Quelle für den bearbeiteten Text: Daniel Bleich, Ruhrbarone
Bidirektionales Laden (Vehicle-to-Grid, V2G), also die Möglichkeit, Elektroautos als mobile Stromspeicher zu nutzen und Energie in das Stromnetz zurückzuspeisen, ist eine technologisch faszinierende Idee. Die Idee, E-Autos als Speicher zu nutzen und Anreize wie die Abschaffung der Doppelbesteuerung auf gespeicherten Strom zu schaffen, ist politisch und ökologisch sinnvoll.
Allerdings wird oft die unrealistische Erwartung geäußert, dass Millionen von E-Autos das Stromnetz retten, Kraftwerke ersetzen und die Energiewende im Alleingang bewältigen könnten. Experten betonen, dass diese Annahmen die fundamentalen physikalischen Grenzen des Stromnetzes ignorieren. Der Versuch, physikalische Probleme rein kaufmännisch zu lösen, wird als ineffektiv betrachtet.
1. Das physikalische Dilemma: Niederspannung vs. Hochspannung
Die physikalische Funktionsweise des Stromnetzes ändert sich drastisch zwischen den verschiedenen Spannungsebenen. Das Verteilnetz, an das E-Autos angeschlossen sind, wurde nicht dafür konzipiert, Strom beliebig durch das Land zu schieben.
- Hochspannungsnetz (Übertragungsnetz): Hier dominiert der Blindwiderstand. Lastflüsse können über die Phasorenwinkeldifferenz (ein Winkelversatz der Spannungswellen) elegant gesteuert werden, wobei die Spannungshöhe relativ stabil bleibt. Die Übertragungsnetzbetreiber können große Energiemengen verschieben, indem sie den „Winkel aufdrehen“.
- Niederspannungsnetz (400 Volt): Hier, in den Ortsnetzen, dominiert der ohmsche Widerstand. Der Transport von Wirkleistung (der tatsächlich nutzbaren Energie) ist in diesem Netz untrennbar mit einem Spannungsabfall (bei Strombezug) oder einer Spannungsanhebung (bei Einspeisung) gekoppelt.
2. Kapazitätsgrenzen und Spannungsbänder
Das lokale Verteilnetz (Ortsnetz) ist historisch für den Strombezug („Top-Down“) ausgelegt. Wenn in einer Siedlung viele Autos gleichzeitig Strom einspeisen („Bottom-Up“), entstehen folgende Probleme:
- Spannung steigt unzulässig an: Die Einspeisung treibt die Spannung am Verknüpfungspunkt hoch. Da der ohmsche Widerstand dominiert, schlägt der Wirkstrom direkt auf die Spannung durch. Dies verletzt schnell die zulässigen Spannungsbandtoleranzen.
- Netzabschaltung: Transformatoren (Trafos) können in die Sättigung gehen oder abschalten.
- Kein Transport: Die Leistung kann physikalisch gar nicht dort ankommen, wo sie benötigt wird, da sie durch die Leitungs- und Trafokapazitäten unter Berücksichtigung der Spannungsbänder begrenzt ist. Hinzu kommen massiv steigende Übertragungsverluste, da die Ströme bei niedrigem Spannungsniveau größer sind und die Verlustleistung quadratisch in die Leistungsbilanz eingeht.
3. Leistung ist nicht Energie: Die Dunkelflaute
Die Behauptung, E-Autos könnten Kraftwerke ersetzen, ist falsch, da Leistung und Energie verwechselt werden.
- Kurzzeitige Leistung (kW): Bidirektionales Laden bietet kurzzeitige Leistung, aber keine gesicherte Energie (kWh) für lange Zeiträume.
- Dunkelflaute: Phasen ohne Wind- oder Sonnenenergie können im Winter bis zu zwei Wochen andauern. Ein typischer E-Auto-Akku (ca. 50 kWh) wäre bei zukünftiger normaler Hausversorgung bereits nach ein bis zwei Tagen entladen.
- Verfügbarkeit: Besitzer können die Entladung blockieren, wenn sie das Auto für Fahrten benötigen.
- Residuallast: V2G oder Heimspeicher reduzieren nicht den Bedarf an Backup-Kraftwerken (Residuallast), da sie keine lang anhaltende, gesicherte Energie liefern können.
4. Systemstabilität und Sicherheitsrisiken
Um das Netz wirklich stützen zu können (z.B. bei Frequenzeinbrüchen), müssten die Wechselrichter der E-Autos netzbildend (Grid-Forming) sein, also als Spannungsquelle agieren und Überlast tolerieren.
- Trittbrettfahrer: Fast alle heutigen E-Autos nutzen netzfolgende (Grid-Following) Wechselrichter. Diese benötigen ein stabiles 50-Hz-Netz zur Synchronisation und agieren eher als „Trittbrettfahrer“.
- Empfindlichkeit bei Störungen: Wechselrichter bestehen aus empfindlichen Halbleiterbauteilen und schalten sich bei der kleinsten Störung sofort ab – genau dann, wenn sie zur Stabilisierung benötigt würden. Im Gegensatz dazu liefern Synchrongeneratoren im Kraftwerk bei Kurzschlüssen ein Vielfaches ihres Nennstroms, um das Netz zu klären.
- Gefahr der Synchronizität: Das Netz ist ein dynamisches System. Wenn Millionen von E-Autos zentral gesteuert (z.B. durch Preissignale) gleichzeitig laden oder entladen, entsteht eine massive Synchronizität, die als korrelierter Schock auf das System wirkt. Ein solcher Schock kann dazu führen, dass das stabile System schlagartig kippt (Bifurkation oder „Faltenkatastrophe“).
- Latenzproblem: Netzstabilität erfordert Reaktionen im Millisekundenbereich (Momentanreserve). V2G-Konzepte, die auf dem Internet und Cloud-Lösungen basieren, sind aufgrund von Latenz und Jitter für Echtzeit-Regelung viel zu langsam. Der Versuch, 50-Hz-Physik mit Sekunden-Latenzen zu regeln, führt zu einem Oszillator statt einem Stabilisator.
- Cyber-Sicherheit: Millionen vernetzter Einspeiser schaffen einen massiven Angriffsvektor. Ein Hack, der alle Autos gleichzeitig zum Schwingen brächte, könnte das Ende des Verbundnetzes bedeuten.
Fazit
Bidirektionales Laden auf der 400-Volt-Ebene ist ein wertvolles Feature für die Eigenheim-Optimierung (V2H), also zur Speicherung und Nutzung von eigenem Solarstrom. Auch können sich für Energieversorgungsunternehmen (EVUs) Handlungsoptionen ergeben, sofern eine ausreichende Vorlaufzeit (Latenz) vorhanden ist. Es ist jedoch nicht möglich, fehlende physikalische Infrastruktur (wie Leitungen, Trafos oder Schwungmasse) durch kaufmännische Anreize oder den V2G-Hype zu ersetzen. Die Technologie kann nicht als tragende Säule der nationalen Energiesicherheit dienen.
