Letzte Aktualisierung am 14. Februar 2019.

Erschienen in: Wimmer, P. (Hrsg.), Wissen wird smart. Beiträge zu den Kremser Wissensmanagement-Tagen 2017, Edition Donau-Universität Krems

Viele aktuelle Diskussion und Debatten drehen sich um die „Digitalisierung“. Neue, disruptive Geschäftsmodelle sollen entwickelt werden bzw. entstehen. Prozesse effizienter und billiger werden. Durch die Loslösung von materiellen Werten und Ressourcen kommt es zu völlig neuen Skaleneffekten, die zum „The Winner Takes It All“. Blickt man etwas hinter die Kulissen, geht es hauptsächlich um Vernetzung und den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). Selten wird jedoch die Frage nach konkreten Zielsetzungen gestellt. Die Gewinnmaximierung ist sowieso selbstverständlich.

Vielen von uns ist kaum bewusst, dass wir uns mitten in einer fundamentalen gesellschaftlichen Transformation befinden. Diese wurde mit der Entwicklung von Computern in den 1950er Jahren eingeleitet. Neben der bisherigen Agrar- und Industriegesellschaft entsteht die Netzwerkgesellschaft. In der Literatur werden weitere Begriffe wie Informations- oder Wissensgesellschaft, die dritte industrielle Revolution (Rifkin 2016) oder die zweite Moderne (Beck 2017), verwendet. Auch der Begriff „Digitalisierung“ kann dafür herangezogen werden, wenngleich die damit verbundene Tragweite selten impliziert wird. Netzwerke und im weitesten Sinne „Beziehungen“ spielen bei dieser Transformation eine zentrale Rolle. Daher wird in diesem Beitrag der Terminus „Netzwerkgesellschaft“ verwendet. Information oder Wissen hat hingegen eine immer kürze Halbwertszeit. Parallel dazu wird der bisher vorherrschende tertiäre Wirtschaftssektor (Dienstleistungen), wie zuvor der primäre Sektor (Landwirtschaft) und der sekundäre Wirtschaftssektor (Industrie), weitgehend automatisiert (Dueck 2010).

Der zunehmende Verdrängungswettbewerb findet in den verschiedensten Gesellschaftsbereichen statt. Einen derart raschen, zeitgleichen und globalen Umbruch hat es in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben. Und nicht nur das. Die bisher sehr erfolgreichen Prinzipien der Industriegesellschaft wie Standardisierung, Synchronisierung, Konzentrierung, Spezialisierung, Maximierung oder Zentralisierung werden in der Netzwerkgesellschaft fundamental auf den Kopf gestellt. Langfristig werden sich komplett gegensätzliche Prinzipien wie Personalisierung und Individualisierung, Vielfältigkeit, Asynchronität, Dezentralisierung und Miniaturisierung durchsetzen. Vieles davon sehen wir bereits heute. Industrie 4.0 wird einen weiteren Beitrag dazu liefern. Einzig beim Thema „small is beautiful“ sehen wir noch meistens Gegenteiliges: Wir gestalten immer mehr Bereiche nach dem Motto „too big to fail“. Ob das im Finanzsystem, in der Pharmaindustrie oder der globalen Logistik ist, die Beispiele werden immer mehr. Zentralisierte Systeme sind in der Regel effizienter und kostengünstiger, jedoch auch anfälliger für Großstörungen. Es gibt kein System, dass nicht versagen kann. Daher hat sich auch in er Natur „small is beautiful“ durchgesetzt. Etwas, dass sich wohl auch gesellschaftlich noch durchsetzen wird (Beck 2017). Erste Ansätze in der Stärkung der regionalen Wirtschaft sind ja schon zu erkennen.

Weitere Beispiele wie die dezentrale Energieversorgung, die Nanotechnologie, die Produktwahlmöglichkeiten oder Losgröße 1, die Interaktion via Soziale Medien, bestätigen, was der amerikanische Zukunftsforscher Alvin Toffler bereits in den 1970er und 80er Jahren skizierte (Toffler 1970, 1980). In der sich entwickelnden Netzwerkgesellschaft entstehen auch neue Spielregeln für das Zusammenleben. Transparenz, Partizipation und Kollaboration sollen eine zunehmend wichtigere Rolle spielen, um mit der vom Menschen geschaffenen Komplexität erfolgreich und nachhaltig umgehen zu können. Diese Veränderungen führen natürlich zu innergesellschaftlichen Konflikten und Reibungsverlusten, prallen doch verschiedene Weltsichten aufeinander. Was wir heute bereits in vielen Bereichen wahrnehmen aber oftmals nicht zuordnen können. Die bisher erfolgreiche Logik greift nicht mehr. Ob in der Unternehmensführung, Politik oder beim Lösen von überregionalen und globalen Problemen, wie dem Klimawandel, der Ressourcenverknappung oder Migration, überall stoßen wir an (Denk)Grenzen. Immer häufiger bleiben wir ratlos zurück bzw. verschwenden wichtige Zeit, die wir nicht mehr aufholen werden können. Dabei soll schon Albert Einstein gesagt haben, dass man Probleme nicht mit derselben Logik lösen kann, mit der man die Probleme geschaffen hat.

Daher erscheint es notwendig, dass sich auch die Wissenschaft und das Wissensmanagement mit diesen Entwicklungen beschäftigen. Denn auf der falschen Grundlage kann bisher Bewehrtes rasch in die Sackgasse führen. Große Firmen wie Kodak oder Nokia zeugen davon. Obwohl sie in ihrem Segment Marktführer waren und großes Know-how aufgebaut hatten, wurden sie in kürzester Zeit und völlig überraschend von der neuen Realität überholt. Ihr Wissen war binnen weniger Jahre wertlos. Das war erst der Anfang. Vielen großen Firmen und Marken wird es in den nächsten Jahren wohl ähnlich ergehen. Die Energiewirtschaft hat schon einen Vorgeschmack bekommen. Die Automobilindustrie wird wohl eines der nächsten Opfer dieser Umbrüche werden.

Effizienz oder doch Effektivität

Unsere derzeitige marktwirtschaftliche Wachstumslogik gebietet uns fortlaufend die Effizienz zu steigern. Was an und für sich nicht schlecht ist. Jedoch wird dies immer häufiger nur mehr zur Aufrechterhaltung des Wachstums vorangetrieben. „Systeme, die nur dann lebensfähig sind, wenn sie permanent wachsen, sind langfristig zum Tode verurteilt – und zwar ab dem Moment, wo ein weiteres Wachstum nicht mehr möglich ist.“ (Ossimitz, 2006:56).

Zudem steht Effizienz im Widerspruch zu Robustheit, Reserven, Redundanzen oder Resilienz, die für eine langfristige Systemstabilität lebenswichtig sind. Große gesellschaftswichtige Herausforderungen wie der Klimawandel oder die absehbare Ressourcenverknappung sind mit der bestehenden Wachstums- und Geldlogik nicht lösbar (Renn 2014). Daher wäre es in vielen Bereichen notwendig, die Frage nach der Effektivität oder dem tun der richtigen Dinge zu stellen. Aber so lange wir als globale Gesellschaft dem Wachstumsparadigma folgen, ist ein Ausscheren nur schwer möglich. In der Natur gibt es jedoch kein unbegrenztes, sondern nur ein zyklisches beziehungsweise s-förmiges Wachstum. Alles andere wirkt selbstzerstörerisch. Tumore stellen den bisher erfolglosen Gegenversuch dar.

S-förmiges Wachstum

s-förmiges Wachstum; Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Vester

Ein s-förmiges Wachstum beginnt langsam, steigt nach einer längeren niederschwelligen Periode exponentiell an und flacht dann wieder ab. Ob durch Angebot und Nachfrage, Ressourcenverknappung oder Beute-Räuberverhältnisse, ausschlaggebend sind immer selbstregulierende Regelkreise (Rückkoppelungen). Ein weiteres Wachstum ist nur über einen neuen Zyklus (etwa durch die jahreszeitliche Erneuerung oder durch eine neue Technologie) möglich. Die künstliche Ausdehnung des exponentiellen Wachstums führte bisher immer zum Systemkollaps.

Menschen neigen dazu, diesen Mechanismus zu ignorieren. Was durchaus eine Zeit lang gut gehen kann, da Systemgrenzen bis zu einem gewissen Grad dehnbar sind. Dieser Erfolg führt aber zu einer Selbstüberschätzung der eigenen Fähigkeiten, mit meist langfristigen negativen Folgen beziehungsweise zeitverzögerten Wirkungen. Eine intensive Landnutzung führt zwar kurzfristig zu mehr Wachstum und Output, führt aber zu einer Ressourcenübernutzung und damit zum Rückgang oder zur vollständigen Zerstörung der Ressource.

Große Innovationen bzw. fundamentale Weiterentwicklungen führen dazu, dass bisherige Lösungen obsolet werden oder mit weit weniger Ressourcenaufwand bewältigt werden können. Das bisher Erfolgreiche ist daher dem Untergang geweiht („Schöpferische Zerstörung“). Die Technisierung und Automatisierung in der Landwirtschaft hat etwa dazu geführt, dass binnen weniger Jahrzehnte kaum mehr Arbeitskräfte in diesem Sektor benötigt werden, während zuvor in diesem Sektor ein Großteil der Menschen tätig waren (Dueck 2010).

Evolutionäre Prägungen

Bei menschlichen Handlungen spielen so gut wie immer evolutionär geprägte Muster eine Rolle. So neigen wir etwa dazu, lieber kurzfristige Erfolge als einen langfristigen Mehrwert in Kauf zu nehmen. In der Psychologie wird dafür der Begriff „Belohnungsaufschub“ verwendet (Mischel 2015). Dabei wird auf eine unmittelbare (anstrengungslose) Belohnung zu Gunsten einer größeren Belohnung in der Zukunft verzichtet, die allerdings entweder erst durch Warten oder durch vorherige Anstrengung erlangt werden kann. Dieses Phänomen kann heute in vielen Bereichen, etwa bei politischen Entscheidungen, beobachtet werden: Kurzfristiger Aktionismus versus langfristige Ziele. Was evolutionär durchaus Sinn gemacht hat, stellt heute in der Regel einen langfristigen Nachteil dar.

Zudem konzentrieren wir uns auf das, was wir bereits wissen und kennen, und weniger auf die Vorsorge: „Wir neigen dazu, nicht das Allgemeine zu lernen, sondern das Präzise. Wir lernen keine Regeln, sondern nur Fakten. Jeder weiß, dass wir mehr Vorbeugung als Behandlung brauchen, doch kaum jemand belohnt Vorbeugungsmaßnahmen. Wir glorifizieren jene, deren Namen in die Geschichtsbücher eingegangen sind, auf Kosten derjenigen, über die unsere Bücher schweigen.“ (Taleb 2013:9)

Dabei ist Zukunft nicht etwas vorgegebenes, sondern wird von uns alle gemeinsam gestaltet. Dieser Gestaltungsspielraum wird jedoch oft unterschätzt, da man als Einzelner glaubt, eh nichts ausrichten zu können. Gleichzeitig sehen wir aber in vielen Bereichen, dass das Verhalten jedes Einzelnen sehr wohl eine globale Auswirkung hat. Ob beim Konsum oder bei der Umweltverschmutzung, viel Kleinvieh macht auch Mist. Die Frage ist, wie wir das für positive Zukunftsentwicklungen auch besser nutzen könnten.

Vernetzung führt zu Komplexität

Der Begriff „Komplexität“ wird in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet. Ob im technischen oder politischen Bereich, er scheint fast überall anwendbar („Boundary Object“). In der Regel will man damit undurchsichtige, schwer greifbare, dynamische und damit kaum planbare und steuerbare Situationen beschreiben. Eine gewisse Überforderung und Hilflosigkeit geht damit oft einher. Der Begriff selbst wird vom lateinischen complexus abgeleitet, was so viel wie verflochten beziehungsweise verwoben bedeutet. Mit etwas Abstand erkennt man rasch einen Zusammenhang mit der technischen Vernetzung.

Mit der Vernetzung steigt die Komplexität und Dynamik in Systemen, da es zu ständigen Rückkoppelungen kommt. Es entstehen offene Systeme, die mit ihrer Umwelt in Wechselbeziehung stehen. Die Systemgrenze eines komplexen Systems lässt sich nicht genau definieren bzw. ist die Eingrenzung nur ein Modell. Eine zentrale Steuerung wie bei Maschinen (geschlossenen Systemen) ist nicht möglich. Die Steuerung (Regelung) beruht auf einfachen dezentralen Rückkoppelungsprozessen und Regelkreisen. Menschliche Eingriffe ohne Berücksichtigung dieser Mechanismen scheitern, wenn auch häufig erst zeitverzögert. Oft führen sie auch zu nicht intendierten Ergebnissen oder Nebenwirkungen.

Komplexe Systeme weisen eine Reihe von Eigenschaften auf, die wir von unseren bisherigen technischen Lösungen („Maschinen“) nicht kennen. Etwa zu einer selbstverstärkenden Dynamik („Immer schneller im Hamsterrad“), oder Emergenz, welche durch das Zusammenspiel der Systemelemente und der Rückkoppelungen zur spontanen Herausbildung von neuen Systemeigenschaften oder Strukturen führt. Die Eigenschaften der Systemelemente lassen dabei keine Rückschlüsse auf die emergenten Eigenschaften des neuen Systems zu. Im Positiven ergeben sich dadurch völlig neue Möglichkeiten, im Negativen bisher nicht bekannte oder beachtete Nebenwirkungen. Beispielsweise in der Nanotechnologie, wo völlig neue Möglichkeiten oder Materialeigenschaften entstehen. Gleichzeitig wissen wir nur sehr wenig über die möglichen negativen Nebenwirkungen. Mögliche zukünftige Erkenntnisse wie etwa beim vormaligen Wunderstoff Asbest könnten zu verheerenden Auswirkungen führen. Eine Reparatur wird kaum mehr möglich sein. Irreversibilität und Nichtlinearität wiederum führt dazu, dass unsere bisherigen Risikomanagementansätze versagen bzw. nicht die tatsächliche Tragweite erkennen können. Vor allem, wenn zusätzlich zeitverzögerte Wirkungen auftreten, wie etwa beim Klimawandel. In hoch vernetzten Systemen können kleine Ursachen verheerende Auswirkungen auslösen. Beispielsweise gerade in Afrika, wo ein aus Amerika eingeschleppter Schädling binnen weniger Monate massive Schäden bei der Maisernte verursacht und sich rasend verbreitet (Handelsblatt 2017).

Exponentielle Veränderungen wiederum überfordern unser Denken und unseren Horizont, da wir dazu neigen, Entwicklungen linear fortzuschreiben. Das wird uns wahrscheinlich bei den Eskalationen durch den Klimawandel noch heftig beschäftigen. Aber auch die Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) und Automatisierung werden wohl vielerorts unterschätzt. Auch weil wir fast immer von den Übertrüber-Lösungen ausgehen, die sicher noch in vielen Bereichen weit entfernt sind. Die Automatisierung in vielen kleinen Alltagsbereichen wird jedoch dazu beitragen, dass unsere Arbeitswelt in absehbarer Zukunft heftig auf den Kopf gestellt werden wird. Ebenso werden Anwendungen aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz uns bald ganz massiv beschäftigen und viele ungeklärte Fragen aufwerfen. Denn diese funktionieren nicht mehr nach unserer bisherigen Maschinen-, sondern nach der Komplexitätslogik. Also irreversibel, nichtlinear und damit in der Entscheidungsfindung nicht mehr nachvollziehbar. Durchaus mit bisher kaum vorstellbaren Lösungen, die der Menschheit dienen werden. Jedoch wird es wie immer auch Schattenseiten geben. Erste Anzeichen gibt es bereits in der Cyber-Welt. Hier hat sich in den vergangenen Jahren eine professionelle und hoch arbeitsteilige Schattenökonomie entwickelt, welche die neuen Möglichkeiten bestmöglich zur Gewinnmaximierung nutzt. Umso mehr sollten uns Einschätzungen beunruhigen, wonach in naher Zukunft mit Schadsoftware zu rechnen ist, die sich der Künstlichen Intelligenz bedienen wird (Mankey 2017). Hier tun sich wahrlich Horrorszenarien auf. Während wir in vielen Bereichen noch nach alten Denkmustern und „Denksilos“ organisiert sind und um Ressourcen streiten, schreitet die Realität rascher voran, als uns lieb sein kann.

Künstliche Intelligenz setzt neue Maßstäbe

Anfang 2016 gewann AlphaGo, eine KI-Anwendung, 4:1 gegen den weltbesten Go-Spieler. Das war eine Sensation, da das 2.500 Jahre alte Go-Spiel eine sehr hohe geistige Herausforderung darstellt. AlphaGo wurde mit Zehntausenden historischen Go-Spielen gefüttert, und spielte dann gegen sich selbst. Im Herbst 2017 schlug AlphaGo-Zero die Ur-Version AlphaGo 100:0. AlphaGo-Zero hatte für diese Leistung gerade einmal drei Tage Trainingszeit und lernte sich das Spiel rein aus den Spielregeln. Dabei wurde auch noch eine einfachere Hardware als 2016 verwendet. Unfassbar, was hier an Entwicklung passiert, die noch dazu kaum wahrgenommen wird. Und wenn, dann werden diese Entwicklungen noch oftmals damit abgetan, dass diese KI trotz allem noch lange nicht die menschliche Intelligenz überwinden wird. Das wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht Aufgaben übernehmen, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Und wie es aussieht, wahrscheinlich noch früher für die Dunkle Seite der Macht, als für nützliche Dinge. Das destruktive Potential dieser Entwicklung möchte man sich lieber nicht ausmalen.

Komplexitätslücken

Komplexitätslücken; Quelle: Eigene Darstellung

Der Komplexitätsforscher John Casti hat den Begriff der Komplexitätslücke geprägt. Sie beschreibt die Differenz zwischen Systemen unterschiedlicher Komplexität. Etwa das, was das Marketing oder die Politik verspricht und das was technisch und physikalisch machbar und noch beherrschbar ist. Komplexitätslücken neigen dazu, sich auszugleichen. Wenn dies nicht durch regulierende Eingriffe erfolgt, kommt es zur „Systembereinigung“ in Form von Extremereignissen (X-Events). Der „Faden“ reißt dabei abrupt (Casti 2012).

 

Menschen neigen dazu, die Elastizität von Systemen zu überschätzen. Diese ist durchaus gegeben. Dennoch gibt es unüberwindbare Grenzen. Ob dies im individuellen Bereich ist („Burnout“), am Finanzmarkt, bei technischen Lösungen, beim Ressourcenverbrauch, beim Stromversorgungssystem, es gibt kein Beispiel dafür, dass wir diese Grenzen unendlich ausdehnen könnten.

Die Anzahl und die Größe derartiger Komplexitätslücken nehmen mit der Erhöhung der Vernetzungsdichte deutlich zu. Es entstehen bisher nicht bekannte systemische Risiken, die unser Vorstellungsvermögen übersteigen. So wurden etwa die Auswirkungen der US-Immobilienkrise 2007 lange unterschätzt und die nachfolgenden globalen Finanz-, Staatsschulden- und Wirtschaftskrisen überhaupt nicht erwartet (Renn 2014, Taleb 2012). Durch die zeitverzögerte Wirkung haben wir bisher fast nur die positiven Seiten der Vernetzung kennengelernt. Es ist durchaus anzunehmen, dass wir daher in den nächsten Jahren zahlreiche Turbulenzen erleben werden.

Besonders besorgniserregend sind dabei unsere infrastrukturellen Abhängigkeiten und die steigende Verwundbarkeit. Denn durch die unaufhaltsam vorangetriebene chaotische Vernetzung steigt auch die Wahrscheinlichkeit für sich kettenreaktionsmäßig ausbreitende und weitreichende Störungen. Besonders verheerend könnte sich ein solches Ereignis im europäischen Stromversorgungssystem („Blackout“) auswirken, da wir überhaupt nicht darauf vorbereitet sind. Gleichzeit steigen fast täglich die Herausforderungen für einen sicheren Netzbetrieb.

Zielsetzung

Daher schließt sich nun der Kreis zur Eingangs gestellten Frage nach der Effektivität beziehungsweise, ob wir die richtigen Ziele verfolgen. Wie sich aus dem bisher Gesagtem erahnen lässt, bestehen hier erhebliche Zweifel. Aber gerade der Umgang mit Komplexität bzw. komplexen Systemen und Entwicklungen erfordert eine klare Zielsetzung, nach der man die erforderlichen Maßnahmen und Ressourcen ausrichten kann.

Egal welches drängende Problem man heute hernimmt, so gut wie überall fehlen klare und nachvollziehbare Zielsetzungen und vor allem auch konkrete Schritte. Beginnend beim Klimawandel, wo es zwar ein Kommittent gibt, langfristig etwas tun zu müssen, wo aber kurzfristig kaum adäquate Maßnahmen gesetzt werden. Damit wird die langfristige Zielerreichung auch immer unwahrscheinlicher. Oder beim Thema Digitalisierung, wo man bereits heute weiß, dass wir auf einen massiven Fachkräftemangel zusteuern. Andererseits werden viele Arbeitsplätze in absehbarer Zukunft obsolet werden. Gleichzeitig feiern wir es als große Errungenschaft, wenn nun in Schulen Tablets eingeführt werden sollen. Was wir damit wirklich vermitteln wollen, ist noch offen. Die Verteilung von nun elektronischen Büchern und Lehrmaterial wird wohl zu wenig sein. Das ganze Bildungssystem ist nach wie vor auf die Bedürfnisse der Industriegesellschaft ausgerichtet. Das wissen wir irgendwie schon. Aber für die notwendigen Änderungsschritte fehlt uns der Mut und der Wille sowie die notwendige Weitsicht. Überall ist der Ruf nach Innovationen zu hören. Dabei vergisst man aber gerne, dass technische Innovationen auch gesellschaftliche Innovationen und Anpassungen erfordern.

Truthahn-Illusion; Quelle: Eigene Darstellung

Ob die notwendigen Schritte und Maßnahmen rechtzeitig eingeleitet werden, muss unter den derzeitigen Rahmenbedingungen und Denkgrenzen massiv bezweifelt werden. Auch aus der Illusion heraus, dass eh noch alles halbwegs gut funktioniert. Leider werden die hier nur ansatzweise aufgezeigten Entwicklungen außer Acht gelassen. In der Fachwelt wird daher auch von einer Truthahn-Illusion gesprochen. Ein Truthahn, der Tag für Tag von seinem Besitzer gefüttert wird, hat nicht die geringste Ahnung, was am Tag X passieren wird. Er muss aufgrund seiner positiven Erfahrungen annehmen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass etwas gravierend Negatives passiert, von Tag zu Tag kleiner wird. Am Tag vor Thanksgiving wird jedoch ein entscheidender Wendepunkt eintreten, mit entsprechend fatalen Folgen für den Truthahn. Die Truthahn-Illusion steht zudem für die Überzeugung, dass sich jedes Risiko berechnen lässt, obwohl dies nicht möglich ist.

Gerne wird auch das Nichtvorhandensein von Beweisen mit einem Beweis für ein Nichtvorhandensein verwechselt. Daher ist davon auszugehen, dass vordergründig stabile Systeme fragiler sind, als Systeme, in denen häufiger Störungen auftreten (Taleb 2012). Das gilt wohl auch für unser aktuelles Gesellschaftssystem. Wesentliche Fragen, die wir uns stellen sollten, könnten etwa folgende Bereiche betreffen:

  • Welches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist notwendig, um die massiv umweltverändernden Auswirkungen rasch und drastisch zu reduzieren?
  • Wie können wir unser Gesellschaftsleben organisieren, wenn immer mehr Erwerbsarbeit durch Technik und Automatisierung übernommen wird?
  • Wie können wir die Robustheit der Infrastrukturen und die Resilienz der Menschen erhöhen?
  • Mit welchen Maßnahmen können wir den Migrationsdruck reduzieren und möglichst vielen Menschen ein gutes Leben ermöglichen?

Ein weiter wie bisher wird mit Sicherheit nicht zur Lösung, sondern nur zur Verschärfung der aktuellen und zukünftigen Probleme führen. Es ist daher höchst an der Zeit, mit der Entwicklung von neuen Denkmodellen zu beginnen und unser gefestigtes lineares „Entweder-oder-Denken“ abzulegen.

 Sowohl-als-auch

Die technische Vernetzung hat der Menschheit viele positive Errungenschaften gebracht. Leider neigen wir dazu, diese Seite überzubewerten und die möglichen Schattenseiten bis zu Ihrem Eintritt zu ignorieren. Unser abendländisches „Entweder-oder-Denken“ ist binär. Gut und schlecht, warm und kalt, trocken und heiß, gesund und krank, arm und reich, und so weiter. Die Betonung liegt auf „und“, nicht etwa auf „oder“. Dieser Aspekt steht uns häufig im Weg. Damit werden auch viele Handlungsspielräume eingeschränkt. Mit einem „Sowohl-Als-Auch-Denken“ lässt sich die Realität wesentlich besser abbilden. Sie ist nicht nur schwarz/weiß, sondern es gibt viele Graustufen dazwischen, wenngleich die Pole eine wichtige Rolle spielen und sich gegenseitig bedingen. Daher sollte es selbstverständlich sein, dass jede Sonnenseite auch eine Schattenseite hat. Mit diesem Bewusstsein kann man auch mit den im Alltag immer vorhandenen Widersprüchen und Ambivalenzen besser umgehen. Diese lassen sich häufig nicht auflösen, beziehungsweise führt das in der Regel nur zu Scheinlösungen. Daher sind wohl auch unsere derzeitigen parteipolitischen „Silodenken“ nicht dazu geeignet, die anstehenden Probleme nur ansatzweise zu lösen.

Bildung

Um mit diesen Entwicklungen schritthalten zu können, ist daher eine völlige Neuausrichtung erforderlich. Nicht nur in der Politik. Und das beginnt mit unserem Denken und mit unserer Sprache: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ (Ludwig Wittgenstein)

So lange der Begriff „Komplexität“ nur oberflächlich verwendet wird, jedoch die Zusammenhänge und vor allem Wechselwirkungen nicht wirklich erkannt und verstanden werden, werden wir nicht weiterkommen. Und das beginnt bereits in der Ausbildung, wo wir nach wie vor in Stundenfächern, Disziplinen und Instituten organisiert sind und das Querdenken eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Der Bildungssektor stellt einen Schlüsselsektor für die anstehenden fundamentalen Veränderungen dar, damit diese nicht weiterhin ein Thema für kleine Nischengruppen bleiben, sondern auch den Rest der Gesellschaft mitnehmen. Die Veränderungen finden auf jeden Fall unaufhörlich statt. Wir können entweder mitgestalten, oder wir werden gestaltet werden. Etwa, indem Europa und Österreich an globaler Bedeutung verlieren wird. Wir sehen das bereits heute, wo immer mehr gut ausgebildete junge Menschen das Land verlassen und sich dort niederlassen, wo die Rahmenbedingungen für eine aktive Zukunftsgestaltung auch passen. Wenn einer breiten Bevölkerungsschicht die Zusammenhänge und Wechselwirkungen dieser fundamentalen Metamorphose, wie Ulrich Beck die Transformation zur Netzwerkgesellschaft bezeichnete (Beck 2017), bekannt wären, könnten auch die Reibungsverluste deutlich reduziert werden. Ganz nach Erich Fried: „Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, der will nicht das sie bleibt.“

Aus- Fort- und Weiterbildung ist daher von zentraler Bedeutung, um mit den neuen komplexen Situationen und den erwartbaren steigenden Unsicherheiten in dieser Umbruchsphase umgehen zu lernen. Die gegenwertigen Bestrebungen, immer mehr Sicherheit durch noch mehr Regelungen und starre Grenzen zu schaffen, führt hingegen zu mehr Scheinsicherheit und reduziert die Handlungsfähigkeit und -kompetenz, um mit Unerwartetem umgehen zu können. Genau das Gegenteil von der intendierten Wirkung. Natürlich sind viele Menschen mit den Veränderungen überfordert, da ihnen auch die Zusammenhänge nicht bewusst sind. Sie neigen daher, einfachen aber falschen Versprechungen zu folgen. Rattenfänger haben daher Hochkonjunktur und befeuern den Nationalismus. Auch dem gilt durch Bildung entgegenzuwirken. Es geht jedoch nicht so sehr um die Wissenvermittlung an und für sich, sondern vielmehr um die Fähigkeit einer kritischen Reflexion und der Förderung des Bewusstseins dafür, dass in großen Umbruchphasen auch Vergessen von altem Wissen eine wichtige Leistung ist, um sich Neuem öffnen zu können. Nur so kann eine Anpassung und Weiterentwicklung erfolgen. Eine weitere Notwendigkeit ist die Kooperationfähigkeit und vernetztes Denken, da sich viele aktuelle und zukünftige Herausforderungen nur mehr systemübergreifend inter- bzw. transdisziplinär lösen lassen. Alles nicht ganz neu, wie ein Zitat des bereits vor über 40 Jahren verstorbenen American Football Trainers, Vince Lombardi, zeigt: „Menschen, die zusammenarbeiten, werden gewinnen. Sei es gegen komplexe Verteidigungen im Football oder gegen die Probleme moderner Gesellschaften.“ Diese Aussage ist aktueller denn je! Packen wir es an!

Literatur

Beck, Ulrich (2017): Die Metamorphose der Welt. Berlin: Suhrkamp

Casti, John (2012): Der plötzliche Kollaps von allem. Wie extreme Ereignisse unsere Zukunft zerstören können. München: Piper Verlag

Dueck, Gunter (2010): Aufbrechen! Warum wir eine Exzellenzgesellschaft werden müssen. Frankfurt am Main: Eichborn

Handelsblatt (2017): Raupen bedrohen Maisernte in Afrika. Internet:  http://www.handelsblatt.com/panorama/aus-aller-welt/herbst-heerwurm-raupen-bedrohen-maisernte-in-afrika/20626708.html (24.11.17)

Manky, Derek (2017): Fortinet’s Cyber Threat Landscape Predictions 2018. Internet: http://blog.fortinet.com/2017/11/14/fortinet-fortiguard-2018-threat-landscape-predictions?_ga=2.162659388.1231075590.1511461964-1284694870.1511461964 (23.11.17)

Mischel, Walter (2015): Der Marshmallow-Test. Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit. München: Siedler Verlag

Ossimitz, Günther/Lapp, Christian (2006): Das Metanoia-Prinzip. Eine Einführung in systemisches Denken und Handeln. Berlin: Franzbecker

Renn, Ortwin (2014): Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten. Frankfurt am Main: Fischer Verlag

Rifkin, Jeremy (2016): Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch

Saurugg, Herbert (2012): Die Netzwerkgesellschaft und Krisenmanagement 2.0. Wien-Budapest: Masterarbeit unter URL: /wp-content/uploads/2014/10/die_netzwerkgesellschaft_und_krisenmanagement_2.0.pdf (23.11.17)

Stöcker, Christian (2017): Ein Gott braucht keine Lehrmeister. Internet:  http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/kuenstliche-intelligenz-gott-braucht-keine-lehrmeister-kolumne-a-1175130-druck.html (23.11.17)

Taleb, Nassim Nicholas (2012): Der Schwarze Schwan. Konsequenzen aus der Krise. München: dtv

Taleb, Nassim Nicholas (2013): Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. München: dtv

Toffler, Alvin (1970): Future Shock. New York: Bantam Books

Toffler, Alvin (1980): The Third Wave. New York: Bantam Books

Vester, Frederic (2011): Die Kunst vernetzt zu denken. Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Ein Bericht an den Club of Rome München: Deutscher Taschenbuch Verlag

Kurzbiographie

Herbert Saurugg, MSc, (Jahrgang 1974) Experte für die Vorbereitung auf den Ausfall lebenswichtiger Infrastrukturen, war bis 2012 Berufsoffizier des Österreichischen Bundesheeres, zuletzt im Bereich IKT-/Cyber-Sicherheit. Seit 2012 beschäftigt er sich mit den möglichen Folgen und Schattenseiten der steigenden Vernetzung und Komplexität. Seine Aufmerksamkeit gilt dabei besonders den gesellschaftlichen Abhängigkeiten von den lebenswichtigen Infrastrukturen, deren Verwundbarkeit durch die Vernetzung stetig zunimmt. Er betreibt dazu einen umfangreichen Fachblog (www.saurugg.net). Saurugg ist als weitsichtiger Querdenker und als Mahner vor den Folgen eines europaweiten Strom- und Infrastrukturausfalls („Blackout“) über die Landesgrenzen hinaus bekannt.