Übernahme des Newsletters von Marcel Linnemann

Das bekannte Sprichwort „Eine Frage, tausend Meinungen“ beschreibt treffend die gegenwärtige Situation rund um die Netzertüchtigung und Digitalisierung der Stromnetze. Je nach Akteursgruppe – Politik, Verteilnetzbetreiber (VNB), Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) oder Medien – divergieren die Einschätzungen erheblich.

Schaue ich in die klassischen energiewirtschaftlichen Medien, bekomme ich zum Thema Smart Grid eigentlich fast immer nur eine Antwort: Das intelligente Messsystem ist die Lösung. Das mag an dieser Stelle nun etwas spitz formuliert sein, aber da sich die meisten Netzbetreiber aktuell mit Themen wie §14a EnWG oder dem Steuercheck beschäftigen, bei denen das iMS aus regulatorischer Sicht eine zentrale Rolle spielt, ist es natürlich kein Wunder, wenn man diese Antwort bekommt. Ganz anders sieht dies allerdings aus, wenn man in den direkten Dialog mit den ÜNBs geht. Hier habe ich in der Vergangenheit häufig Sätze gehört, dass man das iMS nicht als geeigneten Lösungsbaustein sehe, um systemweite Netzprobleme in Deutschland zu lösen, und dass man das Lastproblem eher als untergeordnet betrachte.

Also: Wer hat recht? Der VNB, der auf das iMS als Herzstück seiner Digitalstrategie setzt, oder der ÜNB mit seinem Fokus auf systemweite Steuerungsfragen? Genau dieser Frage möchte ich mich in meinem heutigen Beitrag widmen – und zugleich aufzeigen, dass wir dringend daran arbeiten müssen, VNBs und ÜNBs in einem gemeinsamen, systemischen Denken zusammenzuführen.

Denn was derzeit fehlt, ist ein ganzheitliches Verständnis davon, wie das Energiesystem als Gesamtheit funktioniert. Zu häufig wird auf Teilaspekte geschaut: Messsysteme, Steuerprozesse, Märkte, Schutztechnik oder Regulierung. Doch der Netzbetrieb der Zukunft erfordert, dass alle Spannungsebenen, Technologien und Akteure in einer übergreifenden Systemarchitektur zusammengedacht werden. Es geht nicht um das isolierte Lösen einzelner Probleme, sondern um das Verstehen ihrer Wechselwirkungen – zwischen Energiefluss, Informationsfluss, Netzbetrieb und Marktmechanismen.

Systemisches Denken bedeutet, Energieinfrastruktur als lebendiges, vernetztes Gefüge zu betrachten: als sozio-technisches System, das physikalische Stabilität, betriebliche Effizienz und gesellschaftliche Daseinsvorsorge miteinander verbindet. Nur wenn diese Perspektive konsequent eingenommen wird, lassen sich Digitalisierung, Netzstabilität und Marktfunktionalität sinnvoll aufeinander abstimmen.

Mit dieser Betrachtungsweise möchte ich im weiteren Verlauf zeigen, warum technische und organisatorische Systemintegration der Schlüssel zur erfolgreichen Transformation der Stromnetze ist – und warum es höchste Zeit ist, den Schritt vom fragmentierten Handeln hin zu einem ganzheitlichen Systemmanagement zu vollziehen.

 

Die wichtige Unterscheidung globale vs. lokale Netzführung

Dass Netzführung nicht gleich Netzführung ist und stark von der jeweiligen Spannungsebene abhängt, dürfte unstrittig sein. Entsprechend ist es auch kein Wunder, dass Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) und Verteilnetzbetreiber (VNB) auf den ersten Blick unterschiedliche Sichtweisen vertreten. Besonders deutlich wurde mir dies in vielen Gesprächen, wenn es um die Begriffe globale und lokale Netzprobleme bzw. Netzführung ging.

Unter globaler Netzführung versteht man die systemweite Steuerung und Stabilisierung des elektrischen Gesamtsystems über alle Spannungsebenen hinweg. Sie umfasst Aufgaben wie die Sicherstellung der Frequenzstabilität, die Koordination der Leistungsflüsse zwischen Regelzonen, das Engpassmanagement sowie den Einsatz von Systemdienstleistungen. Ziel ist es, das Gesamtsystem in einem stabilen Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch zu halten. Typische Eingriffe erfolgen auf Ebene der Übertragungsnetzbetreiber, da sie den Überblick über das Verbundnetz besitzen und Zugriff auf die dafür notwendigen Regelenergien und Netzreservekapazitäten haben. Auch komplexe Phänomene wie Schwingungs-, Resonanz- oder Dämpfungsprobleme fallen in diesen Bereich, da sie systemweite Auswirkungen entfalten können.

Die lokale Netzführung hingegen bezieht sich auf das Management elektrischer Parameter innerhalb eines begrenzten Netzgebiets – in der Regel im Zuständigkeitsbereich der Verteilnetzbetreiber. Hier stehen konkrete Betriebsmittel und deren Belastung im Fokus: etwa Spannungsbandverletzungen, Überlastungen von Leitungen oder Transformatoren sowie die Integration dezentraler Erzeugungsanlagen, Speicher und steuerbarer Verbraucher. Ziel ist es, innerhalb des eigenen Netzsegments einen sicheren und zuverlässigen Betrieb aufrechtzuerhalten, ohne dabei die übergeordneten Systemgrenzen zu verletzen.

Beide Ebenen sind technisch untrennbar miteinander verbunden. Die zunehmende Dezentralisierung der Erzeugung und Elektrifizierung des Verbrauchs führen jedoch dazu, dass lokale Netzereignisse immer stärker systemische Rückwirkungen entfalten. Damit verschwimmt die klassische Trennlinie zwischen „lokal“ und „global“. Lokale Steuerungsentscheidungen beeinflussen über Spannungskaskaden, Blindleistungsflüsse oder Frequenzrückwirkungen zunehmend die Stabilität des Gesamtsystems.

Diese Entwicklung macht deutlich, dass eine isolierte Betrachtung beider Ebenen nicht mehr zeitgemäß ist. Die Netzführung der Zukunft muss als integriertes Systemmanagement verstanden werden, das lokale Intelligenz mit globaler Koordination verbindet. Lokale Netzbereiche benötigen operative Eigenständigkeit, um in Echtzeit reagieren zu können – gleichzeitig müssen sie in die übergeordnete Systemführung eingebettet sein, um Stabilität und Effizienz im Gesamtnetz sicherzustellen.

In diesem Sinne ist die Kopplung zwischen globaler und lokaler Netzführung kein optionales Zukunftsthema, sondern ein zentraler Baustein einer systemischen Netzarchitektur. Nur wenn beide Ebenen technisch, organisatorisch und informatorisch synchronisiert werden, lässt sich ein resilientes, lernfähiges und ganzheitlich steuerbares Stromnetz realisieren.

 

Konvergenz der Netzebenen – Warum Übertragungs- und Verteilnetz zusammenwachsen

Die Grenzen zwischen Übertragungsnetz und Verteilnetz beginnen sich zunehmend aufzulösen. Was über Jahrzehnte eine klare Aufgabentrennung war – hier die überregionale Systemführung, dort die lokale Netzbewirtschaftung – verschiebt sich strukturell und technisch. Mit der fortschreitenden Dezentralisierung und Elektrifizierung entstehen immer mehr systemrelevante Assets auf den unteren Spannungsebenen: Photovoltaikanlagen, Batteriespeicher, Wärmepumpen, Ladeinfrastruktur oder flexible Industrieprozesse. Diese Elemente beeinflussen die Stabilität des Gesamtsystems zunehmend direkt – über Spannung, Frequenz, Blindleistungsflüsse oder Netzrückwirkungen.

Damit verändert sich die Logik der Netzführung grundlegend. Die bisherige Annahme, dass Systemdienstleistungen ausschließlich Aufgabe der Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) sind, gilt unter diesen Bedingungen nicht mehr. Frequenzhaltung, Spannungsstabilität oder Dämpfungsmanagement können künftig nicht mehr allein „von oben“ organisiert werden, da viele relevante Regelpotenziale „unten“ entstehen. Die Netzführung entwickelt sich damit zu einem Mehr-Ebenen-System, in dem lokale und regionale Steuerungen integraler Bestandteil der gesamtwirtschaftlichen Stabilität sind.

Das bedeutet: Die Verteilnetzbetreiber (VNB) werden zu aktiven Mitgestaltern der Systemführung. Sie müssen künftig in der Lage sein, netzstützende Beiträge wie Spannungshaltung, Blindleistungsbereitstellung, Regelleistung oder Störungsmanagement technisch und organisatorisch selbst zu erbringen – abgestimmt mit den überlagerten Netzebenen. Dazu bedarf es neuer Fähigkeiten in mehreren Dimensionen:

  • Technisch: Ausbau von Mess-, Regel- und Kommunikationsinfrastrukturen, insbesondere auf Mittel- und Niederspannungsebene; Einsatz von Edge-Intelligenz, digitalen Zwillingen und automatisierten Regelalgorithmen.
  • Organisatorisch: Aufbau von Leitstellenstrukturen und Prozessen, die lokale Ereignisse systemisch bewerten können; Etablierung von Schnittstellen zu ÜNB-Leitsystemen für bidirektionalen Informationsaustausch.
  • Prozessual: Integration von Flexibilitäten in Betriebs- und Planungsprozesse; Nutzung standardisierter Datenmodelle und interoperabler Plattformen für Echtzeit-Koordination.

Diese Entwicklung markiert eine Konvergenz der Netzebenen: Übertragungs- und Verteilnetz werden technisch, regelungstechnisch und datenlogisch enger verflochten. Entscheidungen zur Netzstabilisierung entstehen künftig in einem verteilten Verbund, bei dem verschiedene Spannungsebenen dynamisch interagieren.

Für den Verteilnetzbetreiber bedeutet dies, dass er vom passiven Netzbetreiber zum aktiven Systemmanager wird. Er muss nicht nur auf lokale Zustände reagieren, sondern aktiv zum Systemgleichgewicht beitragen. Frequenzhaltung, Spannungsführung und Netzstabilität werden gemeinschaftliche Aufgaben – gestützt durch abgestimmte Regelkonzepte, gemeinsame Datenmodelle und koordinierte Schutz- und Steuerstrategien.

Diese Entwicklung ist mehr als eine technische Notwendigkeit – sie ist eine architektonische Transformation des Energiesystems. Die klassische hierarchische Steuerung („top-down“) wird abgelöst durch eine vernetzte, zellulare Netzführung, in der Verantwortung, Information und Regelung zwischen den Ebenen verteilt sind. Die Effizienz und Resilienz des Gesamtsystems hängen künftig entscheidend davon ab, wie gut diese Ebenen integriert und orchestriert werden.

Damit wird deutlich: Die Energiewende findet nicht nur „an den Rändern“ des Systems statt, sondern in seiner Struktur. Das Zusammenwachsen von Übertragungs- und Verteilnetz erfordert ein gemeinsames Verständnis, eine abgestimmte technische Architektur und ein neues Selbstverständnis der Akteure. Nur wenn VNB und ÜNB ihre Aufgaben nicht mehr getrennt, sondern systemisch vernetzt denken, kann das zukünftige Energiesystem stabil, flexibel und zukunftssicher betrieben werden.

 

Fehlende Austauschkanäle zwischen Übertragungs- und Verteilnetzbetreibern

Eine integrierte Netzführung kann nur entstehen, wenn Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) und Verteilnetzbetreiber (VNB) über funktionierende, bidirektionale Austauschkanäle verfügen – technisch, organisatorisch und inhaltlich. Zwar existieren heute bereits diverse Schnittstellen und Abstimmungsprozesse, doch in der Praxis zeigt sich: Auf die Frage, ob ein VNB genau weiß, welche Erwartungen sein jeweiliger ÜNB an die Netzführung stellt, folgt selten eine eindeutige Antwort. Häufig wird auf regulatorische Vorgaben verwiesen, aus denen man versucht, Anforderungen indirekt abzuleiten.

Das Ergebnis ist ein System, in dem viele Akteure zwar auf derselben Frequenz senden, aber auf unterschiedlichen Kanälen empfangen. Daten werden ausgetauscht, ohne dass daraus ein gemeinsames Verständnis entsteht. Diese Situation führt dazu, dass Entscheidungen häufig asynchron getroffen werden – technisch korrekt im Detail, aber nicht abgestimmt im Gesamtkontext. Eine koordinierte Netzführung erfordert jedoch ein einheitliches Ziel- und Informationsverständnis zwischen allen Ebenen.

Ein prägnantes Beispiel liefert der aktuelle Steuercheck. Die ÜNBs haben hierzu eine Leitlinie veröffentlicht, die beschreibt, wie der Prozess umzusetzen ist. Da die Vorgaben jedoch sehr allgemein gehalten sind, bleibt erheblicher Interpretationsspielraum. In der Folge entwickeln VNBs eigene Vorgehensweisen, die sich teilweise deutlich unterscheiden. Deutlich effizienter wäre es gewesen, wenn die ÜNBs begleitend gemeinsame Informations- oder Abstimmungstermine mit den VNBs angeboten hätten, um die praktischen Anforderungen zu erläutern – und wenn umgekehrt die VNBs diesen Austausch aktiv eingefordert hätten.

Die Folgen dieser fehlenden Abstimmung zeigen sich in der Praxis etwa beim Stammdatenabgleich. Während die ÜNBs auf das Marktstammdatenregister als Basis zurückgreifen, pflegen viele VNBs ihre eigenen, oft korrigierten Datensätze. Dadurch fehlt zu Beginn des Prozesses eine gemeinsame, valide Datenbasis. Ohne diese Grundlage kann kein konsistenter Steuerungsprozess entstehen – weder technisch noch organisatorisch.

Die Konsequenz liegt auf der Hand: Für eine funktionierende, mehrstufige Netzführung müssen klare Kommunikations- und Verantwortungsstrukturen zwischen ÜNBs und VNBs etabliert werden. Dazu gehören regelmäßige technische Dialoge, abgestimmte Datenmodelle, definierte Schnittstellen und gemeinsame Interpretationen regulatorischer Vorgaben. Nur wenn Informationsaustausch nicht als formale Pflicht, sondern als integraler Bestandteil des Netzbetriebs verstanden wird, kann sich ein kohärentes Systemverständnis entwickeln.

Der Aufbau solcher Austauschkanäle ist keine Nebenbedingung, sondern eine Grundvoraussetzung für Systemintegration. Ein Energiesystem, das zunehmend dezentral, datengetrieben und dynamisch arbeitet, benötigt ein gemeinsames Verständnis über Zustände, Ziele und Steuermechanismen. Ohne diese Verständigung bleibt die Energiewende ein technisches Zusammenspiel ohne abgestimmte Partitur.

 

Wie können wir Netzführung ganzheitlich denken?

Nach der Betrachtung technischer und organisatorischer Aspekte stellt sich die zentrale Frage: Wie lässt sich Netzführung tatsächlich ganzheitlich gestalten? Die bisherigen Kapitel haben gezeigt, dass eine integrierte Netzführung nicht durch einzelne Technologien oder isolierte Digitalisierungsprojekte erreicht werden kann. Entscheidend ist ein systemisches, rollenübergreifendes Verständnis, das technische, organisatorische und regulatorische Ebenen miteinander verbindet.

Das klingt einfach, ist in der Praxis jedoch schwer umzusetzen. In Deutschland existieren über 800 Verteilnetzbetreiber – eine hoch fragmentierte Landschaft, in der einheitliche Kommunikations- und Abstimmungsprozesse kaum zu realisieren sind. Natürlich kann man die Forderung nach einer Reduzierung der Netzbetreiberzahl stellen, doch kurzfristig löst das die bestehenden Koordinationsprobleme nicht. Hinzu kommt: Viele Unternehmen stehen gleichzeitig unter erheblichem Druck durch neue regulatorische Vorgaben, IT-Umstellungen, Personalknappheit und eine Vielzahl paralleler Projekte. In diesem Umfeld bleibt häufig kaum Zeit, grundlegende strategische Fragen zu durchdenken oder langfristige Architekturentscheidungen vorzubereiten.

Die Folge ist ein reaktives Vorgehen. Anforderungen wie die Umsetzung von §14a EnWG werden pragmatisch erfüllt, ohne immer zu prüfen, ob der gewählte Lösungsweg langfristig zu einer integrierten Netzführung passt. Oft geschieht dies nicht aus Desinteresse, sondern schlicht aus Zeit- und Ressourcengründen.

Dass konstruktive Lösungen nicht immer komplex sein müssen, zeigt ein Beispiel aus der Praxis: Als die finalen Festlegungen zu §14a veröffentlicht wurden, fehlte vielen VNBs die Zeit, die Anforderungen im Detail zu analysieren. In dieser Phase veröffentlichte E.ON ein eigenes Umsetzungskonzept – klar strukturiert, nachvollziehbar und offen zugänglich. Zahlreiche andere Netzbetreiber griffen dieses Konzept auf und orientierten sich daran. So entstand faktisch ein branchenweiter De-facto-Standard, ohne dass es einer gesetzlichen Vorgabe bedurft hätte. Dieses Beispiel zeigt, wie Transparenz, Kooperation und Orientierung freiwillig zu Harmonisierung führen können.

Genau diesen Gedanken könnte man auf die Netzführung übertragen. Warum sollten sich nicht ein oder zwei Übertragungsnetzbetreiber gemeinsam mit einer Gruppe engagierter Verteilnetzbetreiber zusammenschließen, um in einem White Paper zu skizzieren, wie eine integrierte, ganzheitliche Netzführung in der Praxis aussehen kann? Ein solches Papier müsste keine verbindliche Norm darstellen, sondern vielmehr eine gemeinsame Handlungsgrundlage: Welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten liegen auf ÜNB-Seite? Welche Kompetenzen und Funktionen werden bei den VNBs künftig benötigt? Wie können Datenaustausch, Netzbewertung und operative Eingriffe koordiniert werden?

In zahlreichen Gesprächen mit Akteuren beider Ebenen wurde deutlich, dass ein solches Dokument auf breite Zustimmung stoßen würde. Fast alle betonten, dass nicht die Idee, sondern der Rahmen für den Austausch fehlt – der sprichwörtliche Tisch, an dem alle Platz nehmen können.

Wenn Netzführung künftig ganzheitlich funktionieren soll, dann braucht es genau diesen Ansatz: gemeinsame Definitionen, gemeinsame Methoden und gemeinsame Sprache. Erst wenn Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber nicht nur über dieselben Daten verfügen, sondern auch dieselben Ziele verfolgen, kann aus parallelem Handeln echte Integration werden. Eine solche Initiative wäre kein bürokratischer Akt, sondern der Beginn einer neuen Phase der Zusammenarbeit – hin zu einer Netzführung, die technisch abgestimmt, organisatorisch vernetzt und systemisch gedacht ist.

 

Systemisch denken – Vom fragmentierten Handeln zur ganzheitlichen Netzgestaltung

Die aktuelle Entwicklung im Energiesystem zeigt, dass technische Einzelmaßnahmen und regulatorische Detailoptimierungen nicht mehr ausreichen, um die Herausforderungen der Transformation zu bewältigen. Vielerorts wird an Symptomen gearbeitet – Engpässe werden lokal entschärft, neue Regelungsmechanismen eingeführt, Projekte gestartet und wieder verworfen. Doch all dies bleibt Stückwerk, solange kein übergreifendes Systemverständnis existiert. Der Netzbetrieb braucht einen Perspektivwechsel: weg von der Addition technischer Lösungen hin zu einem systemischen Denken, das Energie, Information, Organisation und Markt als zusammenhängendes Ganzes begreift.

Ein Energiesystem ist ein vitales, sozio-technisches Gefüge, das die Daseinsvorsorge sicherstellt. Es muss so gestaltet sein, dass es auch unter Störbedingungen funktionsfähig bleibt. Systemisch zu denken heißt daher, nicht nur einzelne Anlagen oder Prozesse zu optimieren, sondern das Gesamtsystem in seinen Wechselwirkungen zu verstehen – physikalisch, organisatorisch, regulatorisch und gesellschaftlich. Das erfordert klare Zielgrößen: Stabilität, Resilienz, Fehlertoleranz, Modularität und Einfachheit. Diese Eigenschaften müssen das Rückgrat der künftigen Netzarchitektur bilden.

Ein solcher Ansatz unterscheidet sich grundlegend von der bisherigen Praxis. Statt kurzfristiger Projekte mit isoliertem Fokus braucht es ein übergeordnetes Systemdesign, das die Kopplung von Energie- und Informationsflüssen strukturell verankert. Nur wenn Daten dort verarbeitet werden, wo physikalische Wirkung entsteht, und wenn Entscheidungslogik und Netzrealität aufeinander abgestimmt sind, kann der Betrieb stabil und effizient erfolgen. Fehlertoleranz ist dabei kein Makel, sondern Voraussetzung für Lernen und Anpassung. Innovation entsteht nicht aus Perfektion, sondern aus der Fähigkeit, Erfahrungen in Systemverbesserung zu überführen.

Systemisches Denken verlangt auch einen organisatorischen Wandel. Netzbetreiber müssen sich als lernende Systeme begreifen – mit interdisziplinären Teams, die technische, ökonomische und regulatorische Kompetenz verbinden. Anstelle von Kosteneffizienzmaßstäben braucht es Fähigkeitsbenchmarks, die messen, inwieweit ein Unternehmen in der Lage ist, Komplexität zu beherrschen, Risiken zu managen und auf Veränderungen adaptiv zu reagieren. Nur so entsteht ein belastbares Fundament für einen stabilen, dynamischen Netzbetrieb.

Am Ende steht die Erkenntnis: Das Energiesystem der Zukunft kann nicht durch additive Optimierung entstehen. Es muss als Gesamtsystem gedacht, modelliert und gesteuert werden. Systemisches Denken heißt, die Energieversorgung nicht als technische Infrastruktur, sondern als lebendiges, interdependentes System zu verstehen – ein System, das nur dann dauerhaft stabil bleibt, wenn es als Ganzes funktioniert.

 

Ein Aufruf an alle ÜNBs (Amprion GmbH, TenneT, 50Hertz Transmission GmbH,TransnetBW GmbH), VNBs, den BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. , die Bundesnetzagentur und das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie : Vielleicht wäre genau das ein Thema, das wir gemeinsam anstoßen sollten. Viele von euch haben mir in Gesprächen signalisiert, dass der Ansatz ein White-Paper zu entwickeln, wo ÜNBs und VNBs gemeinsam beschreiben, wie eine systemische integrierte Netzführung vom System her aussieht, längst überfällig ist. Bei Interesse kann man sich auch gerne direkt bei mir melden – ich versuche gerne die einzelnen Personen zu vernetzen.

Denn am Ende bin ich überzeugt: Die Energiewende gelingt nur, wenn wir ganzheitlich denken – nicht in Silos. Vielleicht kann die integrierte Netzführung sogar ein Weg sein, den zellulären Ansatz des VDE weiterzuentwickeln. Aber das ist ein Thema, auf das ich an anderer Stelle noch ausführlicher eingehen werde.