Gewohntes aufgeben – Innovation ermöglichen
Quelle: Ö1/SWR
Die Wirtschaft hat sich bisher vor allem damit befasst, wie neue Erfindungen (Innovationen) etabliert werden können. Doch die Herausforderung besteht auch darin, Bestehendes aufzugeben (Exnovation). Bevor etwa ein Rathaus seine Dienste digital anbieten kann, müssen die Verwaltungsmitarbeitenden alte Arbeitsweisen aufgeben. Auch in der Industrie braucht es Strategien, um mit alten Produktionsverfahren gut abzuschließen. Wer das E-Auto durchsetzen möchte, muss sich vom Verbrennungsmotor verabschieden. Exnovation hilft, Beharrungskräfte zu überwinden. Und sie ist die Voraussetzung dafür, dass sich das Neue durchsetzen kann.
Zusammenfassung
Die treibende Kraft der Wirtschaft und Gesellschaft ist oft die Innovation. Doch wie der Podcast aufzeigt, kann Neues nur entstehen, wenn Altes konsequent abgeschafft wird – ein Prozess, der als Exnovation bezeichnet wird. Exnovation ist die Gegenspielerin der Innovation. [Siehe auch Resilienz, Anpassung und Robustheit]
Die Macht der Gewohnheit und Pfadabhängigkeiten
Obwohl sich der technische Fortschritt rasant entwickelt, setzen sich neue Technologien, wie der Elektroantrieb, nicht immer schnell durch. Dies liegt daran, dass wir längst überholte Techniken oder Arbeitsweisen nur schwer aufgeben können, selbst in der Verwaltung.
Die Psychologin Gudrun Töpfer erklärt, dass früher Dinge oft in einem gemütlichen, organischen Tempo verschwanden. Heute jedoch ist das Tempo so stark angezogen, dass wir aufgrund knapper Ressourcen gezwungen sind, schneller loszulassen, um mit dem Neuen Schritt halten zu können.
Ein zentrales Konzept sind die Pfadabhängigkeiten. Die Theologin Sandra Bils veranschaulicht diese strukturellen und kulturellen Gegebenheiten mit einem verblüffenden Beispiel: Die Spurbreite heutiger Eisenbahnschienen geht auf die gängige Breite römischer Straßen zurück, welche wiederum einzig und allein von der Breite eines Pferdehinterns abhängig war. Diese alten Pfade orchestrieren und systematisieren unsere heutige Welt so stark, dass ein Ausbruch extrem schwierig wird.
Exnovation in der Praxis: Verwaltung und Industrie
Digitalisierung der Verwaltung in Mainz
Um einen digitalen, bürgernahen Service einzuführen, muss die Stadtverwaltung Mainz starre Hierarchien und das gesamte Papier abschaffen. Steffen Frängle, Koordinator des Online-Zugangsgesetzes (OZG), und sein Team nutzen spielerische Ansätze wie den „Piratenkodex“, um die Digitalakte auszurollen und so die Verwaltung zu digitalisieren. Die Umsetzung von Digitalprojekten erfordert dabei eine horizontale, interdisziplinäre Arbeitsweise, statt der gewohnten hierarchischen Linien.
Amtsleiter Stefan Petry berichtet, dass die Mitarbeitenden die Umstellung auf neue Verfahren wie die digitale Terminvereinbarung (eingeführt seit der Corona-Pandemie) akzeptieren, wenn man ihnen erklärt, welchen Mehrwert die Änderung für alle hat.
Der komplexe Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor
Im Automobilsektor ist der Umstieg auf CO2-Neutralität eine der komplexesten Exnovationen. Opel-Manager Matthias Alt berichtet, dass das Unternehmen, das in seiner 150-jährigen Geschichte schon oft den Wandel vollzogen hat (von Nähmaschinen über Fahrräder zu Autos), nun plant, aus dem Verbrennungsmotor auszusteigen. Opel investiert aus wirtschaftlichen Gründen heute nichts mehr in die Entwicklung von Verbrennermotoren.
Doch der Ausstieg wird durch vielfältige Beharrungskräfte gebremst:
- Unsicherheit in Regularien und Vorgaben (z.B. die Streckung der CO2-Flottengrenzwerte durch die EU).
- Die fehlende Ladeinfrastruktur. Die Menschen sind an das Tankstellennetz gewöhnt (erneut eine Pfadabhängigkeit) und empfinden die Ladesituation als unzuverlässig.
- Das Phänomen des „Schwarzen Peter Zuspielens“ zwischen Industrie und Tankstellen, das bereits beim bleifreien Benzin den Wandel um 50 Jahre verzögert hat.
Das Drei-Ebenen-Modell des Wandels
Nach dem Drei-Ebenen-Modell des Innovationsforschers Frank Giels wird der Transformationsprozess durch folgende Kräfte beeinflusst:
- Die Nische: Der Experimentierraum, in dem sich neue Ideen ungehindert entwickeln können.
- Das Regime: Die Kräfte der Gewohnheit und etablierte Normen, wie Gesetze oder Führungskräfte, die Kontrollverlust fürchten. Wenn die Nische versucht, zum neuen Standard zu werden, gerät sie in eine große Auseinandersetzung mit dem Regime. In dieser Phase ist das gesamte System extrem instabil.
- Die Landschaft: Die großen, externen Dynamiken, wie Klimawandel, demografischer Wandel oder die Corona-Pandemie, die entscheidend zum Durchbruch einer Innovation verhelfen können.
Die Erfolgsstrategie der Exnovation
Für eine erfolgreiche Exnovation ist es unerlässlich, die Herausforderungen strategisch zu planen:
- Fokus auf die Essenz: Man muss sich auf das Wesentliche, das zugrunde liegende Ziel oder den Zweck, konzentrieren. Nur wenn man weiß, worum es im Kern geht, kann man erkennen, welche hinderlichen Verfahren losgelassen werden können.
- Frühe Kommunikation und Einbeziehung: Eine gute Kommunikation ist das A und O. Beharrungskräfte können gedämpft werden, wenn alle relevanten Gruppen frühzeitig eingebunden werden (z.B. über einen Beirat für Digitalisierung in Mainz).
- Planungssicherheit und Mut: Die Verantwortlichen müssen mutig entscheiden. Die Politik muss Planungssicherheit schaffen, da uneindeutige Signale der Innovation schaden (wie der abrupte Stopp der E-Auto-Förderung in Deutschland Ende 2023).
- Fehlerkultur: Aufgrund des hohen Tempos muss schnell viel Neues probiert und auch schnell gescheitert werden, um daraus zu lernen. Fehler müssen den Entscheidungsträgern mehr als bisher erlaubt werden, um schnell Ressourcen für das nächste Neue freizumachen.
- Umgang mit Verlierern: Jede Transformation verlangt Opfer. Lukas Fuchs, Forscher zu Innovationsprozessen, betont, dass diejenigen, die durch die Exnovation verlieren (z.B. Automobilzulieferer, Ölindustrie), kompensiert werden müssen oder Hilfen zur Umstellung erhalten sollten. Dies ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern notwendig, um einen breiten gesellschaftlichen Konsens und somit eine langfristige Umstellung zu gewährleisten.
Die wichtigsten Takeaways
- Exnovation ist zwingend erforderlich: Innovation setzt voraus, dass Altes strategisch und nicht nur organisch abgeschafft wird.
- Pfadabhängigkeiten sind starke Bremskräfte: Gewohnte Routinen und etablierte Infrastrukturen (wie das Tankstellennetz oder alte Verwaltungsvorschriften) schaffen starke Trägheit.
- Strategisches Weglassen planen: Bei komplexen Veränderungen ist es extrem wichtig, das Aufgeben des Alten strategisch zu planen und sich auf die „Essenz“ (das eigentliche Ziel) zu konzentrieren.
- Der Widerstand des Regimes ist unvermeidlich: Neue Ideen in der „Nische“ müssen sich aktiv gegen die „Regimeebene“ (die Kräfte der Gewohnheit und Hierarchien) durchsetzen. Dies führt zu einer Phase extremer Instabilität.
- Kompensation ist ein politisches Muss: Um langfristigen gesellschaftlichen Wandel sicherzustellen, muss die Politik klare Signale setzen und die Verlierer der Exnovation kompensieren oder ihnen Hilfen zur Umstellung bieten.
- 📖 Exnovation und Innovation: Synergie von Ende und Anfang in Veränderungen (Systemisches Management)