetik, aber sehr viel über die Position, die ein Autor oder Musiker vertritt, über seine politischen Bekenntnisse, seinen identitätspolitischen Hintergrund und über die Zeichen, die er durch seine Aktionen setzt. Und damit es hier zu keinen Fehlleistungen kommt, sorgen sogenannte Sensitivity Reader dafür, dass alles im politisch korrekten Rahmen bleibt. Früher nannte man das Zensur. Nur dass man sich dieser freiwillig unterwirft und dafür auch noch feiern lässt, ist neu.
Wer die Wahrheit kennt und weiß, wer die Guten sind, braucht sich um vertrackte Verhältnisse, komplizierte Konfliktlagen und ambivalente Einschätzungen nicht mehr zu kümmern. Die Aufteilung der Welt in Täter und Opfer in der Kunst der Gegenwart entspricht der in Heilige und Sünder, wie sie sich durch die christliche Ikonographie zog. Wo das Gute so eindeutig und das Wahre so klar ist, endet alle Kunst in Propaganda.
Dass wir im alltäglichen Verkehr und in der gesellschaftlichen Kommunikation eine rücksichtsvolle Sprache pflegen sollten, ist das eine. Zu fordern, dass sich nun auch alle Romanfiguren der Vergangenheit und Gegenwart denselben Normen zu unterwerfen hätten, ist Unsinn. Das degradiert die Kunst zu einem Anhängsel politischer Interessen und beraubt sie dadurch ihrer eigentlichen Aufgabe.
Widerstand ist keine Kunst — Antigone und die Krise der Auflehnung
»Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.« Dass diese Formulierung des Widerstandsrechts auf Papst Leo XIII. zurückgeht, wird gerne verschwiegen, lieber nennt man Bertolt Brecht als Urheber dieser griffigen Parole.
Fraglich ist jedoch, ob jede Form des Aufstands und der Rebellion gegen ein als unrechtmäßig oder überholt empfundenes Regime als Widerstand bezeichnet werden sollte. Revolutionen, Revolten und Rebellionen drücken eine politische Dynamik aus, die mit dem Begriff des Widerstands nur unzureichend erfasst werden kann.
Der Nimbus, der den Widerstand umgibt, ist nicht unabhängig davon, gegen wen und gegen welche Zustände Widerstand geleistet und moralisch legitimiert werden muss. Nicht jeder Putschversuch oder politisch motivierte Terroranschlag kann als Widerstand gewertet werden. Auch wenn es aus der Innenperspektive von Aktivisten immer so aussieht, dass sie gegen ungerechte und inhumane Verhältnisse aufbegehren und deshalb das Widerstandsrecht für sich beanspruchen, muss doch zwischen den politischen Ordnungen unterschieden werden, innerhalb derer der Widerstand gesetzt wird. Zum Selbstverständnis rechtsstaatlich verfasster Demokratien gehört, dass es für die Artikulation von Kritik und die Durchsetzung politischer Vorstellungen genug legale Mittel gibt, die ein Widerstandsrecht obsolet erscheinen lassen. Zivilgesellschaftliche Akteure, die dennoch mit dem Bruch der Legalität kokettieren, müssen deshalb auch demokratischen Staaten autoritäre Tendenzen, einen verborgenen Faschismus oder systemische Gewaltverhältnisse unterstellen, um ihren Widerstand moralisch zu nobilitieren.
Die Moral der Antigone, die auf ein höheres, transzendentes Prinzip verweisen kann, steht quer zur säkularen Moral der Gesellschaft und gerät zu dieser in einen unauflöslichen Widerspruch. Dieser Konflikt wird— bis heute— immer dann aufbrechen, wenn religiöse oder quasireligiöse Haltungen gegen die brüchige und auf gesellschaftlichen Konsens angewiesene Rechtsordnung eines Staates stehen, der nie den Prinzipien einer reinen, noch dazu transzendent begründeten Moral wird folgen können. Oder, um mit Hegel zu sprechen: Es stehen sich in diesem tragischen Konflikt zwei Konzepte von Sittlichkeit gegenüber: das »göttliche« und das »menschliche« Gesetz.
Im antiken Menschenbild gibt es weniger den an sich bösen Menschen, wohl aber den Menschen, der sich in Maßlosigkeit verirrt und damit alles ins Negative wendet. Vielleicht sollte man diese Einsicht reaktivieren.
Antigone ist nicht frei von ähnlichem Starrsinn. Das Gemeinwohl kümmert sie wenig, sie verfolgt ein individuelles Programm, das sich gleichzeitig eingebettet weiß in eine vermeintlich höhere Ordnung.
In geordneten, rechtsstaatlich garantierten und demokratisch organisierten Gesellschaften sollte man mit dem Begriff des Widerstands prinzipiell vorsichtig umgehen. Geschützt vom Gesetz und unterstützt von der Gesinnungsgemeinschaft in den sozialen Medien ist es nicht besonders mutig, sich in der einen oder anderen Frage eine abweichende Position zu erlauben.
Human wäre es, sich zu diesem Wissen des Nichtwissens — um endlich Sokrates zu zitieren — zu bekennen und jene Angemessenheit walten zu lassen, die Kreon vermissen ließ, aber auch jene Frage zuzulassen, die sich Antigone nicht gestattete: ob das für mich Richtige selbst dann durchgesetzt werden muss, wenn es nicht nur mein Verderben, sondern das anderer Menschen bedeutet, ob das für mich Richtige wegen seiner subjektiven Überzeugungskraft alle Ansprüche einer Gemeinschaft außer Kraft setzt.
Hass und Hetze — Die Krise der großen Gefühle
Bis auf den hasserfüllten Blick kennt zumindest die Alltagspsychologie keine verlässlichen physiologischen Anzeichen für dieses fundamentale Gefühl.
Aber es gibt eben Ausnahmen, die jeder unter dem Vorwand, dass besondere Verhältnisse vorliegen, für sich beanspruchen möchte. Der Satz »Ich hasse Russen«, vor allem, würde er von einem Ukrainer geäußert, dürfte auf großes Verständnis stoßen.
Der Verdacht, dass die Anwendung der Formel »Hass und Hetze« politischen Opportunitäten unterliegt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Unschärfe dieser klingenden Alliteration macht sie höchst attraktiv für alle Versuche, die öffentlichen Diskurse zu reglementieren und einzuschränken, ohne sich dem Vorwurf, die Meinungsfreiheit zu beschneiden, aussetzen zu müssen. Geht es doch um negative und verabscheuungswürdige Emotionen, die zu aggressivem Verhalten führen können und gegen deren Unterdrückung niemand etwas haben kann. Da es keine verbindlichen Kriterien dafür gibt, welche Äußerungsformen Ausdruck von Hass sind und wann jemand zu strafrechtlich relevanten Taten aufgehetzt wird, ist nicht nur der Interpretation, sondern damit auch der politischen Willkür Tür und Tor geöffnet. Nicht die Taten, sondern die Gefühle bestrafen zu wollen, die man oft höchst spekulativ für diese Taten verantwortlich macht, stellt den Rechtsstaat auf eine harte Probe. Deshalb
Denn es ist der Hass der anderen, der uns irritiert, erschüttert, verzweifeln lässt. Der eigene Hass ist davon ausgenommen. Dieser ist gerechtfertigt, ist eigentlich gar kein Hass, sondern ein Aufschrei, ein Protest, eine kleine Provokation, eine notwendige Empörung, ein Diskussionsanstoß. So feinfühlig wir mittlerweile auf alle Anzeichen des Hasses in sozialen Medien reagieren, so erfinderisch sind wir im Kalmieren der eigenen negativen Gefühle. Fertig sind wir nur mit dem Hass der anderen, mit dem eigenen Hass haben wir meistens noch gar nicht angefangen. Und wenn, dann sind wir so klug, zwischen einem guten und schlechten, einem befreienden und einem verwerflichen, einem widerständigen und einem affirmativen Hass zu unterscheiden. Der moralisch legitimierte Hass, der sich gegen das Patriarchat, den Kolonialismus, die Polizei und die AfD richtet, ist kein wirklicher Hass mehr, sondern ein Akt der Notwehr.
Es gibt keine an sich guten oder schlechten Gefühle, Affekte kennen keine Moral, sie werden erst im Nachhinein einer Moral unterworfen oder von dieser in Dienst genommen.
Das Vergnügen am Hassen befällt selbst die Moral und lässt von der Tugend »nichts anderes übrig als den Ungeist der Kritiksucht und eine engstirnige, eifersüchtige und inquisitorische Wachsamkeit für das Tun und die Beweggründe der anderen«. Es fällt schwer, hier nicht an die Exzesse der Cancel Culture zu denken, die sich ja einer Wachsamkeit rühmt, die längst, zumindest in den sozialen Medien, in bornierte inquisitorische Kampagnen umgeschlagen ist.
Dies geht bis zum Selbsthass ganzer Generationen und Kulturen, die ihr letztes Vergnügen darin finden, sich für eine Vergangenheit, die sie gar nicht erlebt haben, zu schämen und zu geißeln.
Nicht der Hass ist böse, ein Laster, Anzeichen eines schlechten Charakters oder einer defizitären Persönlichkeit, der Hass ist auch nicht Ausdruck unserer Lust am Bösen, sondern das Objekt des Hasses wird zu einem Bösen erklärt, das die Entstehung und Artikulation dieses so heftigen wie negativen Gefühls legitimiert. Böse ist nur der Hass der anderen, der eigene Hass ist gut, denn er richtet sich gegen das Böse.
Als Hassende nehmen wir jedoch das Recht in Anspruch, das von uns als böse Erkannte in die Schranken zu weisen, zu verfolgen, zum Schweigen zu bringen und, wenn es gar nicht anders geht, zu vernichten. Der Hass richtet sich dann gegen falsche Meinungen, irrende Ideologien, sinistre Personen und Objekte, die wir für den desolaten Zustand der Welt und ihres Klimas mitverantwortlich machen. Das Fatale am Hass besteht darin, dass unsere Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, mit ihm untrennbar verbunden ist.
Den Hass zu neutralisieren wird nur gelingen, wenn uns klar wird, wie tief wir in dieses Gefühl gerade dann verstrickt sind, wenn wir uns frei davon wähnen.
In frommer Erwartung — Die Krise der Hoffnung im Angesicht der Apokalypse
Hoffen bedeutet, daran zu glauben, dass das Unwahrscheinliche gegen alle empirischen und vernünftigen Gründe dennoch eintreten könnte. Oder umgekehrt: Wie oft hoffen wir, dass Ereignisse, die allen Beobachtungen und Berechnungen nach wahrscheinlich eintreten werden, dann doch ausbleiben.
Zu hoffen bedeutet hingegen, dass wir nicht wissen, wie es weitergehen soll. Hoffnung ist ein Krisensymptom. Wir hoffen auf einen Ausweg, obwohl sich keiner zeigt. Wir hoffen auf die Tatkraft anderer Menschen, auf den Zufall, auf einen Gott, der uns retten möge.
Wer in Bezug auf den Klimawandel seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, dass dank des Erfindungsreichtums und der Anpassungsfähigkeit des Menschen sich alles zum Guten wenden werde, sieht sich rascher ins Lager der Klimaleugner verstoßen, als ihm lieb sein kann.
Václav Havel: »Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.«
Das macht die Hoffnung zwar stark, aber auch gefährlich — wenn der Sinn zur Ideologie wird, dem die Wirklichkeit geopfert wird.
Menschen Hoffnungen zu machen, ist ein höchst riskantes Spiel: Wir können dafür zur Rechenschaft gezogen werden, wenn wir diese Hoffnungen nicht erfüllen.
Wir können nur hoffen, bei all unseren Hoffnungen dieser Anmaßung, dieser Überschätzung, dieser Überheblichkeit zu entgehen. Aber auch diese Hoffnung hofft auf das Unwahrscheinliche.
Nichts zu lachen — Die Krise des Humors
Das Christentum wird mit Recht als die einzige Religion bezeichnet, in deren Zentrum das Leid steht, der geschundene Mensch, der gekreuzigte Gott, der tote Gott.
