Letzte Aktualisierung am 08. März 2021.

08.03.21: Chronik einer dramatischen Notfalleinsatzes – Der Mann, der Deutschlands Stromnetz rettete 

Quelle: spiegel.de

Spekulanten bedrohten am 12. Juni 2019 mehrere Stunden lang die deutsche Stromversorgung. Ein junger Ingenieur konnte das System mit großer Not stabil halten. Wie hat er das geschafft?

Bei Amprion ertönt der Gong, wenn die Frequenz um nur 50 Millihertz vom Soll abweicht, also 49,95 oder 50,05 statt 50 Hertz beträgt.

Um das Netz stabil zu halten, müssen Angebot und Nachfrage ausbalanciert werden. Aber das ist kompliziert, wenn auf der einen Seite rund 42 Millionen Haushalte, 45 000 Industriebetriebe und 3,5 Millionen kleine und mittelständische Unternehmen Strom aus dem Netz ziehen und auf der anderen Seite immer mehr Strom von Windkrafträdern und Photovoltaikanlagen produziert wird.

Gegen neun Uhr fehlen plötzlich 2000 Megawatt, die Leistung von zwei Atomkraftwerken. Ein Kollege teilte Born zum Schichtbeginn mit, »dass der Regelbedarf in der Nacht sehr volatil gewesen« sei, weil die Wetterprognosen ungenauer waren als sonst. Die Ursache: ein Tief über Norddeutschland verbunden mit Gewittern. Es war in der Nacht nicht einfach gewesen, das Netz im Gleichgewicht zu halten. Automatische Sicherungen hatten sich aktiviert, die Ingenieure hatten zusätzliche Energie aus Speichern, aus Kraftwerken ins Netz drücken müssen, um die Balance zu halten. Aber noch war alles Routine.

Gegen neun Uhr gerät das deutsche Stromnetz zum ersten Mal und für kurze Zeit in eine Schieflage. Plötzlich fehlen 2000 Megawatt, die Leistung von knapp zwei Atomkraftwerken. Wie vorgesehen reagieren Computer automatisch. Pumpspeicher- und Gastturbinenkraftwerke werden hochgefahren, sie stellen die Balance innerhalb weniger Minuten wieder her.

Born ist irritiert, aber nicht besorgt. Er vermutet, dass der Stundenwechsel für das Ungleichgewicht gesorgt hat. Zur vollen Stunde fahren manche Kraftwerke hoch, andere runter, nach Fahrplänen, die täglich verschickt und nötigenfalls viertelstundenweise aktualisiert werden. So kommt es regelmäßig zu kurzen, aber deutlichen Schwankungen im Netz, wenn einige Kraftwerke ihre Leistung bereits reduziert haben, andere aber noch nicht ganz hochgefahren sind.

Üblicherweise verschwinden solche Schwankungen wenige Minuten nach dem Stundenwechsel. Am 12. Juni aber geschieht das nicht. Auch um 9.30 Uhr und in der folgenden Viertelstunde fehlen immer noch 1556 Megawatt, die weiterhin von schnell reagierenden Kraftwerken ins Stromnetz gespeist werden.

Große Energieverbraucher, Aluminiumhütten etwa, können aus dem Netz geworfen werden, ohne Vorwarnung, aber unter zuvor ausgehandelten Bedingungen. Der Vorteil dieser Maßnahme: Sie entlastet das Netz schnell und spürbar. Der Nachteil: Born darf jede Anlage nur einmal am Tag vom Netz trennen und höchstens für eine Stunde. Die Lastabschaltung ist so etwas wie der Joker der Ingenieure. Unter anderem trifft es Produktionslinien der Trimet-Aluhütte in Nordrhein-Westfalen, die allein rund ein Prozent des Stroms aus dem deutschen Netz ziehen. Um 10.16 Uhr blinkt es rot auf dem Störmonitor einer Leitwarte der Hütte. Acht weitere Male werden an diesem Mittwoch Störmonitore in unterschiedlichen Werken Eingriffe von Amprion in den Produktionsprozess melden. Das Beunruhigende für Born: Es ändert nichts. Das Stromnetz steht weiter schief, die Frequenz liegt unter 50 Hertz.

10.45 Uhr: Weitere 800 Megawatt fehlen im deutschen Netz. Born kauft weiter an der Börse, hektischer, zu immer höheren Preisen. Einzelne Käufe kosten ihn bis zu 1300 Euro pro Megawattstunde, ein irrsinniger Preis.

Noch immer ist unklar, wieso diese immensen Mengen im Netz fehlen. Born ruft Vertreter der anderen deutschen Netzbetreiber zu Telefonkonferenzen zusammen. Sie sollen klären, von wo, wann und in welcher Menge Notreserven aus den Nachbarländern ins deutsche Netz gepumpt werden können. Unter dem Strich stehen in den kommenden 75 Minuten 1490 Megawatt Notreserve aus dem Ausland zur Verfügung. Zur Stabilisierung des Netzes sind allerdings inzwischen 3000 Megawatt nötig, das Doppelte.

Um kurz nach 11 Uhr geschieht das, was Born verhindern muss: Die Netzfrequenz sackt ab, um mehr als 50 Millihertz. Ein Einbruch, der auch in den 29 Ländern des europäischen Verbundnetzes registriert wird.

Mittlerweile fehlt die Leistung von fünf Atomkraftwerken im Netz, es wird zunehmend schwieriger, Strom an der Börse zu kaufen, die Ursache der Störung ist nach wie vor unklar. Der Ausnahmezustand dauert nun schon zwei Stunden an. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Es droht ein gesteuerter Blackout, der »Brownout«, er soll den unkontrollierten Zusammenbruch des Netzes verhindern.

Zwischen 11.45 Uhr und 12 Uhr fehlen im deutschen Netz 7463 Megawatt, das entspricht der Leistung von sechs Atomkraftwerken. Born hatte zu diesem Zeitpunkt insgesamt nur 5427 Megawatt aufgetrieben, ihm fehlen immer noch 2036 Megawatt. Eine einmalige Situation, nie zuvor fehlten im Netz solch immense Mengen Strom über einen so langen Zeitraum. 

Und dann, zum Stundenwechsel um 12 Uhr, balanciert sich das Stromnetz plötzlich aus, wie von Geisterhand. Die Maßnahmen, die Born eingeleitet hat, greifen endlich, nach knapp drei Stunden.

Nach der Liberalisierung übernahmen das mehr und mehr die Stromhändler. Heute gibt es in Deutschland rund 1000 dieser Händler. Die großen vermarkten mehrere Gigawatt, manche produzieren den Strom auch selbst. An der Börse wird Strom genauso gehandelt wie Öl oder Getreide. Man kann ihn ein halbes Jahr vor Lieferung kaufen oder verkaufen; drei Monate, eine Woche, eine Stunde, selbst fünf Minuten vor Lieferung ist es noch möglich, ein Geschäft zu machen. Strom ist zu einem Spekulationsobjekt geworden.

Am 12. Juni 2019 bereiteten zwei voneinander unabhängige Ereignisse die Bühne für das Drama, dessen Hauptdarsteller Born wurde. Zunächst bewegte sich ein Tief langsamer über Deutschland als prognostiziert, Windparks lieferten weniger Strom als erwartet. Zweitens behinderten Wartungsarbeiten an der Strombörse in Paris den Handel. Beide Vorgänge trieben die Preise an der Strombörse nach oben, bald schon lag der Börsenpreis deutlich über dem Preis der Ausgleichsenergie, die von den Übertragungsnetzbetreibern vorgehalten wird. In der Spitze überstieg der Börsenpreis den Preis für die Ausgleichsenergie um mehr als das Dreifache.

Die Stromhändler standen jetzt vor folgender Frage: Sollen wir die Lücke, die ein träges Tiefdruckgebiet in unsere Prognosen gerissen hat, durch Strom stopfen, den wir teuer an der Börse kaufen müssen? Oder sollen wir unsere Pflicht zur Ausgeglichenheit vergessen und uns mit der günstigeren Ausgleichsenergie, zur Verfügung gestellt von den Übertragungsnetzbetreibern, rauskaufen lassen aus dem Problem?

Nicht alle Händler, aber immerhin einige, entschieden sich an diesem 12. Juni 2019, Geld zu sparen; sie taten dies unabgesprochen, jeder für sich.

Sie folgten der Logik des Marktes und weigerten sich, Strom zu kaufen, der ihnen unzumutbar teuer erschien. Dass die Händler bei diesem Geschäft erwischt würden, war unwahrscheinlich. Mehrere Millionen Transaktionen werden täglich an den Strombörsen abgewickelt, unlautere Abschlüsse zu identifizieren ist oft mühselige Handarbeit. Im ungünstigsten Fall müssen sich staatliche Kontrolleure wochenlang durch Excel-Tabellen arbeiten, Zeile für Zeile, Spalte für Spalte. Die Händler glaubten wohl, sicher zu sein.

Sicher scheint immerhin, dass sich die Ereignisse vom 12. Juni 2019 nicht wiederholen können. Als Reaktion auf das dramatische Ungleichgewicht im Stromnetz hat die Bundesnetzagentur die Regeln verändert, nach denen der Preis für Ausgleichsenergie berechnet wird – die Trickserei der Stromhändler dürfte sich seither nicht mehr lohnen. Kritiker werfen der Behörde allerdings vor, zu spät und zu milde gehandelt zu haben. Einzelne Stromhändler sollen sich früher schon ähnlich verhalten haben.

190712 - Netzfrequenz 0900-1330

07.07.20: Broker, Blackouts, blaue Briefe: Das schmutzige Geschäft mit Strom in Deutschland

Quelle: www.businessinsider.de

Im Sommer 2019 sorgten die Preisspekulationen mehrerer Stromhändler beinahe für einen Blackout [Siehe Juni 2019].

Nach wie vor gilt auf dem Strommarkt: Manipulation lohnt sich „Die haben das bewusst gemacht. Und ich gehe davon aus, dass Unternehmen, die so etwas einmal machen, das auch wieder tun.“

Direkte finanzielle Konsequenzen ergeben sich für die Betroffenen auf Grundlage des derzeit gültigen Standardbilanzkreisvertrags nicht. Erst bei wiederholten Verstößen seien Vertragskündigungen oder „Geldbußen bis zu fünf Millionen Euro“ möglich. Bisher wurden solche wiederholten Verstöße nie festgestellt beziehungsweise aufgedeckt.

Immerhin: Ab dem 1. August soll ein neuer Marktvertrag gelten, dessen Vorgaben Anreize zur Einhaltung der Bilanzkreistreue und ein reformiertes Sanktionssystem beinhalten. Anreize, aber keine Verpflichtungen.

Für die Schäden, die durch die Manipulationen für die Volkswirtschaften entstehen, müssten harte Strafen ausgesprochen werden.

Solange die Verbraucher die Kosten für Unterversorgungen ausgleichen, rechnet es sich für Stromhändler, davon abzusehen, bei Engpässen die eigenen Reserven anzuzapfen oder teuer Strom zuzukaufen. Und dadurch Blackouts zu riskieren.

Kommentar

Dazu passt die SRF-Dokumentation von Anfang 2017, wo genau dieses Szenario dargestellt wurde. Wir wissen es und lassen es trotzdem weiter zu. Das ist grob fahrlässig, auch wenn die Tricks für die einzelnen Händler nicht unmittelbar eine Gefährdung für ganz Europa darstellen. Aber in einem fragilen System kann es immer zu einer Verkettung von Fehlern kommen, die dann in die Katastrophe führen.

Und auch die Frequenzabweichungen rund um den Stundenhandel sind ein Indikator dafür, dass hier mit dem Feuer gespielt wird. Und man reizt das immer mehr aus, was man an der Häufung der Ereignisse oder auch an der Intensität beobachten kann. 2020 gab es bis 7. Juli bereits 84 unübliche Frequenzschwankungen. Auffallend ist, dass diese immer um den Stundenwechsel auftreten und daher mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Strommarkt zusammenhängen! Der außergewöhnlichste Einbruch trat am 2. Juli 2020 auf. Er dauerte deutlich länger als die bisher maximal vorgesehene Zeit von 15 Minuten (Sekundärregelung) und auch der Einbruch auf 49,85 Hz bedeutet, dass bereits 2/3 der vorgehaltenen Reserve aufgebraucht wurden.

Die auffälligsten Abweichungen 2020: 50,15 Hz: am 20.01, 49,85 Hz: am 27.02, 03.06, 02.07; Am 10. Jänner 2019 wurde bisher der Tiefstpunkt von 49,8 Hz erreicht.

200702 - 49,852 Hz

Quelle: pc-projekte.lima-city.de und Ergänzungen von Franz Hein.