Quelle: nzz.ch; Didier Sornette, Professor für unternehmerisches Risiko an der ETH Zürich; Der Physiker zählt zu den führenden Risikoforschern. Das Coronavirus sorgt für Verunsicherung. Laut dem Risikoforscher Didier Sornette steht die Aufregung in keinem Verhältnis zur Realität. Er warnt im Interview vor der Illusion einer Null-Risiko-Gesellschaft.

Man muss die Sache relativieren. Rund 10 Mio. Menschen sterben jedes Jahr in China, davon etwa 150 000 aufgrund einer normalen Grippe. In den USA sterben 30 000 Personen pro Jahr an einer Grippe, weltweit zwischen 600 000 und 1 Mio. Beim jüngsten Coronavirus sprechen wir von einigen hundert Toten. Doch Journalisten wie Sie verstärken deren Bedeutung; sie sind ein Teil des Problems.

Doch ich bin auch Ökonom und weiss, dass Aufmerksamkeit wertvoll ist. Was Aufmerksamkeit schafft, wird medial ausgeschlachtet. Über die 1 Mio. Toten, die jedes Jahr an einer Grippe sterben, liest man hingegen nichts.

Es gibt ja auch andere Zahlen, etwa die Sterberate. Diese liegt bei einer normalen Grippe zwischen 0,1 und 0,01%. Beim jüngsten Coronavirus liegt sie bei zirka 2%, also deutlich höher. Das ist beunruhigend, aber noch kein Grund zur Panik. So lag die Quote bei Sars bei 10% und bei der Spanischen Grippe bei 30%. Zudem waren die meisten Opfer des Coronavirus schon alt und gesundheitlich angeschlagen. Bei gesunden Personen, die mit dem Coronavirus angesteckt werden, liegt die Sterblichkeit weit unter 2%.

Zwar nehmen die Todesfälle pro tausend Einwohner seit 1960 stetig ab. Doch die Welt ist immer enger verflochten. Dank neuen Kommunikations­formen wissen die Leute sofort, wenn irgendwo etwas Schlimmes passiert. Hinzu kommt die Illusion einer Null-Risiko-Gesellschaft.

Das Leben ist Risiko, und das Risiko ist Leben. Eine Situation ohne Risiko wird in der Physik als thermodynamisches Gleichgewicht bezeichnet – und bedeutet den Tod. Der Mensch ist aber stetig im Ungleichgewicht und produziert Entropie. Das ist riskant. Dennoch erliegen wir dem Irrglauben, risikofrei leben zu können. Doch wer alle Risiken beseitigen will, beschränkt nicht nur die Freiheit, er verunmöglicht auch Neues. Denn Forschen heisst, Risiken auf sich zu nehmen, das Unbekannte zu erkunden. Eine Gesellschaft, die Risiken immer stärker kontrollieren will, steuert auf ihren Tod zu.

Die gilt auch insofern, als durch eine immer bessere Absicherung die Scheinsicherheit steigt, weil es an den nötigen Rückfallebenen fehlt, um mit unerwarteten Störungen umgehen zu können. Es fehlen trainierte Handlungskompetenzen, was gerade in Mitteleuropa besonders fatale Folgen haben könnte („Verletztlichkeitsparadoxon„)

Unser Immunsystem funktioniert am besten, wenn es Stressoren ausgesetzt ist, also Reizen, die Stress verursachen und eine Reaktion erzwingen. Dann machen wir Fortschritt und sind widerstandsfähig. Wir brauchen konstanten Stress, um überleben zu können. Wenn wir hingegen in einer Blase leben, herrscht Gefahr.

Wie die Illusion, dass immer eine volle Versorgung zur Verfügung steht.

Nassim Taleb hat das Konzept des «Schwarzen Schwans» entwickelt. Sie sind jedoch überzeugt, dass auch seltene Ereignisse prognostizierbar sind. Sie sprechen von Drachenkönigen, statistischen Ausreissern mit einer grossen Wirkung. Schüren Sie damit nicht die Illusion vollkommener Kontrolle?

Ich halte die Theorie meines Freundes Taleb für falsch. Es ist für Politiker bequem, wenn sie sagen können, nichts lasse sich vorhersagen. So kann man Verantwortung von sich wegschieben. Es heisst aber: «Gouverner, c’est prévoir.» Es gibt einen Mangel an Mut und Verantwortung bei den Eliten. Die Politiker verhalten sich dabei durchaus rational, weil sie kurzfristig auf die Wiederwahl achten und nicht auf das langfristige Optimum für die Gesellschaft.

Leider etwas, dass gerade bei der Blackout-Vorsorge besonders zu beobachten ist. Meist mit dem Argument, „man wolle keine Panik schüren“. In Wirklichkeit wird aber damit genau die Basis für irrationales Handeln in der Krise geschaffen, weil man im Stress einem Tunnelblick erliegt und dann nur mehr eingeschränkte Handlungsoptionen abrufen kann. Hat man hingegen im Vorhinein verschiedene Optionen angedacht, hat man auch in der Krise mehr Handlungsoptionen. Das ist alles keine Geheimwissenschaft. Trotzdem werden derartige Erkenntnisse ignoriert.