Beitrag für das Jahrbuch Weiterbildung 2025
Die Weiterbildungslandschaft befindet sich im Wandel. Klassische Seminarformate und frontale Wissensvermittlung reichen nicht mehr aus, um den komplexen Anforderungen einer sich schnell verändernden Arbeitswelt gerecht zu werden. Gleichzeitig steigen die Erwartungen an innovative Lernformate, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch langfristige Verhaltensänderungen bewirken und praxisrelevante Kompetenzen aufbauen.
In diesem Kontext erleben Serious Games – also Spiele mit einem ernsthaften Bildungszweck – einen regelrechten Boom in der beruflichen Weiterbildung. Sie versprechen, das Beste aus zwei Welten zu verbinden: die motivierenden Eigenschaften von Spielen mit der zielgerichteten Vermittlung beruflicher Kompetenzen.
Die Krisensimulation „Neustart“ der Gesellschaft für Krisenvorsorge (GfKV) veranschaulicht, wie Serious Games komplexe Themen wie Krisenmanagement und Resilienz erfolgreich in Weiterbildungskontexte integrieren können. Das von dem internationalen Blackout- und Krisenvorsorgeexperten Herbert Saurugg und dem Entwickler didaktischer Spiele Till Meyer entwickelte Spiel simuliert die Folgen eines überregionalen Stromausfalls („Blackout“) und ermöglicht es den Teilnehmenden, in einem sicheren Rahmen Krisenbewältigungsstrategien zu erproben.
Wissenschaftliche Erkenntnisse: Warum Serious Games funktionieren
Die Wirksamkeit von Serious Games in der Weiterbildung ist mittlerweile wissenschaftlich gut belegt. Metaanalysen zeigen durchweg positive Effekte auf verschiedene Lerndimensionen:
Kognitive Lernergebnisse: Serious Games fördern den Wissenserwerb signifikant besser als traditionelle Lernmethoden. Besonders bemerkenswert ist, dass diese Vorteile auch bei der Behaltensleistung erhalten bleiben – ein starker Indikator für nachhaltiges Lernen.
Motivationale Effekte: In fünf von acht untersuchten Studien konnte die Lernmotivation durch Gamification-Elemente signifikant gesteigert werden. Unternehmen, die spielerische Lernformate einsetzen, berichten von einer Steigerung des Mitarbeiterengagements um bis zu 48 Prozent.
Verhaltensbezogene Outcomes: Serious Games zeigen positive Effekte auf praktische Fertigkeiten und Verhaltensänderungen. Gerade in komplexen Anwendungsfeldern wie dem Krisenmanagement ermöglichen sie es, theoretisches Wissen in praktische Handlungskompetenzen zu überführen.
»Neustart«: Ein Paradebeispiel für wirksame Krisensimulation
Die Krisensimulation »Neustart« (www.gfkv.org/neustart) verkörpert viele der Erfolgsprinzipien, die die Forschung für effektive Serious Games identifiziert hat:
Realitätsnahe Szenarien: Das Spiel simuliert am Beispiel einer fiktiven Kleinstadt die vielschichtigen Folgen eines mehrere Tage andauernden Stromausfalls. Die Teilnehmenden schlüpfen dabei in die Rollen von Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienst, Bauhof und Verwaltung und müssen koordiniert zusammenarbeiten, um die Krise zu bewältigen und eine Eskalation zu verhindern.
Kooperatives Lernen: Anders als bei vielen kompetitiven Spielen setzt »Neustart« bewusst auf Kooperation. Alle Spielenden arbeiten gemeinsam gegen das Spielsystem, wodurch Teambildung und kollaborative Problemlösung gefördert werden. Diese kooperative Struktur hat sich nicht nur in der Forschung als besonders lernförderlich erwiesen, sondern ist auch bei der Bewältigung realer Krisen ein zentraler Erfolgsfaktor. Diese Vorgehensweise fördert auch das Teambuilding in besonderer Weise, insbesondere bei Gruppen, die nicht permanent zusammenarbeiten. Dies ist im Krisenmanagement sehr häufig der Fall.
Fehlerfreundliche Lernumgebung: Das Spiel ermöglicht es, Entscheidungen und deren Konsequenzen in einem risikofreien Umfeld zu erleben und verschiedene Handlungsoptionen in einem sicheren Rahmen zu testen. Fehlentscheidungen führen zu Lernmomenten, nicht zu realen Schäden – ein zentraler Vorteil gegenüber traditionellen Krisenübungen.
Transfer in die Praxis: Durch die strukturierte Nachbereitung in drei Phasen – Spielreflexion, Analyse der Spielgeschehnisse und Verknüpfung mit der lokalen Realität – wird sichergestellt, dass die Spielerfahrungen in praktische Erkenntnisse überführt werden.
Mehrwert für Weiterbildungsverantwortliche
Für Personalentwickler und Weiterbildungsverantwortliche bietet »Neustart« konkrete Vorteile, die über klassische Schulungsformate hinausgehen:
Kompetenzentwicklung auf mehreren Ebenen: Das Spiel trainiert gleichzeitig die 4K-Kompetenzen (Kommunikation, Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken), methodische Fähigkeiten des Projektmanagements und fachspezifisches Wissen über Krisenmanagement. Diese Mehrdimensionalität entspricht modernen Anforderungen an ganzheitliche Kompetenzentwicklung.
Skalierbarkeit und Flexibilität: Mit einer Spielzeit von 3 bis 4 Stunden lässt sich »Neustart« gut in bestehende Fortbildungsstrukturen integrieren. Das Spiel funktioniert sowohl mit fünf Personen als auch mit größeren Gruppen und kann an verschiedene Organisationskontexte angepasst werden. Bei mehr als fünf Personen werden die Rollen einfach mehrfach besetzt oder es werden weitere Rollen, wie die des Beobachters oder Dokumentators, eingesetzt.
Nachhaltiger Lerntransfer: Die Kombination aus emotionalem Erleben im Spiel und strukturierter Reflexion fördert den Transfer in den Arbeitsalltag. Teilnehmende berichten regelmäßig von veränderten Verhaltensweisen und erhöhter Aufmerksamkeit für Krisenvorsorge auch Monate nach dem Training. Und obwohl das Thema sehr ernst ist, nehmen die Teilnehmenden durch das gemeinsame Spielerlebnis sehr positive Emotionen mit.
Messbare Lerneffekte: Anders als bei vielen klassischen Seminaren lassen sich die Lernfortschritte bei »Neustart« konkret beobachten und dokumentieren. Die Spielleitung kann in Echtzeit verfolgen, wie Teams Probleme lösen und welche Kompetenzen sie dabei entwickeln. Dadurch kann im professionellen Bereich auch die Eignung von Teilnehmenden für den Einsatz im wirklichen Krisenstab festgestellt werden. Das kann in einer tatsächlichen Krisensituation dazu beitragen, Fehlbesetzungen zu verhindern.
Anwendungsbereiche und Zielgruppen
Die Krisensimulation »Neustart« wurde ursprünglich speziell für den Einsatz in kommunalen Krisenorganisationen entwickelt. Sie richtet sich daher vor allem an Mitglieder kommunaler und organisationaler Krisenstäbe, die in ihrer täglichen Arbeit für die Bewältigung von Notfall- und Krisensituationen verantwortlich sind. Auch Führungskräfte des Sicherheitsmanagements in Unternehmen, Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben profitieren von der realitätsnahen Simulation komplexer Krisenszenarien, die weit über herkömmliche Stabsübungen hinausgeht. Die Einsatzgebiete von »Neustart« gehen jedoch weit über das klassische Krisenmanagementtraining hinaus. »Neustart« kann auch einen wertvollen Beitrag zum allgemeinen Weiterbildungsbereich leisten.
Führungskräfteentwicklung: Das Spiel eignet sich hervorragend, um Führungskompetenzen unter Stress zu trainieren. Entscheidungsfindung unter Zeitdruck, Ressourcenmanagement und Teamführung in kritischen Situationen sind Kernelemente des Spiels.
Organisationsentwicklung: Unternehmen nutzen »Neustart« für Teambuilding-Prozesse und zur Entwicklung einer gemeinsamen Krisenkultur. Das Spiel deckt Schwachstellen in Kommunikationsstrukturen auf und fördert abteilungsübergreifende Zusammenarbeit.
Compliance und Risikomanagement: In Branchen mit hohen Sicherheitsanforderungen hilft das Spiel dabei, Risikobewusstsein zu schärfen und präventive Denkweisen zu entwickeln.
Change-Management: Die Simulation vermittelt wichtige Kompetenzen für den Umgang mit unvorhergesehenen Veränderungen und fördert adaptive Fähigkeiten. Ein zentraler Punkt ist die Förderung der Abstraktionsfähigkeit, die eine Kernkompetenz im Krisenmanagement ist. Teilnehmende, die sich auf diese spielerische und abstrakte Art nicht einlassen können, werden voraussichtlich auch mit Krisensituationen überfordert sein.
Schulen: Mit »Neustart« lässt sich auch das Denken in vernetzten Zusammenhängen trainieren. Oft wenig beachtete Zusammenhänge in einer zunehmend vernetzten und komplexeren Welt werden so vermittelt.
Spezialisierte Anwendungsgebiete: »Neustart« ist besonders wertvoll für Organisationen, die sich auf Blackout-Szenarien vorbereiten müssen, wie Betreiber Kritischer Infrastrukturen, Gesundheitseinrichtungen oder Energieversorger. Die Simulation deckt auch Cyber-Krisenaspekte ab und eignet sich hervorragend zur Schulung von Verantwortlichen für das Business Continuity Management, die ihre Continuity-Pläne unter realistischen Bedingungen testen möchten.
Integration in bestehende Weiterbildungskonzepte
Die Integration von »Neustart« in bestehende Weiterbildungsprogramme folgt bewährten Prinzipien des Blended Learning:
Vor dem Spiel: Eine kurze theoretische Einführung in Grundlagen des Krisenmanagements und der Resilienz schafft die nötige Wissensbasis. Online-Module können hier den Präsenzanteil reduzieren.
Während des Spiels: Die intensive 3 bis4 stündige Simulationsphase bildet das Herzstück der Weiterbildung. Hier werden theoretische Konzepte praktisch erfahrbar gemacht.
Nach dem Spiel: Die strukturierte Nachbereitung und der Transfer in die organisationale Praxis sichern den nachhaltigen Lernerfolg. Digitale Tools wie Kanban-Boards können dabei den Übergang vom analogen Spiel zur digitalen Projektarbeit unterstützen.
Digitale Erweiterungen und Zukunftsperspektiven
»Neustart« zeigt auch exemplarisch auf, wie analoge Serious Games mit digitalen Lernformaten verknüpft werden können. Die Verbindung mit agilen Projektmanagement-Tools wie Trello ermöglicht es, die Spielerfahrungen in konkrete Handlungspläne zu überführen und nachhaltige Veränderungsprozesse anzustoßen.
Diese Hybridität entspricht den Trends in der Weiterbildung: Während das analoge Spiel für emotionale Intensität und sozialen Austausch sorgt, können digitale Tools die Skalierung und den langfristigen Transfer unterstützen.
ROI und Erfolgsmessung
Für Weiterbildungsverantwortliche ist die Messbarkeit des Return on Investment entscheidend. »Neustart« bietet hier mehrere Ansatzpunkte:
Kurzfristige Effekte: Unmittelbar messbar sind Wissenszuwächse, Kompetenzentwicklung und Teilnehmerzufriedenheit. Standardisierte Evaluationsbögen ermöglichen Vergleiche zwischen verschiedenen Trainingsgruppen.
Mittelfristige Effekte: Verhaltensänderungen in der Krisenvorsorge, verbesserte Teamdynamiken und erhöhtes Risikobewusstsein lassen sich über Follow-up-Befragungen nach 3-6 Monaten erfassen.
Langfristige Effekte: Organisationale Resilienz, Krisenbereitschaft und präventive Maßnahmen können über längere Zeiträume evaluiert werden. Hier zeigen bereits erste Studien positive Trends bei Organisationen, die »Neustart« systematisch einsetzen.
Herausforderungen und Erfolgsfaktoren
Wie bei allen innovativen Lernformaten gibt es auch bei Serious Games Herausforderungen, die beachtet werden müssen:
Qualifizierte Spielleitung: Obwohl »Neustart« auch ohne externe Moderation gespielt werden kann, entfaltet es sein volles Potenzial erst unter professioneller Anleitung. Die Ausbildung interner Trainer ist daher ein wichtiger Erfolgsfaktor. Die TÜV-Austria-Akademie hat gemeinsam mit dem Milizverband erstmals im Jahr 2025 eine solche Trainerschulung durchgeführt. Im Wesentlichen geht es dabei darum, den angehenden Trainern die höheren Einstiegshürden aufgrund der komplexeren Regeln durch gemeinsames Anwenden zu nehmen. Und wie überall gilt auch hier: Mit der Anwendung nimmt die Sicherheit zu. Besonders vorteilhaft ist es natürlich, wenn der Trainer auch zum Szenario selbst sattelfest ist und entsprechende Hinweise und Querverbindungen herstellen kann.
Organisationale Akzeptanz: Nicht alle Teilnehmenden sind sofort für spielerische Lernformate zu begeistern. Eine klare Kommunikation der Lernziele und des methodischen Hintergrunds ist entscheidend für die Akzeptanz.
Nachbereitung und Transfer: Der größte Mehrwert entsteht erst durch die professionelle Nachbereitung und den systematischen Transfer in die Praxis. Hier sollten ausreichend Ressourcen eingeplant werden.
Ausblick: Die Zukunft der Weiterbildung
»Neustart« steht exemplarisch für einen Paradigmenwechsel in der beruflichen Weiterbildung. Statt passiver Wissensvermittlung stehen aktive Lernerfahrungen im Mittelpunkt. Statt isolierter Fachkompetenzen werden ganzheitliche, zukunftsrelevante Fähigkeiten entwickelt.
Die wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit von Serious Games ist eindeutig. Organisationen, die diese Erkenntnisse konsequent umsetzen, schaffen nicht nur effektivere Weiterbildungsprogramme, sondern auch eine Lernkultur, die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird.
Die TÜV Austria Akademie als führender Anbieter beruflicher Weiterbildung steht vor der Chance, diese Innovation zu nutzen und ihren Teilnehmenden Zugang zu modernsten Lernmethoden zu verschaffen. »Neustart« bietet dabei einen idealen Einstieg in die Welt der Serious Games – mit einem hochrelevanten Thema, bewährter Methodik und messbaren Erfolgen.
Die Investition in innovative Lernformate wie »Neustart« ist mehr als nur eine methodische Neuerung – sie ist eine Investition in die Zukunftsfähigkeit von Organisationen und ihren Mitarbeitenden. In einer Zeit, in der Resilienz und Anpassungsfähigkeit zu Schlüsselkompetenzen werden, bieten Serious Games den idealen Rahmen, um diese Fähigkeiten zu entwickeln und zu stärken.
Fazit
Serious Games wie »Neustart« repräsentieren die Zukunft der beruflichen Weiterbildung. Sie verbinden wissenschaftlich fundierte Lernprinzipien mit motivierenden Spielmechaniken und schaffen so Lernerfahrungen, die sowohl effektiv als auch nachhaltig sind. Für Weiterbildungsverantwortliche bieten sie die Möglichkeit, ihre Programme auf ein neues Niveau zu heben und den steigenden Ansprüchen an moderne Kompetenzentwicklung gerecht zu werden.
Die Zeit ist reif für den Schritt von der traditionellen Wissensvermittlung hin zu erfahrungsbasierten Lernformaten. »Neustart« zeigt den Weg und bietet gleichzeitig eine praktische Lösung für eines der drängendsten Themen unserer Zeit: Die Vorbereitung auf vernetzte Krisen und den Aufbau organisationaler Resilienz.
