Dieser Beitrag wurde mit Zustimmung von Marcel Linnemann übernommen.
Das Duffing-Modell? Was soll das eigentlich sein?
Habt ihr mal vom Duffingmodell gehört? Ich bis vor einigen Wochen auch noch nicht. Und dabei ist das Modell aus elektrotechnischer Sicht wirklich alles andere als langweilig und unrelevant für die Energiewende. Wer jetzt denkt oh mein Gott Elektrotechnik, dass wollte ich nie studieren, den kann ich an dieser frühen Stelle sagen das Lesen und Durchhalten lohnt sich und auch wenn ihr gleich ein paar Formeln sehen werdet, ich werde alles ausführlich und auch bildlich erklären.
Denn das Duffingmodell hilft uns, ein Phänomen zu verstehen, das in den Stromnetzen immer wichtiger wird: nichtlineares Verhalten. Mit anderen Worten: warum sich unser Stromnetz manchmal anders, komplizierter und überraschender verhält, als man es auf den ersten Blick erwarten würde. Gerade in Zeiten der Energiewende, mit all den neuen Wärmepumpen, E-Autos, Solaranlagen und dem Rückzug der großen Kraftwerke, geraten die Netze häufiger in Bereiche, die nicht mehr „schön linear“ reagieren — und genau hier kommt das Duffingmodell ins Spiel. In diesem Beitrag nehme ich euch mit auf eine Reise durch die lineare Welt von früher, die komplexe Realität von heute und erkläre Schritt für Schritt, warum wir nicht auf dem Maximum der Kurve laufen sollten, wie viele „Springer“ unser Netz aushält und was wir tun können, um es stabil zu halten. Also: bleibt dran, auch wenn es mal etwas wackelt — genau das gehört nämlich zum Thema.
Das Besondere am Duffing-Modell ist: es zeigt uns, was passiert, wenn die Dinge eben nicht mehr schön linear laufen. Je weiter wir das System auslenken, desto deutlicher wird der nichtlineare Effekt: die Rückstellkraft verhält sich nicht mehr einfach proportional zur Auslenkung, sondern kann „überraschend“ reagieren — zum Beispiel schwächer oder stärker als erwartet. Auf einmal können kleine Änderungen riesige Folgen haben, das System kann in einen ganz anderen Zustand springen oder sogar chaotisch werden.
Und genau dieses Verhalten lässt sich nicht nur bei Federn und Schaukeln beobachten, sondern auch im Stromnetz. Denn auch das Stromnetz ist im Kern ein riesiges schwingendes System: Spannung und Frequenz pendeln ständig hin und her, und früher — mit wenigen, großen, trägen Kraftwerken — blieb das alles brav und vorhersagbar. Doch heute, mit der Energiewende, sieht es anders aus: Millionen Wärmepumpen, E‑Autos, Solaranlagen und immer weniger große Generatoren sorgen dafür, dass das Netz öfter an seine Grenzen der Linearität kommt.
Um zu verstehen, warum das Netz plötzlich unruhiger, sprunghafter und weniger beherrschbar wirkt, hilft es, den Blick auf das Duffing-Modell zu richten.
Der Unterschied zwischen einem „normalen“ Schwinger und einem Duffing-Oszillator lässt sich am besten fühlen, wenn man ihn sich als Spielzeug vorstellt. Stell dir eine kleine, elastische Feder vor, an der ein Gewicht hängt. Wenn du das Gewicht leicht zur Seite ziehst und loslässt, schwingt es ganz gleichmäßig hin und her, immer im gleichen Takt, immer schön sinusförmig. Je mehr du es auslenkst, desto stärker zieht es zurück — und genau in dem Maß, wie du es gezogen hast. Das ist der lineare Oszillator: vorhersehbar, brav, wie eine gut geölte Schaukel auf einem Spielplatz.
Beim Duffing-Oszillator hingegen spielt die Feder plötzlich ihre eigenen Regeln. Anfangs tut sie noch so, als wäre alles normal. Du ziehst etwas fester, und sie zieht etwas kräftiger zurück. Aber wenn du immer weiterziehst, beginnt die Feder, sich komisch zu verhalten. Sie wird auf einmal „bockig“. Erst wird sie überraschend weich, dann vielleicht plötzlich steif, und irgendwann knickt sie regelrecht weg oder „springt“ auf die andere Seite. Statt brav hin und her zu schwingen, macht das System wilde Dinge: es kann in eine andere Schwingung umschalten, viel stärker ausschlagen als erwartet, oder zwischen mehreren Zuständen hin- und herspringen, als könnte es sich nicht entscheiden, wo es eigentlich sein will.
In der Praxis heißt das: Wenn du eine Feder nur sanft auslenkst, bleibt sie schön berechenbar. Ziehst du aber stark genug, hört sie irgendwann auf, sich „schön“ zu benehmen. Dann kann sie plötzlich in einen ganz anderen Modus kippen — wie eine Schaukel, die plötzlich überschlägt — oder mehrere Möglichkeiten haben, wie sie schwingen will. Manchmal wirkt sie sogar völlig chaotisch, als würde sie sich nicht mehr beruhigen.
Typische Phänomene im Stromnetz, die „Duffing-ähnlich“ sind können z. B. sein:
- Nichtlineare Synchronisation: Bei starken Abweichungen von der Nennfrequenz reagiert das System nicht mehr linear. → Z. B. kann ein Generator bei großen Schwankungen plötzlich die Synchronisation verlieren („Katastrophe“).
- Mehrere stabile Zustände: Das Netz kann mehrere „Betriebspunkte“ haben, zwischen denen es springen kann — je nachdem, wie groß die Störungen sind.
- Katastrophenpunkte (Bifurkationen): Es gibt Punkte, an denen kleine Änderungen plötzlich große und abrupte Effekte auslösen. → Z. B. ein Spannungseinbruch, der sich nicht von selbst erholt.
- Resonanzen und Schwingungen: Wenn Netz und Maschinen in Resonanz geraten (wie beim Schwingen eines Pendels), können sehr große Schwingungen entstehen — das ist gefährlich.
Übertragen wir noch einmal unsere Federanalogie auf das Ganze, dann können folgende Zustände im Stromnetz definiert werden:
- Weiche Feder: → Im quasi-linearen Bereich: normale Betriebsbedingungen, gut steuerbar, stabil.
- Harte Feder: → Netz verhält sich „steif“, große Rückstellkräfte, aber empfindlich gegenüber Störungen.
- Katastrophe: → Wenn die Störungen so groß werden, dass das System plötzlich instabil wird und in einen anderen Zustand kippt (Blackout-Gefahr).
- Lineare Resonanz: → Im Bereich, wo das System noch linear reagiert und „vorhersagbar“ ist
Für Netzbetreiber ist es entscheidend, das Stromnetz immer im quasi-linearen, stabilen Bereich zu halten. Denn nur in diesem Bereich reagieren Spannung, Frequenz und Leistung berechenbar und lassen sich zuverlässig steuern. Sobald das Netz zu stark belastet wird oder eine größere Störung auftritt – etwa durch den plötzlichen Ausfall eines Kraftwerks, heftige Windspitzen bei der Einspeisung oder eine extreme Lastspitze – droht das System, in einen instabilen Zustand zu „springen“. Dann können die Rückstellkräfte das Netz nicht mehr in den stabilen Betrieb zurückholen, und es besteht die Gefahr, dass es außer Kontrolle gerät.
Das Wissen um diese nichtlinearen Effekte ist deshalb enorm wichtig, um rechtzeitig eingreifen und das System schützen zu können. Netzbetreiber entwickeln darauf aufbauend Schutzmechanismen und Regelstrategien, die versuchen das System im quasi-linearen Bereich zu halten. Dazu gehören zum Beispiel der gezielte Lastabwurf, bei dem einzelne Verbraucher automatisch abgeschaltet werden, die automatische Frequenzregelung, die schnell auf Abweichungen reagiert, sowie die Netzstützung durch Speicher, die kurzfristig Energie bereitstellen, um das System zu stabilisieren. Auf diese Weise bleibt das Netz auch dann beherrschbar, wenn es an seine Grenzen oder den Sprung in die Nichtlinearität kommt.
Schauen wir uns das Ganze nun einmal mathematisch an:
Nachdem wir uns bisher das Prinzip des Duffing-Modells eher bildlich und konzeptionell angeschaut haben, werfen wir nun einen Blick auf die zugrunde liegende Gleichung. Sie fasst die Dynamik des Systems präzise zusammen und zeigt, welche physikalischen Größen und Effekte das Verhalten bestimmen. Damit die einzelnen Terme verständlich werden, gehe ich die Formel jetzt Schritt für Schritt durch und erkläre, was jede Variable bedeutet und welchen Einfluss sie auf das System hat.
(Hinweis: Da man bei Linkedin die Formeln nicht schreiben kann, werden es nun leider kurz Screenshots zum weiterlesen….)
Wer sich jetzt vielleicht immer noch fragt was dieses δ ist und was genau es bedeutet, dem seien noch zwei Übersetzungen an die Hand gegeben: δ beschreibt den Winkelunterschied zwischen dem rotierenden Magnetfeld des Generators und dem „virtuellen“ Feld des Netzes (der Netzspannung).
Du kannst dir das so vorstellen: Das Netz gibt eine „vorgeschriebene Drehung“ vor (50 Hz = 50 Umdrehungen pro Sekunde in Europa). Der Generator „hängt“ mit seinem Rotor leicht hinterher → dieser Rückstand ist der Winkel δ. Solange der Winkel nicht zu groß wird, zieht der Generator immer wieder „auf“ und bleibt synchron. δ ist ein Indikator für die Stabilität. Er wird überwacht, um zu prüfen, ob ein Generator noch synchron läuft. Wenn δ unkontrolliert wächst, droht Instabilität → der Generator / das System „fliegt raus“.
Was heißt dies nun in Summe alles für unser Stromnetz?
Das Niederspannungsnetz z. B. kann man — stark vereinfacht — als ein schwingendes System sehen:
- Das Netz „federt“ zurück, wenn man es belastet (Rückstellkräfte).
- Es hat Trägheit (Generatoren & Netzteile).
- Es hat Dämpfung (Verluste, Regler).
- Und es hat Grenzen: wenn man es zu stark auslenkt (z. B. zu viel Last), kann es in einen instabilen Zustand kippen.
Das ist genau das, was das Duffing-Modell gut beschreibt: Für kleine Störungen bleibt das Netz stabil (quasi-linearer Bereich), für größere Störungen kann es „nichtlinear“ reagieren und irgendwann „umspringen“ (Katastrophe).
Wärmepumpen:
- Wärmepumpen sind sehr leistungshungrig (2–10 kW pro Haus) und arbeiten oft gleichzeitig (abends, morgens, bei Kälte).
- Wenn viele Wärmepumpen gleichzeitig anspringen, steigt die Last im Netz plötzlich stark.
- Folge im Modell:
- PM (die mechanische/„angreifende“ Leistung) wird größer → Winkel δ steigt.
- Wenn δ zu groß wird, verlassen wir den stabilen Bereich.
- In Realität: Spannungsabfälle, Überlastung der Leitungen, eventuell Netzinstabilität.
Ladeinfrastruktur (Elektroautos):
- Noch „schärfer“, weil Elektroautos teils sehr hohe Ladeleistungen ziehen (bis 22 kW oder mehr pro Fahrzeug).
- Wenn mehrere E-Autos gleichzeitig laden, kann der Rückstellmechanismus des Netzes nicht mehr Schritt halten.
- Folge: Das Netz kommt in den „harten Feder“-Bereich
Dezentrale Einspeiser: Photovoltaik & Co.
Auf den ersten Blick „entlasten“ sie das Netz — aber:
- Sie speisen oft sehr stark und unkontrolliert ein (z. B. Mittagssonne → viel PV-Leistung → Spannungserhöhungen).
- Bei plötzlichem Abfall (Wolken, Abend) fällt die Einspeisung schnell weg → das Netz muss „springen“, um nachzuziehen.
- Im Duffing-Bild: Das System kann abrupt von einem stabilen Betriebspunkt in einen anderen „umspringen“.
Was heißt das für die Praxis?
Alle technischen Aspekte hier in diesem Beitrag zu beleuchten, würde vermutlich den Rahmen dieses ohnehin schon langen Beitrages sprengen. Daher möchte ich einige Punkte anreißen, welche z. B. diskutiert werden könnten:
Ein oft übersehener Aspekt in der Diskussion um nichtlineare Effekte im Stromnetz ist die Schutztechnik. Klassische Schutzkonzepte wurden in einer Zeit entwickelt, in der das Netz überwiegend linear und träge reagierte. Sie sind darauf ausgelegt, klare, vorhersehbare Fehlerbilder wie Überstrom, Kurzschluss oder Frequenzabweichungen zu erkennen und dann gezielt auszulösen. Wenn das Netz jedoch in einen nichtlinearen Bereich gerät, mit sprunghaften Amplituden, chaotischen Verläufen oder mehreren möglichen Betriebszuständen, kann die Schutztechnik an ihre Grenzen stoßen. Relais könnten in solchen Momenten fälschlicherweise auslösen, weil sie kurzfristige Schwingungen als Fehler interpretieren, oder sie reagieren zu spät, weil sie auf Mittelwerten beruhen. Auch die Selektivität – also die Fähigkeit, nur den betroffenen Netzabschnitt abzuschalten – kann verloren gehen, wenn das Verhalten des Netzes plötzlich unvorhersehbar wird. Hier braucht es also eine kritische Prüfung: Sind die Schutzgeräte für diese dynamischen Phänomene gerüstet? Wären adaptive Schutzsysteme mit dynamisch anpassbaren Schwellen eine Lösung? Und wie kann man sicherstellen, dass der Schutz weiterhin zuverlässig arbeitet, auch wenn das Netz sich „ungewohnt“ verhält?
Mindestens ebenso wichtig ist die Frage, ob die vorhandenen Messsysteme überhaupt in der Lage sind, nichtlineare Effekte rechtzeitig zu erfassen. Viele herkömmliche Messgeräte, wie Strom- und Spannungswandler oder Zähler, mitteln ihre Werte über vergleichsweise lange Zeiträume und „sehen“ nur die Grundschwingung bei 50 Hz. Kurze, hochfrequente Schwingungen, niederfrequente Schwingungen oder harmonische Verzerrungen, wie sie bei einem instabilen, nichtlinearen Verhalten auftreten können, bleiben oft unbemerkt. Das bedeutet: Das Netz kann schon dabei sein, instabil zu werden, während der Betreiber noch denkt, alles sei im grünen Bereich. Um das zu verhindern, braucht es Messgeräte mit hoher zeitlicher Auflösung, wie Phasor Measurement Units (PMUs), die Spannung, Strom und Winkel mit Millisekunden-Präzision und über das ganze Netz verteilt erfassen. Außerdem muss sichergestellt sein, dass diese Daten nicht nur gemessen, sondern auch schnell genug ausgewertet und verfügbar gemacht werden. Denn nur wer weiß, dass das Netz gerade „aus dem Takt“ gerät, kann rechtzeitig gegensteuern.
Auch ein wichtiger Punkt ist die Trägheit. Früher hat die Trägheit des Stromnetzes, also das „M“ in der Gleichung, vor allem von den großen, schwer drehenden Turbinen in Kohle-, Gas- oder Kernkraftwerken gelebt. Diese mechanische Trägheit wirkte wie ein großer Puffer, der die Winkelabweichung δ stabilisierte, weil das System insgesamt träge reagierte und sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen ließ. Mit der Energiewende hat sich das jedoch grundlegend verändert: Heute (und noch stärker in Zukunft) gibt es immer mehr dezentrale Erzeuger wie Photovoltaik- und Windkraftanlagen, die ihre Leistung über leichtere, drehzahllose Wechselrichter einspeisen und dadurch kaum Trägheit ins Netz bringen. Gleichzeitig verschwinden nach und nach die großen Kraftwerke, die früher für Stabilität sorgten. Die Folge: die Trägheit M sinkt spürbar, das Netz reagiert schneller und empfindlicher auf Störungen, und die Schwingungen von δ werden größer und können schneller instabil werden. Während früher also große Puffer dafür sorgten, dass δ auch bei starken Störungen klein blieb, wächst δ heute bei vergleichbaren Ereignissen deutlich schneller und weiter. Mit anderen Worten: Die Feder im Netz wird härter betrieben — und wenn man sie zu stark spannt, kann sie irgendwann brechen oder unkontrolliert zurückschnellen.
Mit Blick auf das δ und die Duffinggleichung können folgende Intervalle definiert werden:
- Solange δ<30–40: „Wohlfühlzone“ — stabil
- δ≈45–60: Warnbereich, empfindlich
- δ>70°: kurz vor Kipp-Punkt
- δ≈90°: Katastrophe (Synchronität verloren)
Wer sich nun etwas mit Elektrotechnik beschäftigt könnte vielleicht die Frage stellen, warum es positiv ist, wenn δ eher klein ist, weil doch allgemein gilt P = Pmax X sin(δ) und bei δ =1 also 90 Grad die maximale Leistung übertragen wird. Bildlich kann man sich vielleicht den Zusammenhang mit einer Fahrradfahrt auf einen Hügel erklären:
- unten am Hügel (δ=0°): kein Problem — leicht zu kontrollieren, kein Stress.
- etwa bei der Hälfte (δ≈30–40): du musst schon mehr Kraft aufwenden, aber es geht noch.
- oben am steilsten Punkt (δ=90°): du stehst genau auf der Kante — wenn du jetzt noch 1 mm weiter gehst, kippst du auf die andere Seite und stürzt.
Genau auf der Kante zu fahren, macht praktisch keinen Sinn denn:
Bei δ < 30–40°:
- Viel Reserve nach oben
- Kleine Störungen (Windböe, Laständerung) kann man leicht ausgleichen
- Netz ist stabil
Bei δ ≈ 90°:
- Du bist am Maximum der Sinuskurve.
- Jede noch so kleine zusätzliche Last bringt dich „über den Hügel“, und du fällst auf die Rückseite → Instabilität!
- Physikalisch: jenseits von 90° wird die übertragene Leistung wieder kleiner, obwohl δ weiter wächst → kein stabiler Gleichgewichtspunkt mehr.
Im Ergebnis sehen wir also: Der Bereich um 90° ist extrem instabil: Netze sind dynamisch, Lasten schwanken ständig. Wenn du genau am Maximum betreibst, brauchst du nur einen kleinen Auslöser (z. B. jemand schaltet einen Verbraucher ein) → System kippt.
Was können wir also in Summe festhalten mit Blick auf die Entwicklung in den Stromnetzen und der Energiewende?
Früher war das Stromnetz vor allem von großen, trägen Kraftwerken geprägt: Kohle- und Kernkraftwerke mit riesigen Schwungmassen. Es gab wenige große Quellen und damit wenige, planbare Einspeisepunkte. Die Verbraucher waren relativ vorhersehbar und verteilten sich gut. Das Netz verhielt sich in der Regel quasi-linear: eine kleine Änderung der Last führte zu einer kleinen Änderung von Spannung und Frequenz. Rückstellkräfte aus Trägheit und Dämpfung sorgten dafür, dass das Netz wie eine „schöne Feder“ zurückkam. Es war wie ein gut abgestimmter, leicht gedämpfter Schwinger: vorhersehbar, robust und berechenbar.
Mit der Energiewende ändert sich das grundlegend. Es gibt mehr dezentrale Einspeiser, Photovoltaik auf Millionen Dächern, neue große Verbraucher und Leistungselektronik. Statt „wenige große“ gibt es nun „viele kleine“ Quellen und noch mehr Abnehmer, was das Netz komplexer macht. Die Trägheit sinkt, da PV und Wind per Wechselrichter ans Netz gekoppelt sind und praktisch keine mechanische Trägheit mehr beitragen. Das Netz reagiert dadurch schneller und empfindlicher auf Störungen. Die Erzeugung wird fluktuierender, da Sonne und Wind stark und plötzlich schwanken, manchmal innerhalb von Minuten oder Sekunden. Große Sprünge in der Leistung erzeugen große „Impulse“ für das Netz. Hinzu kommen neue Lasten wie Wärmepumpen und Elektroautos, die starke, teils gleichzeitig auftretende Lastspitzen erzeugen und kaum vorhersehbar sind.
Wenn man ein System immer stärker belastet oder immer schneller anregt, verlässt es irgendwann seinen quasi-linearen Bereich und zeigt nichtlineares Verhalten. Kleine Änderungen können plötzlich große Effekte auslösen, mehrere stabile Zustände entstehen und das System springt von einem in den anderen. Winzige Auslöser können das Netz zum „Kippen“ bringen, Schwingungen können sich aufschaukeln statt abklingen und chaotische Effekte entstehen.
Man kann sich das vorstellen wie ein Trampolin: früher sprang nur ein einzelner Springer in der Mitte, und das Trampolin blieb ruhig und vorhersehbar. Heute springen viele Leute gleichzeitig, manche am Rand, andere in der Mitte, und das Trampolin verhält sich plötzlich wild und unberechenbar, manchmal schnellt es in Richtungen, die man nicht erwartet – das System wird nichtlinear.
Deshalb müssen Netzplanung und Betrieb diese Effekte kennen und beherrschen, denn klassische Reserve und Steuerung reichen perspektivisch nicht mehr aus. Es braucht mehr intelligente Steuerung, Speicher, synthetische Trägheit und Lastmanagement. Die Energiewende macht die „roten Zonen“ ohne Gegensteuerung wahrscheinlicher: Photovoltaik kann plötzliche Überspannungen erzeugen, E‑Autos und Wärmepumpen plötzliche Unterspannungen und Windflauten führen zu Frequenzeinbrüchen – alles nichtlinear.
Wie kann man dem Problem nun begegnen?
Sollen wir nun mit der Energiewende aufhören? Nein! Es geht vielmehr darum das System neu aufzustellen und zu parametrieren. Man kann aus der Gleichung des Duffing-Modells mehrere konkrete Maßnahmen ableiten, um die Stabilität des Stromnetzes zu verbessern. Ziel ist es, den Winkel δ möglichst klein zu halten, das System im quasi-linearen Bereich zu betreiben und nicht in den kritischen Bereich jenseits von 70–90° zu geraten. Je größer die Trägheit M des Systems ist, desto langsamer und weniger heftig schwingen δ und das Netz reagiert weniger empfindlich auf Störungen. Deshalb können Batteriespeicher oder moderne Umrichter mit „Inertia Emulation“-Modus als virtuelle Trägheit eingesetzt werden, und auch rotierende Maschinen wie laufende Wasser- oder Gasturbinen etc. helfen, zusätzliche Trägheit bereitzustellen.
Auch die Dämpfung D spielt eine große Rolle: je größer D, desto schneller klingen Schwingungen ab und desto weniger schaukelt sich das System auf. Hier helfen schnelle Frequenzregelung durch Primärregelleistung, steuerbare Lasten und Speicher, flexible Verbraucher wie Industrieanlagen oder Wärmepumpen, die kurzfristig abgeschaltet oder gesteuert werden können, sowie Phasenschieber, die gezielt Blindleistung einspeisen und Spannung und Winkel stabilisieren.
Die Rückstellkraft des Netzes steckt in dem Term mit δ minus δ³/3! und hängt von den Spannungen UB, UG und der Reaktanz Xd ab. Je größer die Spannungen UB und UG und je kleiner Xd, desto stärker die Rückstellkraft, die das Netz wieder in den stabilen Bereich zieht. Hier hilft es, das Netz zu verstärken, etwa mit dickeren Leitungen und kleineren Widerständen, die Spannung hochzuhalten, etwa mit Transformatoren und Blindleistungskompensation, und Generatoren auf höhere Spannungseinstellungen zu betreiben.
Schließlich kann man auch den Antrieb PM, also die Last oder Störung selbst, reduzieren. Je kleiner PM, desto weniger wird δ ausgelenkt. Das lässt sich durch gezieltes Lastmanagement erreichen, indem Lasten zeitweise abgeschaltet oder verschoben werden, durch zusätzliche Speicher, die bei Lastspitzen Energie bereitstellen, und durch Einspeisemanagement, das PV und Wind so steuert, dass sie PM gezielt reduzieren, ohne Überspannung zu erzeugen.
Zusammengefasst kann man also an mindestens vier „Schrauben“ drehen: Trägheit, Dämpfung, Rückstellkraft und Last. Diese Hebel helfen dabei, δ im linearen, stabilen Bereich zu halten – idealerweise unter 30–40°, damit das Netz nicht „überkippt“.
Was heißt dies nun für die Netzbetreiber?
Jeder Netzbetreiber ist verantwortlich für sein eigenes Netzgebiet, zum Beispiel ein Verteilnetz im Niederspannungs- oder Mittelspannungsbereich in einer Stadt oder Region oder ein Übertragungsnetz im Höchstspannungsbereich auf Landes- oder Bundesebene. In diesem eigenen Netz kann er eine Reihe von Maßnahmen ergreifen: Er kann Lasten managen, Erzeugung und Speicher steuern, das Netz ausbauen, also Leitungen, Transformatoren, Blindleistungskompensation und Phasenschieber installieren, sowie Spannungsregelung und Frequenzstützung lokal verbessern. Außerdem kann er Schutzsysteme und Reservekapazitäten bereitstellen. Kurz gesagt: alles, was mit den eigenen Anlagen und Verträgen im eigenen Netzgebiet zusammenhängt, liegt in seiner Hand.
Das reicht jedoch nicht allein aus, um das Gesamtsystem stabil zu halten. Denn Strom fließt immer systemisch und nicht lokal begrenzt, er nimmt den Weg des geringsten Widerstands, und Spannung und Frequenz hängen an allen Punkten des Netzes zusammen. Eine Lastspitze oder Störung bei einem benachbarten Netzbetreiber kann das eigene Netz genauso treffen, und ein Photovoltaik-Überschuss aus einem anderen Gebiet kann die Spannung im eigenen Netz erhöhen. Blackouts und Kettenreaktionen kennen keine Gebietsgrenzen. Wenn also ein lokaler Netzbetreiber alle Wärmepumpen optimal steuert, nützt das nur begrenzt, wenn im übergeordneten Mittelspannungs- oder Übertragungsnetz gleichzeitig eine Windflaute und ein Kraftwerksausfall auftreten.
Es gibt typische Grenzen der eigenen Optimierung: Die Frequenzregelung ist im gesamten synchronisierten Netz gleich und muss deshalb überregional erfolgen. Der Spannungseinfluss von Nachbarn kann nicht vollständig abgefangen werden, wenn diese stark einspeisen oder große Lasten ziehen. Auch der Systemschutz und ein Schwarzstart sind allein nicht möglich, weil das übergeordnete Netz notwendig ist, um den Betrieb stabil wiederherzustellen. Stromflüsse können nicht an Netzgrenzen „gestoppt“ werden, und massiver Über- oder Unterstrom lässt sich lokal kaum kontrollieren. Schließlich sind Netzausbau und Marktmechanismen politisch und regulatorisch überregional geregelt, ein Netzbetreiber kann diese Regeln nicht eigenständig ändern.
Weil Stromnetze physikalisch ein großes, elastisches und miteinander verbundenes Schwingungssystem sind, hängen Lastflüsse und Spannungen immer von allen Teilnehmern ab. Instabilitäten wie Frequenzeinbrüche können innerhalb von Sekunden das ganze Verbundnetz erfassen. Deshalb arbeiten Netzbetreiber eng zusammen: Übertragungsnetzbetreiber koordinieren sich national und europäisch in Organisationen wie ENTSO-E, es gibt eine Abstimmung mit Nachbarn und Verteilnetzbetreibern sowie einheitliche Regeln für Netzzugang, Lastabwurf und Regelleistung.
Ein Netzbetreiber kann also viel lokal tun, aber Frequenzhaltung, große Spannungseinbrüche, überregionale Flüsse und Systemschutz kann er nicht alleine lösen. Deshalb braucht es eine koordinierte, ganzheitliche Optimierung über alle Ebenen hinweg: Verteilnetzbetreiber, Übertragungsnetzbetreiber und internationale Kooperation.
Wir halten also am Ende fest:
Der Netzbetreiber kann die „Lokalschäden“ vermeiden und abmildern — aber das „Wellenspiel“ des gesamten Netzes muss gemeinsam gemanagt werden.
An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bedanken, wer es tatsächlich bis ans Ende des Beitrages geschafft hat😊 – Das Ziel war es nicht die Energiewende schlecht zu reden, sondern über das Modell von Duffing zu erklären, was aus elektrotechnischer Sicht in unserem Stromnetz passiert. Sicherlich ist das keine leichte Kost, aber wenn wir ein komplexes System umbauen, ist es wohl nicht erwartbar, dass alle Themen immer leicht sind. Auch ich selbst hoffe, dass ich die Transferleistung der Theorie richtig hinbekommen habe. Wenn ihr jetzt noch Fragen, Einschätzungen und Ergänzungen habt, freue ich mich auf eure Kommentare, da ich das Thema selbst nur auf der theoretischen Ebene durchdenken konnte.