Quelle: www.nzz.ch
Solange Brücken halten, redet niemand von ihnen. Stürzen sie ein, werden sie augenblicklich zu Krisensymptomen. Eine enorme Sorglosigkeit prägt unser Verhältnis zur Infrastruktur.
Noch ehe nach dem Brückeneinsturz in Genua die Schockstarre angesichts des Todes von 43 Menschen nachgelassen hat, liegen Politiker und Ingenieure, die Betreiberfirma und die Regierungskoalition miteinander im Streit: Sind Konstruktionsfehler oder Wartungsmängel schuld an der Katastrophe, geht es um ingenieurstechnisches Versagen oder finanzielles Kalkül? Wucht und Breite der Auseinandersetzungen sind nicht verwunderlich. Was Genua gerade erlebt, ist ein Moment der Krise, in dem sichtbar wird, was üblicherweise unter den Routinen eines funktionierenden Alltags verborgen bleibt: die Verletzlichkeit unserer infrastrukturell hochgerüsteten westlichen Gesellschaften.
Die Behauptung ist kaum übertrieben, dass Infrastrukturen der unsichtbare Schlüssel zu unserem Lebensstil sind. Seit im späten 19. Jahrhundert Eisenbahnschienen samt Tunnels, Brücken und Telegrafendrähten wie Netze über die Landschaft geworfen und Wasser-, Gas- und Stromleitungen in den Städten verlegt wurden, kann man mit einigem Recht davon sprechen, in einer modernen Welt zu leben. Diese Welt wird permanent mit wichtigen Ressourcen versorgt, sie ist schnell und eng geworden, und sie funktioniert – dank diversen Infrastrukturen.

Zur Infrastruktur haben sich fast habituell vorwurfsvolle Epitheta wie «marode», «veraltet» oder «unterfinanziert» gesellt: Infrastrukturen sind so «marode» wie Odysseus «listenreich» ist. Das betrifft die New Yorker Subway ebenso wie die Abfallentsorgung in Neu-Delhi oder das Autobahnnetz Rumäniens. Hinter dem Vorwurf verbirgt sich die Erwartung, die öffentliche Hand möge für ein reibungsfrei und effizient ablaufendes Leben sorgen.

Tatsächlich aber ist heute bei Telekommunikation und Post, bei Bahn und Strasse das Modell der Public-private-Partnership dominant. Friktionen bleiben nicht aus – siehe Genua. Angezweifelt wird dieses Modell aber nur im Krisenfall: bei Stau auf der Autobahn, bei mangelnder Netzabdeckung, bei einer defekten Weiche – immer, wenn etwas stockt.

Denn Infrastrukturen entlasten zwar, führen aber auch in Abhängigkeit. Sie versprechen Sicherheiten in Gemeinschaft – gegen Preisgabe individueller Freiheit.  Infrastrukturen lösen Begehrlichkeiten aus, weil sie Wohlstand und Frieden verheissen – doch erhöhen sie unsere Verwundbarkeit im selben Masse, in dem sie einen vermeintlichen Fortschritt befeuern.
Stabilisierende Infrastrukturen, die angesichts forcierter globaler Verunsicherungen immer wichtiger werden, sind zugleich immer anfälliger für Verletzungen.
Die klassische, die schwerindustrielle Ära der Infrastruktur ist sicherlich vorüber. Doch dass Digitalisierung von Materialität entbindet, ist eine längst historisch gewordene Verblendung. Unsere virtuellen Netze brauchen Sendemasten oder Satelliten, Online-Konsum setzt gewaltige Lagerhallen, Fahrzeuge oder Strassen voraus. Einzelne infrastrukturelle Einrichtungen mögen Konjunkturtiefs erleben oder verschwinden, infrastrukturelle Funktionen aber müssen um den Preis einer stabilen Gesellschaft weiterhin erfüllt werden.
Darin liegt die Crux: Stabilisierende Infrastrukturen, die angesichts forcierter globaler Verunsicherungen immer wichtiger werden, sind zugleich immer anfälliger für Verletzungen – sei es durch ökologische Katastrophen oder Terrorismus. Van Laak beobachtet bereits, dass die Selbstverständlichkeit der Infrastrukturnutzung in dem Masse abnimmt, in dem uns unsere Abhängigkeit und Verwundbarkeit vor Augen tritt. Je unsichtbarer Infrastrukturen in ihrem routinemässigen Funktionieren werden, desto höher ist die Gefahr von Unfällen und Katastrophen [siehe auch Verletztlichkeitsparadox].
Genua hat das schmerzlich erfahren. Mehr noch: Eine bedingungslos auf Wachstum geeichte Moderne produziert zwangsläufig eine quantitative Ausweitung und qualitative Verdichtung unserer Netze. Routine aber produziert systematisch Krise. Auch das ist eine beunruhigende infrastrukturelle Ambivalenz.

Kommentar

Sehr interessante Betrachtung, die nicht nur auf Brücken zutrifft. Gerade bei der Strominfrastruktur geht es um ganz andere Dimensionen und die Auswirkungen eines Kollapses beschränken sich nicht nur auf ein Brücke/Stadt, sondern auf ganz Europa. Zudem hängen alle anderen Infrastrukturen von dieser einen Infrastruktur ab. Und diese Infrastruktur ist für die meisten Mensche unsichbar. Sieht man von ein paar Masten oder manchmal ein Kraftwerk ab.