Quelle: smarter-projekt.de

Eine Auswertung naturbedingter Großschadenslagen der letzten fünfzig Jahre in Deutschland

Wie verhält sich die Bevölkerung in Krisen und Katastrophen? Medial vermittelte und konstruierte Annahmen unterstellen häufig kopfloses, unüberlegtes Verhalten (Mythos Panik). Dies deckt sich nicht mit Ergebnissen jahrzehntelanger Katastrophenforschung. Es wurde stattdessen Gegenteiliges beobachtet. In Folgenden wird daher ein Überblick über das Bevölkerungsverhalten in Krisen und Katastrophen gegeben. Dabei wird aufgezeigt, dass durch eine Gefahrenlage zwar eine Neupriorisierung von Bedarfen und Handlungsorientierungen stattfindet – und sich als prosoziales und unterstützendes Verhalten äußert. Dies hat sich auch als generelle Tendenz bei verschiedenen Großschadenslagen seit der deutschen Nachkriegszeit gezeigt.

Somit sind Krisen und Katastrophen wesentliche Elemente der Gesellschaftsdynamik, die die Soziosphäre nachhaltig und dauerhaft verändern können (siehe Strategische Schocks)

Krisen und Katastrophen verursachen jedoch nicht, wie wiederholt angenommen, ein Herunterfahren von kritischem und rationalem Handlungen bei Individuen oder Gruppen. Vielmehr ist, wie im Alltag auch, nur eine begrenzte Rationalität Handelnder möglich, da direkte und indirekte Konsequenzen menschlichen Handelns nicht vollständig antizipiert werden können. Hingegen wird auf bewährtes Alltagswissen, mit entsprechender sensorischer und kognitiver Einschränkung durch die Stresssituation, zurückgegriffen.

Das beschriebene Aufbrechen alltäglicher sozialer Prozesse und sozialer Strukturen durch eine Krise oder Katastrophe bedeutet in diesem Zusammenhang daher auch keineswegs, dass ein Vakuum an sozialer Struktur, Werten und Normen entsteht. Somit greift auch nicht der Effekt einer sozialen tabula rasa, in der „everything goes“, als deviantes Verhalten in Abgrenzung zum Alltag, als gesellschaftliche Maxime und akzeptierte Sozialnorm gilt. Häufig unterstellte Verhaltensweisen wie Panik, Plünderung oder Aggression sind empirisch nicht belegt und sind ausnahmslos singuläre Ereignisse – die jedoch eine trügerischen Risikowahrnehmung unterliegen. Hingegen bedeutet es, dass andere Handlungsprinzipien in den Vordergrund rücken, die zu dem Zeitpunkt als wichtiger erachtet werden, da sie das Überleben sichern können und somit eine höhere Priorität genießen. Das Bewältigen der Katastrophen, hier im eigentlichen Sinne das Überleben, und gegenseitige Hilfe in der PostDesasterphase treten grundsätzlich an erste Stelle menschlicher Handlungsorientierung. Es sind manifeste Elementarformen sozialer Prozesse, die bei verschiedenen Katastrophenereignissen immer wieder zu Tage treten. So heißt sei über die zwischenmenschlichen Reaktionen beim Erdbeben in Friaul 1976, dass altruistisches Verhalten während der Katastrophe höher ausgeprägt war als im Alltag: „the immediate impact phase there was more altruistic and appropriate behavior than otherwise by individuals.”

Die Annahme, dass Menschen sich kopflos und irrational, mithin panisch, in großen Schadenslagen verhalten, fußt auf keiner empirischen Grundlage. Zwar ist das menschliche Verhalten nach Eintritt einer Katastrophe kontextabhängig (z.B. Art des Schadensereignisses) und emotionaler als im Alltag, aber statt dem häufig angenommenen Aggressions- und Fluchtverhalten überwiegt die Suche nach Anschluss und Zugehörigkeit bei den Betroffenen. Es geht in erster Linie darum, Geborgenheit und Schutz zu suchen und den Zustand wichtiger Bezugspersonen (z.B. Familien, Freunde, Kollegen) zu erfahren. Dieses Verhalten erzeugt wiederum keine Panik, in der „Menschen in Gefahrensituationen nicht nur um ihr Leben fürchten und kämpfen, sondern […] die Vorstellung von einer in Gefahrensituationen plötzlich eintretenden Massenpanik, die mit egoistischem, aggressivem und chaotischen Panikverhalten einhergeht, nicht zutreffend ist“.

Prosoziales Verhalten, das heißt aktive, gegenseitige Fürsorge, ist tendenziell die unmittelbare und mittelbare Reaktion von Betroffenen in Großschadenslagen. Dabei zeigt sich, dass Verhaltensunterschiede als direkte und unmittelbare Reaktion auf Katastrophen sowohl nations- und kulturübergreifend nur in marginaler Art und Weise auftreten. Selbst der situative Kontext und die Risikowahrnehmung der Betroffenen hatten nur einen geringen Einfluss auf ihr Verhalten, jedoch hatten der Selbstschutz und der Fremdschutz hohe Priorität und lässt sich unter grundsätzlicher gegenseitiger Unterstützung und Hilfsbereitschaft auffassen. Insbesondere gegenüber dem erweiterten sozialen Netzwerk konnte dauerhaft anhaltendes prosoziales Verhalten beobachtet werden bei den Betroffenen des Tsunami und Erdbebens in Japan 2011. Dort zeigte sich, dass das Erleben einer Katastrophe zu einem verstärkt prosozialen Verhalten gegenüber dem erweiterten sozialen Umfeld (Lehrer, Klassenkameraden) geführt hatte, während gegenüber dem engeren sozialen Umfeld (Eltern, Familie) das übliche fürsorgliche Sozialverhalten beibehalten wurden. Diese Änderungen waren auch noch 30 Monate nach der Katastrophe wahrnehmbar. Somit kann auch hier festgehalten werden, dass das Sprichwort „Krisen schweißen zusammen“ einen hohen Wahrheitsgehalt aufweist und sich auch wissenschaftlich belegen lässt.

Schneechaos Münsterland 2005

Eine Analyse des Ereignisses zeigt, dass die Betroffenen eine hohe Selbsthilfekompetenz und Hilfsbereitschaft aufwiesen: „Bürger versuchten sich in der Situation vor allem selbst zu helfen, indem sie entweder alleine oder zusammen mit Nachbarn aktiv selbst versuchten ihre Lage zu ändern […] [und] nur in wenigen Fällen von der Nutzung der Notunterkünften gesprochen wird“. Dies deckt sich weitgehend auch mit den Berichten von Schneechaos-Betroffenen, die da ebenso von umfangreichen, auch augenzwinkernden Maßnahmen der Nachbarschaftshilfe und der Selbsthilfe berichten, bspw. dem Noteinkauf von alkoholischen Getränken.

„Wie bereits erwähnt spielt auch die ad-hoc Unterstützung der Einsatzkräfte durch die zivile Bevölkerung eine wichtige Rolle. So unterstützen beispielsweise Bauern die Krisenmanagementmaßnahmen durch Traktoren, Bürger formieren freiwillige Hilfstrupps, die vor allem bei der Versorgung anderer Bürger und bei kleineren Notlagen helfen. Auch bestimmte Berufsgruppen wie z.B. Bauern, Bäcker oder bestimmte Handelsunternehmen zeigen hier besondere Mithilfe, indem sie nachts oder unter besonderen Umständen wichtige Güter verkaufen oder Leistungen erbringen, die über das eigentliche Maß hinausgehen.“

Hier zeigt sich erneut, wie bereits bei vorangegangen Großschadenslagen, dass (Lokal-) Bevölkerung und BOS Hand-in-Hand zusammenarbeiteten, um die Auswirkungen der Schadenslage zu begrenzen und unnötige Härten für Betroffene zu reduzieren. Trotz der weitläufigen regionalen Betroffenheit durch den Stromausfall sind die materiellen Schäden sowie tragische Verluste an Nutztieren verhältnismäßig gering gewesen und menschliche Verluste waren nicht zu beklagen. Beklagt wurde hingegen gelegentlich der Mangel an Lageinformationen.

Es lässt sich somit festhalten, dass verstärktes prosoziales Verhalten in vielen Gesellschaften nach Schadenslagen beobachtet werden konnte. Auch in Deutschland wurde und wird vielfach von der hohen Hilfsbereitschaft berichtet, die selbst von NichtDirektbetroffenen ausgeht. Als Ausblick ist daher anzuregen, dass, so hat es sich bei den Ereignissen in den letzten Jahren und Jahrzehnten gezeigt, ein gute Krisenkommunikation wesentlich zum raschen Abarbeiten von Schadenslagen beitragen kann. Deshalb sollte insbesondere Wert darauf gelegt werden, den Betroffen aktuelle und gesicherte Lageinformationen zukommen zu lassen. Ebenso ist die Handlungsorientierung einerseits und das Vertrauen in die Fähigkeiten ungebundener Helfer andererseits wichtig, um eine solides Fundament für die gegenseitige Zusammenarbeit zu schaffen. Und vor allem ist es wichtig festzuhalten, dass kopfloses, antisoziales Verhalten die Ausnahme ist, während der Regelfall die Selbsthilfe, Selbstorganisation und vor allem auch die Hilfe für Dritte ist.

Zusammenfassung und Ausblick

Betrachtet man verschiedene, naturereignisbedingte Großschadenslagen in Deutschland der letzten fünfzig Jahre, so zeigt sich, dass nicht nur die Art der unterschiedlichen Schadenslagen, sondern auch regionale, personelle, strukturelle und institutionelle Faktoren entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung und den Verlauf einer Lage hatten. Es zeigte sich ferner, dass eine Interaktion zwischen den Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) und der betroffenen Bevölkerung durchaus vielfältig sein kann und sich an den jeweiligen Bedarfen orientiert, d.h. dass sie keineswegs einseitig ist und nur von den BOS bzw. nur von der Bevölkerung ausgeht. Dabei umfassen die gegenseitigen Maßnahmen u.a.:

  • der Bereitstellung von Informationen und Arbeitsmaterial,
  • der Versorgung mit Unterkunft und Verpflegung,
  • den Austausch über lokale Gegebenheiten (z.B. Zugang zu örtlichen Wasserstellen, Deichverteidigung) und
  • der Koordination von ungebundenen Helfern.

Häufig geht dabei die Initiative von den BOS aus, insbesondere in Bezug auf die Krisenkommunikation durch Verhaltensempfehlungen und Information der Bevölkerung und bei personellen Kapazitätsengpässen beim Rückgriff auf freiwillige, ungebundene Helfer. Während die Krisenkommunikation auf den Informationsvorsprung der BOS zur Schadenslage und dem richtigen Umgang damit zurückgeht, stellen ungebundene Helfer für die BOS zwar eine starke Stütze dar, sind jedoch mit einer potentiellen Unwägbarkeit verbunden. Ungebundene Helfer sind ein wesentlicher Beitrag zur häufig benötigten Arbeitskraft um großflächige Schadenslagen zu bewältigen. Zusätzlich verfügen sie, insbesondere in ländlichen Gebieten, über Wissen der Lokalinfrastruktur, z.B. Wasserzugänge, Deichverteidigung, etc., welches überregional hinzugezogene Einsatz- und Führungskräften nicht (immer) besitzen.

Ungebundene Helfer sind somit ein essentieller Baustein in der erfolgreichen Abarbeitung und Beseitigung von Großschadenslagen. Die potentielle Unwägbarkeit von Ungebundenen für die BOS stellt die empfundene (und teils auch reelle) fehlende Hierarchie, Weisungsbefugnis und Kontrolle dar. Hier befeuert der Aspekt von Social Media das Unbehagen der fehlenden Möglichkeit der Koordinierung und Kanalisierung der Hilfsbereitschaft. Gleichzeitig ermöglicht Social Media, gesteuert durch die Kommunikation der Betroffenen bzw. der BOS, die Initiative der Bevölkerung aktiv an der Abarbeitung von Schadenslagen mitzuwirken. Hierbei ist die Krisenkommunikation durch BOS elementar, um weiter greifendes, unterstützendes Bevölkerungsverhalten zu fördern. Denn auch ohne die „Steuerung von oben“ organisieren sich Betroffene untereinander und fallen insbesondere durch Hilfsbereitschaft und Empathie auf und dieses Potential ist zu nutzen.

Betroffene von größeren und Großschadenslagen bieten sich gegenseitige Unterstützung in Form von der Bereitstellung von Zufluchts- und Schlafmöglichkeiten, der Verpflegung, der Versorgung mit benötigten Ressourcen (Notstromerzeugung, Decken, etc.) sowie durch die eigene Arbeitsleistung und Bereitstellung von eigenen Fähigkeiten und Kenntnissen (medizinische Hilfe, Informationsvermittlung, Anleitung zur Selbsthilfe). Ferner, und das ist ebenfalls ein wesentliches Element in der Bewältigung von Großschadenslagen, bieten sie anderen emotionalen Beistand in den psychisch und körperlich belastenden Situationen.

Kommentar

Damit wird einmal mehr der „Mythos Panik“ unterstrichen, der gerne von Verantwortungsträgern als verantwortungsloses Argument für das eigene Nichthandeln herangezogen wird. Ein Aspekt, der bei einem europaweiten Strom- und Infrastrukturausfall („Blackout“) wahrscheinlich anders sein wird ist, dass für die Masse der Bevölkerung keine Infrastrukturschäden ersichtlich sind und sie daher im Gegensatz zu den meisten anderen Katastrophen nicht mit der Schadensbeseitigung beschäftigt sind. Das kann durchaus zu enormen Stressreaktionen führen, da man zum nichtstun und abwarten verdonnert ist. Hier wäre es sinnvoll, die Menschen nach Möglichkeit mit sinnvollen Aufgaben zu beschäftigen: Unterstützung in der Nachbarschaft, Gemeinschaftsaktionen, Aufräum- oder Müllbeseitigungsaktivitäten, gemeinsames Kochen, Sport, etc. Die Schwierigkeit ist dabei halt, das ohne große Kommunikationsmöglichkeiten zu organisieren. Hier wären wiederum Selbsthilfe-Basen sehr hilfreich. Vorbereitete Überlegungen würden das Ganze nochmals vereinfachen. Wir können etwas tun und sind nicht hilflos ausgeliefert!