Expertenbewertung und dringende Herausforderungen
In einer aktuellen Folge des Podcasts „geladen“ diskutieren Professor Christoph Bauer von der TU Darmstadt und Dr. Serafin von Rohn von der Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FFE) den Zustand des deutschen Strommarktes. Ihre Einschätzungen zeichnen ein gemischtes, teils alarmierendes Bild und verdeutlichen die komplexen Herausforderungen der Energiewende.
Das Zeugnis für den deutschen Strommarkt: „Versetzung gefährdet“
Professor Bauer vergibt in seinem Zwischenzeugnis für das deutsche Stromsystem unterschiedliche Noten:
- Versorgungssicherheit: Note 2
- CO2-Intensität: Note 2
- Kosteneffizienz: Note 4 minus
- Zukunftsorientierung: Note 5
Sein Fazit: Die Versetzung ist gefährdet.
Dr. von Rohn differenziert nach Sektoren und gibt dem Ausbau der erneuerbaren Energien isoliert betrachtet ebenfalls eine 2, während er den dringend benötigten ergänzenden Kapazitäten (gesicherte Leistung) eine 5 oder 6 gibt. Die Netze bewertet er unterschiedlich: Verteilnetze erhalten eine 2, Übertragungsnetze eine 4, da sie „hinten dran“ seien. Bei der Digitalisierung sieht er massiven Nachholbedarf, der für das Zusammenspiel der dezentralen Anlagen entscheidend ist.
Die Kernprobleme: Dunkelflauten, Hellstürme und fehlende Infrastruktur
Ein zentrales Problem sind die sogenannten „Dunkelflauten“: Stunden mit hohem Verbrauch (oft im Winter) bei geringer Einspeisung aus Wind und Sonne. Früher durch gesicherte Kapazitäten abgedeckt, wurden diese in den letzten Jahren stark reduziert. Da der geplante Ersatz durch neue, wasserstofffähige Kraftwerke stockt, steigen die Preise in solchen Situationen stark an. Deutschland ist auf Importe angewiesen, was die Preise bei den Nachbarn erhöht und zu Unmut führt.
Das Gegenteil sind „Hellstürme“ oder „Hellbriesen“, Zeiten mit sehr hoher Einspeisung aus erneuerbaren Energien. Aufgrund des gigantischen Ausbaus von Wind und PV, deren Investitionen durch das EEG bzw. den Staatshaushalt garantiert sind und die variablen Kosten nahe null haben, wird Strom auch bei Preisen um oder unter null produziert. Dies führt zu häufigen Überschüssen und Exporten zu negativen Preisen, was quasi Entsorgungskosten bedeutet. Auch hier stößt Deutschland an Grenzen, da die Nachbarn die deutschen Überschüsse immer weniger entsorgen können.
Beide Situationen verschärfen sich, weil der Ausbau der Stromnetze viel langsamer voranschreitet als der Ausbau der Erneuerbaren. Dies führt zu Engpässen, insbesondere beim Transport von Windstrom aus dem Norden in den Süden. Die Folge ist die Abregelung von Windenergieanlagen im Norden und das Hochfahren von Kraftwerken im Süden – sogenannte Redispatch-Maßnahmen. Die Kosten dafür waren im letzten Jahr rund 2 Milliarden Euro und werden über die Netzentgelte von der Allgemeinheit getragen – Tendenz steigend.
Professor Bauer bringt es auf den Punkt: Das Kernproblem ist, dass Wind und Photovoltaik ausgebaut und Kraftwerke stillgelegt werden, ohne Rücksicht auf die Infrastruktur. Er fordert, dass endlich die Realität anerkannt wird und das Primat bei den Netzen, der Infrastruktur, liegt. Man könne mit den anderen Maßnahmen nicht weitermachen, wenn die Infrastruktur nicht schneller ertüchtigt wird. Dies führt zu enormen Ineffizienzkosten.
Kostenentwicklung und die Rolle von Speichern und Digitalisierung
Die Hoffnung, dass die Energiewende langfristig zu deutlich günstigerem Strom führt, wird relativiert. Zwar senkt der Ausbau der Erneuerbaren die Großhandelspreise in Zeiten hoher Einspeisung, doch der Großhandelspreis macht nur einen kleinen Teil der Stromrechnung aus. Die Netzentgelte sind gestiegen. Unter aktuellen Bedingungen (hohe Gaspreise, zukünftig hoher CO₂-Preis) können die Strompreise in einem gut synchronisierten System bestenfalls stabil und wettbewerbsfähig zu fossilen Alternativen bleiben.
Großbatteriespeicher könnten eine Lösung sein, um Überschüsse aufzunehmen und in Dunkelflauten einzuspeisen. Allerdings sind die Dimensionen und Kosten enorm. Allein um die Importe an einem beispielhaften Tag von 15 GW auf 5 GW zu deckeln, wären laut Bauer 131 GWh Speicherkapazität nötig, geschätzte Kosten: 26 Milliarden Euro. Batteriespeicher rechnen sich bei den aktuellen Preissprüngen und werden zunehmend Bedeutung erlangen, doch ihre Kosten gehören zu den Systemkosten. Auch private Hausspeicher nehmen zu, was dazu führt, dass deren Besitzer Netzentgelte umgehen und die Kosten auf andere verlagern.
Entscheidend für das Funktionieren dieser dezentralen Flexibilitäten und Speicher ist die Digitalisierung des Netzes und die schnelle Installation von Smart Metern. Hier gibt es laut beiden Experten massiven Nachholbedarf, und das notwendige Tempo (u.a. wegen Fachkräftemangels) wird voraussichtlich erst deutlich nach 2030 erreicht.
Alternativen zur Preisfindung: Merit Order, Nodal Pricing, Strompreiszonen
Das aktuelle Marktmodell folgt dem Merit-Order-Prinzip, bei dem das teuerste zur Bedarfsdeckung benötigte Kraftwerk den Preis für alle bestimmt. Dieses Prinzip, das historisch aus der Liberalisierung der Monopole hervorgegangen ist, minimiert theoretisch die Einsatzkosten der Kraftwerke. Kritisiert wird es wegen der entstehenden „Übergewinne“ bei hohen Preisen und der Refinanzierungsprobleme für Erneuerbare bei Preisen nahe null oder im negativen Bereich. Dr. von Rohn ist grundsätzlich vom Merit-Order-Prinzip überzeugt, da Preissprünge die richtigen Investitionssignale setzen (z.B. für Batterien) und neue Nachfrager (Elektrolyseure, bidirektionales Laden) in Zukunft preissetzend wirken.
Alternativen wie „Nodal Pricing“ (lokale Preise an jedem Netzknoten/Transformator) wären theoretisch ideal, um die tatsächlichen physikalischen Engpässe abzubilden und Anreize für den optimalen Standort von Erzeugern und Verbrauchern zu setzen. Sie erfordern jedoch ein vollständig digitalisiertes Netz. Für Professor Bauer sind solche Konzepte angesichts der dringenden kurzfristigen Probleme nicht vorrangig relevant.
Die Einführung von Strompreiszonen in Deutschland (eine gröbere Unterteilung des Landes) wird ebenfalls diskutiert. Dies wäre theoretisch ökonomisch sinnvoll, um Engpässe zu bepreisen, birgt aber massive organisatorische und wirtschaftliche Risiken für Unternehmen mit Standorten auf beiden Seiten einer solchen Grenze. Beide Experten sind sich einig, dass die politische und gesellschaftliche Akzeptanz in Deutschland gering ist. Der Hauptdruck zur Diskussion über Strompreiszonen kommt jedoch von den Problemen, die Deutschlands Engpässe bei den Nachbarn verursachen (Ringflüsse durch deren Netze).
Die Kohle- und Kernkraftfrage
Angesichts der Engpässe und des Stockens beim Neubau gesicherter Kapazitäten ist die Frage, ob der Kohleausstieg wie geplant fortgesetzt werden kann. Professor Bauer fordert eine radikale Maßnahme: Kein Kraftwerk mehr abschalten, bis Ersatz da ist. Stilllegungswillige Kraftwerke sollten in die Netzreserve. Dr. von Rohn ergänzt, dass das Weiterlaufenlassen von Kohlekraftwerken aus Systemsicherheitsgründen, wenn sie selten laufen, klimapolitisch weniger schädlich ist als das Fehlen von Ersatzkapazitäten.
Die Debatte um die Kernkraft (wieder)aufzunehmen wird ebenfalls gestreift. Professor Bauer, der sich als kein Fan der Energiewende, wie sie heute gemacht wird, bezeichnet, plädiert für eine vorbehaltlose Prüfung der Wiederinbetriebnahme der kürzlich stillgelegten, noch voll funktionsfähigen Kernkraftwerke, falls dies wirtschaftlich und zeitlich umsetzbar wäre. Neubau sieht er als unwahrscheinlich an (über 10 Jahre Vorlauf), und Small Modular Reactors (SMRs) existieren noch nicht kommerziell. Dr. von Rohn hält die Diskussion um Kernkraft für primär wahlkampftaktisch und glaubt nicht an einen Wiedereinstieg, auch wenn jüngste Meldungen über die technische Möglichkeit einer Wiederinbetriebnahme durch die Rückbaugesellschaft Moocam der Debatte neue Impulse geben könnten.
Fazit
Das Gespräch unterstreicht die Dringlichkeit der Lage im deutschen Strommarkt. Während der Ausbau der erneuerbaren Energien gut voranschreitet, hinken die Netzinfrastruktur, gesicherte Kapazitäten und die Digitalisierung deutlich hinterher. Dies führt zu steigenden Kosten und Ineffizienzen. Die Experten sind sich einig, dass kurzfristig radikale Maßnahmen nötig sind, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, insbesondere die Priorisierung des Netzausbaus und das Überdenken des Abschaltfahrplans für konventionelle Kraftwerke, bis ausreichend Ersatz vorhanden ist. Längerfristige Lösungen hängen stark vom Fortschritt bei Netzausbau, Digitalisierung und dem Aufbau flexibler, klimafreundlicher Kapazitäten ab.