Beitrag zur Essay-Sammlung der Wiener Gespräche (alite)
Die klassische Definition von Souveränität als „höchste Gewalt im Staat“ mit dem Monopol auf Machtausübung innerhalb festgelegter Grenzen stammt aus einer Zeit, in der Bedrohungen noch sichtbar und territorial begrenzt waren. Bereits im 16. Jahrhundert prägte Jean Bodin den Begriff als „höchste Letztentscheidungsbefugnis im Staat“. Doch diese Vorstellung greift im 21. Jahrhundert, im Zeitalter einer globalen Vernetzung, wie wir sie bisher nicht kannten, oder einer hybriden Kriegsführung mit Cyberangriffen, Desinformationskampagnen und Sabotageakte auf Kritische Infrastrukturen, ohnehin zu kurz.
Heute sollten wir vielmehr an funktionale Souveränität denken. Damit ist die Fähigkeit einer Gesellschaft gemeint, mit weitreichenden Ausfällen und Störungen lebenswichtiger Infrastrukturen und Versorgungsketten umzugehen. Denn es geht nicht mehr so sehr um die Kontrolle von Territorium oder der Bevölkerung, sondern um die Überlebensfähigkeit und die Beherrschung komplexer, vernetzter Systeme und Abläufe: von der Stromversorgung über digitale Infrastrukturen bis hin zu hochvernetzten Lieferketten. Denn von diesen sind wir mittlerweile existenziell abhängig. Ohne diese Lebensadern würde unsere mitteleuropäische Gesellschaft binnen kürzester Zeit kollabieren. Dass es der ukrainischen Bevölkerung trotz der verheerenden Ausfälle noch immer gelingt, das Leben am Laufen zu halten, ist höchst bewundernswert. Ob das in unserer mitteleuropäischen Gesellschaft auch so funktionieren würde, ist zu bezweifeln, allein schon, weil der entsprechende Wehrwille fehlt.
Die Bedrohung der eigenen Souveränität erstreckt sich somit weit über die Grenzen des eigenen Staatsgebiets hinaus. Der Zugang „Was interessiert mich, wenn in China ein Sack Reis umfällt?” hat spätestens seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie oder dem aktuellen Zollkrieg der USA an Bedeutung verloren. Alles hängt mit allem zusammen und kann daher zu überraschenden Schocks führen.
Die Pandemie hat drastisch offengelegt, wie verletzlich selbst mächtige Staaten sind, wenn kritische Systeme versagen. Plötzlich war nicht mehr entscheidend, wer die stärkste Armee besitzt, sondern wer über resiliente Gesundheitssysteme, funktionsfähige Lieferketten und stabile digitale Infrastrukturen verfügte.
Drei zentrale Risikofelder der modernen Verwundbarkeit
Vernetzung und Komplexität: Die überschätzte Metastabilität unserer Systeme
Moderne Gesellschaften und vernetzte Infrastrukturen sind metastabile Systeme: Sie wirken stabil, solange sie nur schwach gestört werden. Ihre eigentliche Verwundbarkeit zeigt sich erst bei größeren Erschütterungen. Denn durch die Vernetzung entstehen nicht nur mehr Stabilität, sondern auch systemische Risiken mit der Gefahr von kaskadierenden Ausfällen. Um die Stabilität bei zunehmender Vernetzung aufrechterhalten zu können, sind robuste Unterstrukturen notwendig. Andernfalls droht der Kollaps.
Das Verletzlichkeitsparadoxon verschärft die Situation: Je sicherer ein System zu sein scheint, desto verwundbarer ist es für größere Störungen, da die notwendigen Handlungskompetenzen für den Krisenfall nicht trainiert werden oder sogar fehlen. Unsere hochoptimierte und „Just-in-time“-organisierte Gesellschaft hat systematisch Redundanzen und Puffer abgebaut, die in Krisenzeiten überlebenswichtig wären. Dies betrifft sowohl Individuen als auch Unternehmen und den Staat selbst. Ein Fluch der sehr hohen Versorgungssicherheit.
Gleichzeitig ist es immer wieder erstaunlich, wie wenig eigentlich schiefgeht, wenn man bedenkt, was alles möglich wäre. Dennoch gibt es keine Garantie dafür, dass das auch morgen noch so stimmt. Das verleitet auch dazu, die Scheinsicherheit und Selbsttäuschung zu erhöhen. Es gibt einfach keine hundertprozentige Sicherheit, egal welchen Aufwand man betreibt.
Wachsamkeit, Früherkennung und eine adäquate Reaktionsfähigkeit werden daher immer wichtiger, um mit den immer knapper werdenden Ressourcen dennoch eine Wirksamkeit zu erreichen. Dass wir hier noch erheblich Luft nach oben haben, zeigen unzureichende Warnungen vor Extremwetterereignissen, die, wenn überhaupt, auf eine unzureichende Reaktionsfähigkeit und Selbstwirksamkeit vieler Menschen stoßen.
Ein anderes Beispiel ist der Einmarsch in die Ukraine. Hatte man nicht immer geglaubt, dass man solche Entwicklungen rechtzeitig erkennen und langfristig darauf reagieren könne? Nach mehr als drei Jahren Krieg in der Ukraine und einer möglichen weiteren Eskalation in Richtung Europa ist davon jedoch wenig zu beobachten. Zwar gibt es zahlreiche Ankündigungen, doch die Anpassungsgeschwindigkeit passt bei weitem nicht zu den realen Entwicklungen.
Es ist daher davon auszugehen, dass weitere strategische Überraschungen und Schocks folgen werden, die auch die nationale Souveränität erschüttern werden.
Volatile Stromversorgung und systemische Energierisiken
Ein weiteres Risikofeld, das sich seit Jahren abzeichnet, ist die europäische Energie- und insbesondere Stromversorgung. Die Energiewende bringt grundlegende Herausforderungen mit sich, die weit über technische Fragen hinausgehen. Der Übergang von wenigen großen, ständig verfügbaren Kraftwerken zu Millionen kleinen, wetterabhängigen Anlagen stellt das Stromsystem vor völlig neue Herausforderungen. Nicht nur im Hinblick auf die wetterabhängige Erzeugung, sondern auch, weil sich mit dem zunehmenden Einsatz von Leistungselektronik das Systemverhalten drastisch verändert, wie der Blackout auf der iberischen Halbinsel Ende April 2025 gezeigt hat.
Von einer zwingend erforderlichen systemischen Strukturanpassung ist jedoch weit und breit nichts zu erkennen. Vielmehr verliert sich die Politik in destruktivem Mikromanagement, anstatt eine weitsichtige Governance sicherzustellen. Diese erfordert – wie immer in Zeiten von großen Unsicherheiten und Umbrüchen – weniger Regeln und Einschränkungen, denn nur mit entsprechenden Freiheitsgraden können die zwingend erforderlichen Innovationen und Anpassungen gelingen. Andernfalls droht eine „Schöpferische Zerstörung“, also die Erneuerung durch die Zerstörung des Alten durch etwas Neues, was in diesem Fall katastrophal enden könnte.
Dunkelflauten, also Perioden ohne nennenswerten Wind und Sonnenschein, können in Mitteleuropa mehrere Tage oder sogar Wochen andauern und treten mehrmals jährlich auf. Während dieser Phasen geht die Stromerzeugung aus wetterabhängigen Quellen massiv zurück. Gleichzeitig wollen wir unsere gesamte zukünftige Energieversorgung auf genau diesen Quellen aufbauen. Die dafür erforderlichen Speicher sind jedoch auf absehbare Zeit nicht realisierbar. Weder technisch noch finanziell. Ob das Konzept aufgeht, sich im Fall des Falles auf die Nachbarländer verlassen zu können, die ein ähnliches Konzept verfolgen, ist mehr als fraglich. Immer häufiger stellt sich die Frage, ob der Kaiser noch Kleider trägt.
Neben der Dunkelflaute und täglichen Unterdeckung aus wetterabhängigen Quellen führt der enorme Zubau von Photovoltaikanlagen in fast ganz Europa zu einem neuen Phänomen: der „Hellbrise“. Damit sind Zeiten gemeint, in denen viel zu viel Strom produziert wird. Dies macht sich in Form von immer häufiger auftretenden negativen Strompreisen bemerkbar. Waren es 2022 in Deutschland 70 Stunden, in denen für die Stromabnahme sogar draufgezahlt werden musste, waren es 2023 bereits 301 Stunden. 2024 waren es 457 Stunden, welche 2025 bereits im August erreicht wurden. Während vor wenigen Jahren noch Tagesschwankungen von maximal 50 Euro an der Tagesordnung waren, sind es heute 100 bis 200 Euro. Der Trend ist weiterhin steigend. Diese Entwicklungen sind nicht nur wirtschaftlich und gesellschaftlich eine enorme Herausforderung, sondern belasten auch die Netze und die Systemstabilität. Leider wurde verabsäumt, rechtzeitig mit dem Ausbau von Netzen und Speichern zu beginnen. Nun versucht man, die Versäumnisse mit einem Flickenteppich an Regulatorien zu beheben. Das führt jedoch nur zu einer Verschlimmerung der Probleme und einer gleichzeitigen Erhöhung der Komplexität. Eine systemische Governance ist in ganz Europa nicht erkennbar. Der Krug geht bekanntlich so lange zum Brunnen, bis er bricht.
Als ob das nicht genug wäre, macht die gleichzeitig zwingend erforderliche Digitalisierung das Energiesystem zwar effizienter, aber auch komplexer und anfälliger für Cyberangriffe und Technikversagen. Denn wie die Erfahrungen aus dem Telekommunikationssektor seit vielen Jahren zeigen, sind nicht Cyberangriffe, sondern ständig steigende technische Störungen für den Großteil der Versorgungsausfälle verantwortlich.
Die zunehmende Abhängigkeit von IT-Komponenten in allen Bereichen der Energieversorgung schafft daher völlig neue Bedrohungsszenarien. Jüngste Berichte über die mögliche missbräuchliche Fernsteuerung von Anlagen oder, noch schlimmer, über die Gefährdung des Stromversorgungssystems durch mangelnde Qualität und Billigprodukte aus China verdeutlichen dies eindrucksvoll.
Globale Lieferketten: Die Fragilität der Just-in-Time-Gesellschaft
Ein drittes Risikofeld sind unsere Lieferketten, die sich zu einem der größten systemischen Risiken unserer Zeit entwickelt haben. Sie erstrecken sich über Kontinente, nutzen eng getaktete Transport- und Lieferfenster und haben durch Effizienzoptimierung Bestände, Kosten und Durchlaufzeiten systematisch reduziert. Das Ganze jedoch auf Kosten der Robustheit. Das Just-in-Time-Prinzip ist in unsicheren Zeiten besonders fragil. Die Unterbrechung einer wichtigen Verbindung kann, wie der Ever-Given-Zwischenfall im Suezkanal 2021 oder die Halbleiter-Knappheit nach Naturkatastrophen in Asien dramatisch gezeigt haben, ganze Produktionsketten zum Erliegen bringen. Auch wenn inzwischen dazugelernt und Verbesserungen vorgenommen wurden, bleiben die ursächlichen Probleme komplexer Strukturen bestehen. Der wichtigste Aspekt, nämlich, dass ein Kollaps in komplexen Systemen kein Fehler ist, sondern ein Grundmerkmal, das eine Erneuerung von innen heraus ermöglicht, bleibt häufig unbeachtet.
Ein Aufruf zur kollektiven Souveränität
Wahre Souveränität entsteht im 21. Jahrhundert daher nicht durch Abschottung oder Polarisierung, sondern durch Vernetzung, Kooperation und eine Vorbereitung auf das Unerwartete. Nicht durch Dominanz, sondern durch Resilienz. Nicht durch Kontrolle über andere, sondern durch Beherrschung der eigenen systemischen Verwundbarkeiten. Dazu gehört eine selbstwirksame Bevölkerung.
Hierzu ist jedoch eine entsprechende Sicherheitskommunikation erforderlich, die Risiken nicht herunterspielt, sondern bei der Wiedererlangung der Selbstwirksamkeit unterstützt. Dies beginnt bereits in der Schule mit der Vermittlung entsprechender Kompetenzen.
In Schulen, Universitäten und Weiterbildungseinrichtungen muss Bildung und Aufklärung über systemische Risiken verankert werden. Jede Bürgerin und jeder Bürger sollte zur Risikomündigkeit befähigt werden, die Grundlagen der Krisenvorsorge kennen und im Krisenfall eigenverantwortlich handeln können, ohne sich auf organisierte Hilfe zu verlassen, die in solchen Fällen immer nur unzureichend zur Verfügung stehen wird.
Medien haben die Aufgabe, komplexe Zusammenhänge verständlich zu vermitteln. Staatliche Akteure müssen ehrlich kommunizieren, was von staatlichen Strukturen in außergewöhnlichen Krisen zu erwarten ist – und vor allem, was nicht. Nur so wird es gelingen, das zunehmend abnehmende Vertrauen wieder herzustellen.
Die Herausforderungen unserer Zeit – von Klimawandel über Cyberbedrohungen bis hin zu Pandemien – lassen sich nur gemeinschaftlich bewältigen. Wir müssen dazu auch die zunehmende Erstarrung und toxische Polarisierung überwinden und eine Aufbruchstimmung vermitteln.
Souverän ist nicht, wer andere beherrscht, sondern wer vorbereitet ist, um mit großen Überraschungen und Unsicherheiten umzugehen. So wie Resilienz nicht nur Widerstandsfähigkeit, sondern insbesondere Anpassungs- und Lernfähigkeit bedeutet. Im besten Fall, bevor der Schaden eingetreten ist.
Die Zeit des Wartens ist vorbei. Die Risiken sind real, die Lösungen bekannt, die Technologien verfügbar. Was fehlt, ist der politische und gesellschaftliche Wille zur systemischen Transformation und der gesellschaftliche Mut zur Veränderung. Beginnen wir heute – in unseren Familien, Gemeinden, Unternehmen und Institutionen. Denn funktionale Souveränität und Krisenfitness entstehen nicht in Hauptstädten, sondern in den vernetzten Zellen einer resilienten Gesellschaft.
