Letzte Aktualisierung am 20. Juli 2024.
Das Buch „Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen“ von Maja Göpel und Marcus Jauer liefert wieder einige interessante systemische Gedanken und verweist auch auf einige von mir sehr geschätzte Autoren wie Dietrich Dörner, Donella Meadows, Ugo Bardi oder Ortwin Renn.
Daher hier wieder einige Zitate daraus.
»Hoffnung gründet auf der Annahme, dass wir nicht wissen, was geschehen wird, und dass in der Weite der Ungewissheit Raum zum Handeln ist. Wenn Sie die Ungewissheit anerkennen, erkennen Sie, dass Sie in der Lage sein könnten, die Ergebnisse zu beeinflussen – Sie allein oder Sie in Zusammenarbeit mit ein paar Dutzend oder mehreren Millionen anderen. Hoffnung ist eine Umarmung des Unbekannten und des Unwissbaren, eine Alternative zur Gewissheit der Optimisten und Pessimisten.« Rebecca Solnit, Schriftstellerin
Die Welt verändert sich, das tut sie immer. Wir alle wissen das. Manche dieser Veränderungen können wir leicht akzeptieren, andere bedauern wir oder sperren uns dagegen. Manche können wir kaum erwarten und arbeiten mit aller Kraft daran, dass sie eintreten. Andere erschüttern und verunsichern uns zutiefst. Aber egal, um welche Veränderungen es geht, wir meinen, wir hätten ein Gefühl dafür, mit welcher Geschwindigkeit und in welchem Ausmaß sie üblicherweise eintreten. Wir sind daran gewöhnt, dass sich nach einer gewissen Zeit das Bekannte wieder weitgehend herstellen lässt. Wir sind nicht gewohnt, dass wir morgens das Handy einschalten, und die Welt, wie wir sie kennen, ist über Nacht ins Rutschen gekommen. Doch genau das scheint seit einiger Zeit immer häufiger zu passieren.
Zur Frage, welcher Weg dorthin der beste sei, stehen verschiedene Positionen im Raum: Technologie werde es lösen oder der Konsumverzicht, die Märkte oder der Staat. Oft treten sie gegeneinander an, aber nicht miteinander ins Gespräch.
Eine Große Transformation zu einer besseren Welt für alle ist das größte Abenteuer der Menschheit. Sie wird aus lauter kleinen Schritten bestehen – aber ohne eine klare Orientierung und die unermüdliche Begeisterung für das Mögliche wird sie nicht gelingen.
»In komplexen Systemen sind Beziehungen der Schlüssel. Verbindungen oder Beziehungen bestimmen, wie komplexe Systeme funktionieren; eine Organisation besteht aus ihren Beziehungen und nicht aus ihrem Flussdiagramm. Und diese Erkenntnis ist entscheidend für das Verständnis, wie sich komplexe Systeme von einfachen oder komplizierten Systemen unterscheiden.« Frances Westley, Brenda Zimmermann, Michael Quinn Patton, Transformationsforscher:innen
Klar haben wir in den zweihundert Jahren, seitdem wir Energie aus Kohle und Erdöl gewinnen, unfassbaren Wohlstand erzeugt – zugleich steuern wir aber mit dieser Art der Energiegewinnung immer schneller auf fundamentale Krisen zu. Erst Boom, dann Kollaps.
Wäre es ein Teufelskreis, würde das bedeuten, dass wir keine Möglichkeit hätten, daraus auszubrechen. Es würde bedeuten, dass wir nicht anders könnten, als zu scheitern. Aber so etwas wie einen unveränderbaren Teufelskreis gibt es nicht. Stattdessen gibt es komplexe oder sogar hochkomplexe Probleme – und oft muss es erst richtig scheppern, bis wir lernen, sie auch als solche zu betrachten und anders mit ihnen umzugehen. Als Teufelskreis erleben wir sie erst, wenn wir genau das nicht tun. Scheitern wir nämlich daran, ein komplexes Problem zu lösen, reicht es oft nicht aus, die gleiche Strategie nur noch effizienter zu verfolgen. Vielmehr geht es dann darum, die Strategie selbst auf den Prüfstand zu stellen. Und, vielleicht noch wichtiger, unser Verständnis des Problems.
Tanaland (»Logik des Misslingens«, Dietrich Dörner): Am Anfang nahmen sich die Student:innen noch Zeit, bevor sie eine Entscheidung trafen. Sie stellten Fragen, versuchten, sich zu orientieren, die Zusammenhänge zu verstehen, und hatten Erfolg. Je länger sie aber die Simulation bespielten, umso weniger fragten und dachten sie nach, dafür trafen sie immer mehr Entscheidungen und wurden darin immer schneller. Ab einem gewissen Punkt wichen sie nicht mehr von ihrem einmal gefassten Plan ab, ganz egal, welche Nachrichten sie über die Situation der Menschen in Tanaland erhielten.
Zuerst Aktionismus, dann Konfusion und Ärger, weil es nicht läuft. Am Ende Projektemacherei, Schuldzuweisungen, Dienst nach Vorschrift oder Flucht in Verschwörungstheorien. Ein Blick in unsere Gesellschaft, und wir sehen: Überall ist Tanaland.
Wenn wir es mit einem komplexen Problem zu tun haben, sind wir es gewohnt, analytisch zu verfahren: Wir zerlegen das Problem in seine Teile, untersuchen jedes für sich und finden die Schwachstelle. Danach tauschen wir aus, was nicht mehr funktioniert, bauen alles wieder zusammen und erwarten, dass der Fehler behoben ist. Nach dieser Methode erklären wir uns auch gerne die Welt. Wir zerlegen sie in ihre Bausteine und glauben, wenn wir alle Einzelteile gut verstanden haben oder »heile« machen, wird sich das große Ganze wie die Summe der Teile verhalten – und deshalb auch berechenbar sein. Nur geht die Rechnung leider nicht auf.
Denn es ist die Beziehung der Teile zueinander, ihr Zusammenwirken, das eine bestimmte Dynamik und eine Entwicklung vorantreibt, die unerwünschte Ergebnisse oder Fehler hervorbringen. Will man das ändern, muss man zuerst dieses Zusammenwirken verstehen. Sonst sieht man nur Bäume, aber keinen Wald.
Systemisch denken heißt übrigens auch, über Grenzen und Grenzziehungen nachzudenken – mit der Aussage »Alles hängt nun mal mit allem zusammen« kommen wir ja nicht weit, wenn wir strategisch handeln wollen. Aber die systemische Sicht ist eine evolutionäre, das heißt, sie bedenkt grundsätzlich, dass die Zukunft sich dynamisch in viele Richtungen verändern kann und jeder gelebte Moment nur einer von vielen ebenso möglichen Momenten ist. Deshalb sind Begrenzungen auch nicht hermetisch geschlossen, sondern veränderbar. Wir leiten sie aus einer Beschreibung des jeweiligen Problems ab und suchen – wie wir sehen werden – sogar bewusst nach ihnen. Systemisch wird also weder so getan, als gäbe es keine Grenzen für bestimmte Entwicklungen, da alles sich irgendwie ersetzen lässt, noch werden eindeutig quantifizierte, langfristige, lineare Ergebnisprognosen aufgestellt. Vielmehr geht es den evolutionären Systemwissenschaften darum, mögliche Entwicklungsmuster zu verstehen und zu beeinflussen.
Mit einer systemischen Herangehensweise verwandelt sich also auch unsere Perspektive darauf, an welcher Stelle wir eingreifen möchten, wenn wir komplexe Probleme und ihre Ursprünge verändern wollen. Und mit der neuen Perspektive ändert sich auch unsere Vorstellung davon, wie das möglich ist. Wir weiten das Spektrum der möglichen Strategien und Lösungen. Und das mir vielleicht Wichtigste: Wir fangen an, unsere Aufmerksamkeit auf die Strukturen zu lenken, mit denen wir unser Zusammenwirken organisieren und das Verhalten einzelner Teile oder Elemente beeinflussen. So gelingt es uns, weniger Schuld bei einzelnen Teilen zu suchen und vielmehr sogenannte system traps, Strukturfallen, zu finden, die uns einen Teufelskreis vorspiegeln.
Die systemische Perspektive lehrt uns, dass es »normal« ist, zu erwarten, dass die Lösungen von heute die Probleme von morgen sein werden.
Wer mit einem komplexen System zu tun hat, sollte – legen wir die Definition von Donella Meadows zugrunde – vor allem drei Merkmale im Blick haben: erstens seine vernetzte Gestalt, zweitens seine zeitliche Dynamik und drittens seine sogenannte Bestimmung, sein Ziel oder seinen Zweck (im Englischen heißt dieses Merkmal purpose).
»Ein komplexes System ist dynamisch, es bewegt und verändert sich, entwickelt sich weiter und ist in gewissem Sinne › lebendig ‹.« Ugo Bardi, Chemiker
Fügt man ein Element hinzu oder modifiziert man ein vorhandenes, verändern sich auch die Eigenschaften des Systems. Und damit über die Zeit auch die Eigenschaften der Teile. Das mag am Anfang gar nicht so sehr auffallen, aber je häufiger oder tiefer man eingreift, umso spürbarer reagieren die anderen Teile des Systems darauf, bis sich schließlich das Verhalten des ganzen Gefüges ändert.
Der deutsche Physiker und Erkenntnistheoretiker Hans-Peter Dürr sagt deshalb, dass wir in lebendigen Systemen nicht von Teilen oder Elementen sprechen sollten, sondern mindestens von Teilnehmenden. Und in Systemen mit Menschen besser gleich von Wirks. Wir wirken aufeinander. Ob wir das wollen oder nicht. Unsere Aktion beeinflusst die nächste Reaktion im System, jede:r von uns nimmt mit seinem und ihrem Verhalten Einfluss auf seine und ihre Mitmenschen.
Anders gesagt: Gute Laune und ziviler Umgang sind genauso ansteckend wie schlechte Laune und Beschimpfungen. Gute Erfahrungen prägen das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, ebenso wie schlechte. Was nichts anderes heißt, als dass es unser Blick auf die Welt ist, der den Zustand der Welt mitbestimmt.
In dieser Erkenntnis liegt eine enorme Chance. Sie beschreibt den Zugang zur Veränderung sozialer Systeme.
in einem komplexen System nie nur eine Sache tun können, ohne nicht auch eine andere zu beeinflussen, hat auch jeder Eingriff stets mehrere Wirkungen, manchmal auch unerwünschte.
Wollen wir also ein System in einem gewünschten Zustand erhalten oder es im Gegenteil verändern, müssen wir – und damit sind wir beim ersten der drei Merkmale – seine Gestalt möglichst genau kennen und verstehen, auf welche Art und Weise seine Teile miteinander vernetzt sind.
Reduzieren wir die Komplexität eines Problems, in das wir innerhalb eines Systems eingreifen, zu stark, verlieren wir nicht nur wichtige Ursachen, sondern auch genauso wichtige Effekte aus den Augen. Deshalb ist es hilfreich, die Auswahl dessen, was wir für unser Problemverständnis als relevant erachten, immer wieder zu hinterfragen.
Critical slowing down: Es zeigt sich oft bei Systemen, die kurz vor einem sogenannten Kipppunkt stehen. In dieser Phase brauchen sie immer längere Erholungszeiten, um sich nach einer Störung wieder zu stabilisieren und in ihr altes Gleichgewicht zurückzufinden. Sie brauchen dann ein neues. Und wenn das nicht mehr mit der alten Gestalt möglich ist, ist struktureller Wandel – Transformation – gefragt.
Die Entdeckung, dass Systeme, bevor sie sich radikal verändern, Muster des critical slowing down aufweisen, ist deshalb bedeutend, weil die Anzahl und das Ausmaß an Symptomen wie ein Frühwarnsystem funktionieren: Ballen sich ungewöhnliche Ereignisse, nehmen extreme Ausschläge zu, zeigt das an, dass das System seinem Kipppunkt bereits sehr nahe gekommen ist. Jede weitere Störung des Gleichgewichts kann nun eine enorme Wirkung entfalten. Zu keinem Zeitpunkt ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Dinge unaufhaltsam ins Rollen kommen, größer als jetzt. Auf einmal ist möglich, was kurz davor noch undenkbar zu sein schien.
Wie sich herausstellte: nicht mehr sehr viel. Bei fünf der neun Teilsysteme haben wir die planetaren Grenzen inzwischen gerissen und damit den safe operating space verlassen, in dem die Menschheit gut und sicher leben kann.
Konzept der planetaren Grenzen. Nur weil die Energie aus Sonne, Wind und Wasser erneuerbar und kohlendioxidfrei zu haben ist, gilt das nicht automatisch für die Hardware, um sie zu ernten, ebenso wenig wie für die Produktion all der Elektroautos, Batterien und Ladesäulen. Wollen wir den Wert der Elektromobilität für die Verkehrswende und den Klimaschutz einschätzen, dürfen wir also nicht nur auf die Emissionen schauen, die die neuen Autos jetzt nicht mehr ausstoßen. Wir müssen uns auch die Emissionen und Belastungen ansehen, die nötig sind, um diese Autos und die neue Energieinfrastruktur herzustellen. Sie gehören zu einer ehrlichen Bilanz dazu. Den Verbrennungsmotor in unseren Autos einfach gegen einen Elektromotor auszutauschen, gleicht dem, was der Tanaland – Erfinder Dietrich Dörner die »Überwertigkeit des aktuellen Motivs« nannte. Es bedeutet, die Aufmerksamkeit zu stark auf das scheinbar drängendste Problem zu fixieren – beim Beispiel der Elektromobilität, die Treibhausgase aus dem Verkehr zu ziehen. Ein typischer Fall von Symptombekämpfung, ohne das ganze Bild zu sehen.
Die Verkehrswende lediglich auf die Einführung von Elektroautos zu verengen, zeigt beispielhaft, dass wir oft viel zu früh aufhören zu fragen, worin das grundlegende Problem besteht, das wir lösen wollen. Und wo das langfristige Ziel liegt, das wir mit unseren vielen schrittweisen Investitionen und Innovationen erreichen wollen.
Immer zu fragen, was uns die Investitionen in eine andere Zukunft alles kosten werden, verkennt, dass es inzwischen immer häufiger teurer ist, wenn wir alles lassen, wie es ist.
Die Transformation, die wir angehen, ist im Kern ein kulturelles Projekt. Machen wir uns nichts vor: Es geht darum, wie wir in Zukunft leben, wer wir in Zukunft sein wollen. Die Frage klingt groß, aber sie hilft uns, die Ziele beziehungsweise die Bestimmung zu überprüfen, nach denen wir unsere gesellschaftlichen Systeme bisher ausgerichtet haben.
Zunächst einmal ist Widerstand gegen Veränderung aus systemischer Sicht einfach nur ein Zeichen dafür, dass ein System robust oder stabil ist. Das Zusammenspiel der Teile und der Beziehungen zwischen ihnen ist darauf ausgerichtet, sich selbst zu erhalten. Nur ist das Zusammenspiel immer adaptiv, das heißt, es entwickelt sich mit der Zeit fort. Daher kann zu starker Widerstand in einem Teil des Systems auch dazu führen, dass die Widerstandsfähigkeit des gesamten Systems abnimmt.
Muss – das – wirklich – so – sein? ist der direkte Weg zur Innovation.
»Worum geht es eigentlich?« Sich auf diese Frage einzulassen, hebt den Blick aus der Situation. Macht ihn frei für Ursprünge und Zusammenhänge. Dann reden wir womöglich weniger von verzichten und verbieten und mehr von verantworten, vermögen, vermitteln, verhalten und verständigen.
Unsere Wirklichkeit ist in komplexen Systemen strukturiert, die in sich, aber auch untereinander vernetzt sind. Wenn wir, statt Symptome zu bekämpfen, zu nachhaltigen Veränderungen gelangen wollen, können wir in diesen Systemen deshalb nicht nur einzelne Teile auswechseln. Wir müssen Zusammenhänge verstehen. Startpunkt ist die Klärung, welches Problem denn eigentlich gelöst werden soll und welche Gestalt es hat. Auf der Strecke gilt es, mit unerwarteten Nebenwirkungen zu rechnen. Merke: Wenn etwas aussieht wie ein Teufelskreis, dann steckt der Teufel manchmal nicht im Detail. Sondern im Kreis.
Kommt ein System an einen Kipppunkt, ändert sich sein Zustand, sein Entwicklungsmuster, und zwar – und das ist wichtig – nicht etwa gleichförmig, sondern sprunghaft und oft unvorhersehbar.
Stets genügt eine Gruppe, die deutlich kleiner ist als die Mehrheit, um die gesamte Situation zu verändern.
Die Tatsache, dass komplexe Systeme Kipppunkte haben, an denen sie vergleichsweise sprunghaft und unwiderruflich in einen anderen Zustand übergehen, ist erst einmal nur eine Tatsache, weder gut noch schlecht.
Systemisch ausgedrückt: Lauter kleine Veränderungen, die für sich genommen keinen großen Unterschied machen, addieren sich nicht mehr, sie multiplizieren sich. Aus einer allmählichen Entwicklung wird eine schnelle, aus einem linearen Verlauf ein nicht linearer oder auch exponentieller. Und irgendwann führt der gleiche Input zu einem auffällig anderen Effekt. Ist das critical slowing down erreicht, genügt irgendwann ein einziger weiterer Tropfen
Spannend an diesem Muster ist noch etwas anderes: Die Verlangsamung der Fähigkeit eines gesamten Systems, sich zu regenerieren und Schocks zu absorbieren, ergibt sich häufig aus der Beschleunigung einzelner Rückkopplungen. Critical speeding up sozusagen. Aus Anpassung wird disruptive Transformation: Die bisherigen Puffer im System sind aufgebraucht, die Abläufe nachhaltig gestört. Und sind die Trends einmal in nicht linearen Schwung versetzt, kann man sie nicht mehr so schnell anhalten. Denn komplexe Systeme haben keinen Stopp-Knopf, mit dem man all ihre Rückkopplungsschleifen sofort zum Stehen bringen könnte. Sie haben einen Bremsweg.
Wir haben gesehen, dass sich komplexe Systeme durch ihre vernetzte Gestalt oft anders verhalten, als wir es erwarten.
Verändern wir zu einem Zeitpunkt viel, heißt das nicht, dass sich sofort viel verändert. Verändern wir zu einem Zeitpunkt wenig, heißt das nicht automatisch, dass sich die Veränderung, die sich daraus ergibt, in Grenzen hält. Nur weil etwas heute funktioniert hat, muss es das morgen nicht auch tun. Wir können von der Vergangenheit nicht ohne Weiteres auf die Zukunft schließen.
An Krisen systemisch heranzugehen, bedeutet also, vorausschauend zu handeln und zu lernen, auf zukünftige Entwicklungen zu achten und zu reagieren, bevor sie eintreten. Deshalb beobachten die Veränderung von Trendkurven und empfehlen dringend einzugreifen, bevor die Kipppunkte direkt erlebbar, aber nur noch wenig steuerbar sind.
Präventionsparadox: Gerade weil wir Akzente gesetzt, den bedrohlichen Trend ernst genommen, FCKW verboten und Katalysatoren eingeführt haben, konnten wir die Veränderungsdynamik durch frühzeitiges Handeln abschwächen. Ohne unsere Gegenmaßnahmen wäre das nicht passiert.
Halten wir uns an Donella Meadows Definition von System, so beschreibt die Bestimmung (purpose) eines Systems den Zweck, den es erfüllt, um den herum es gebaut und auf den es ausgerichtet ist. An der Frage, wie gut ein menschengemachtes System diesen Zweck erfüllt, bemisst sich seine Berechtigung, seine Glaubwürdigkeit oder auch seine Legitimität.
Entsteht der Veränderungsimpuls immer erst aus Krisen, bedeutet dies, dass eine Vielzahl möglicher Alternativen weder systematisch vorgedacht und getestet noch frühzeitig verbreitet wird. Dann müssen wir, wenn es gar nicht mehr anders geht, sehr rasch lernen. Meist kommt es dann zu sogenannten schockbasierten Innovationen, die uns in der Regel mehr herausfordern als gestaltbare Transformationen.
Wie Jamila Haider deutlich machte, ist auch Wissenschaft nicht frei davon, innerhalb eines Systems zu agieren. Daher sind wissenschaftliche Ergebnisse immer auch Ausdruck der Strukturen, Regeln und Anreize, in denen sie geschaffen werden. »Selbst die grundlegendsten Aspekte des klassischen Bildes der Wissenschaft – Beweise, Experimente, Daten, Objektivität, Rationalität – haben sich als zutiefst historisch erwiesen«, resümiert Renn. Und so wurden viele ehemals objektiv und rational erscheinende Erkenntnisse im Laufe der Zeit als temporäre Gewissheiten in die Geschichtsbücher eingetragen.
Deshalb bedarf die Art, wie wir Wissen schaffen, einer aufmerksamen Pflege, denn auf diesem Wissen basiert das Handlungspotenzial einer Gesellschaft. Wissenschaft, Bildung und Technologieentwicklung können daher nicht getrennt von einer Gesellschaft gesehen werden, im Gegenteil. Sie sind ihr organisierter Lernprozess. Sie stehen stets im gewachsenen Kontext der Gegenwart. Sie produzieren keine neutralen Ergebnisse, sondern die nächsten Antworten auf unsere jeweiligen Fragen. Ändern wir die Fragen nicht oder nur wenig, obwohl sich die Zeiten ändern, können wir nur adaptive, aber keine transformativen Antworten erwarten. Bleiben unsere Fragen zu oberflächlich, werden wir nicht lernen zu hinterfragen. Daher sind Misfit – Erfahrungen zwar eher unbequem, aber wertvoll. Oft sind sie ein Schritt in Richtung wünschenswerte Zukünfte.
Die austrainierten Start-ups des Silicon Valley haben das verstanden und erzählen von fantastischen Ergebnissen, die ihre Produkte mit sich bringen werden. Fake it till you make it ist die Formel, nach der das Rennen um die Risikokapitalgeber ausgetragen wird. Gut verkaufte, imaginierte, zukünftige Geldflüsse mobilisieren heute die Summen, mit denen die Wirklichkeit von morgen geschaffen wird. Aber welche Wirklichkeit entsteht, sollten wir aus meiner Sicht demokratisieren. Und nicht einfach mit viel Geld forcieren oder auf den finanziellen Ertrag reduzieren. Wie soll das sinn- und nahrhafte Gärtnern möglich bleiben, wenn nur noch Geld gezüchtet wird?
Wenn der Moment gekommen ist, an dem ein System ausgedient hat, zeugt es von viel Größe, sein Gehen zu unterstützen.
Wir haben unser ganzes System auf diesem Wachstumsnarrativ aufgebaut. Es ist die einzige Geschichte, die uns über Nationen, Religionen, Geschlechter und Identitäten hinweg verbindet. Anthropolog:innen sehen sie als den kulturellen Treiber hinter der erfolgreichen Unterwerfung aller anderen Spezies auf unserem Planeten. Daraus auszusteigen ist nicht einfach: Wir haben Ja zu dieser Wachstumsgeschichte gesagt, nun müssen wir Ja zu allem sagen, was sich aus ihr ergibt.
Inzwischen sind pro Jahr doppelt so viele Menschen mit einem Flugzeug unterwegs, wie zu Zeiten von Keynes überhaupt auf der Erde lebten.
Betrachtet man moderne Gesellschaften aus Sicht der Systemtheorie, dann handelt es sich um Systeme, die sich strukturell im Ungleichgewicht befinden. Um Stabilität zu gewinnen, brauchen sie Energie von außen, um ihre Aktivitäten weiter zu steigern. Sie werden komplexer und produzieren so ökologische oder soziale Verwerfungen, die sie aufzufangen versuchen, indem sie noch mehr wachsen, mehr beschleunigen und komplexer werden.
Wenn Beschleunigung und Vernetzung in einem System an ihre Grenzen stoßen, entsteht Über-Forderung. Überforderung bedeutet, dass mehr erreicht oder verausgabt werden soll als das, wofür ein System ausgelegt ist. Kurzfristig ist das immer möglich, gerade komplexe Systeme sind Weltmeister im Puffern. Wird dem System aber keine Zeit zur Regeneration gegeben, dann führt das zu schwerwiegenden Schäden.
Im Jahr 2005 untersuchte das Magazin National Geographic die Frage, worin das Geheimnis für ein langes Leben liegt – und reiste dafür in fünf Regionen der Welt, in denen die Menschen besonders alt werden. So verschieden die Kulturen auch sind, denen die Bewohner dieser Regionen angehören, es gibt ein paar Dinge, die alle miteinander teilen und in denen Forscher:innen die Gründe dafür vermuten, warum diese Menschen so viel älter werden und so viel länger gesund bleiben als der Durchschnitt. Für alle steht die Familie, stehen die Menschen, die ihnen am nächsten sind, an erster Stelle. Alle finden Sinn und Erfüllung darin, etwas für die Gemeinschaft zu tun. Alle sind in eine solche Gemeinschaft eingebunden. Für alle ist Bewegung, moderate körperliche Aktivität, fester Bestandteil ihres Lebens. Alle essen mäßig, ernähren sich vor allem pflanzlich, rauchen nicht, trinken aber ab und an ein Glas Wein und haben Rituale entwickelt, mit Stress umzugehen.
Fangen wir damit an, uns von den Fesseln zu befreien, die uns all die Ismen auferlegen. Begriffe, die oft nicht mehr als Schlagworte sind, hinter denen sich die einen verschanzen und die anderen aufbauen, die Fronten markieren, aber selten als Brücken taugen. Denn natürlich gibt es nicht den einen Kapitalismus, und unsere Marktwirtschaft hat sich allein in den letzten vierzig Jahren rasant verändert. Lassen wir die Label beiseite, geht es im Kern doch vor allem darum, zu verstehen, warum unser heutiges Wirtschaftssystem nicht hält, was es uns verspricht. Denn solange das nicht erfüllt ist, muss sich etwas ändern.
Technik ist für uns heute so allgegenwärtig, dass wir kaum noch grundsätzlich über sie nachdenken. Wir haben sie auf die Lösungsseite und nicht auf die Problemseite gebucht. Und das ist kein Wunder, verdanken wir die Tatsache, dass wir heute wohlhabender, sicherer und angenehmer leben als je eine Generation vor uns, doch den immer weiter gestiegenen Möglichkeiten, Technik für uns arbeiten und Probleme lösen zu lassen. Der technische Entwicklungsstand ist es, in dem sich die Welt unserer Großeltern und Eltern am greifbarsten von unserer Welt heute unterscheidet. Hatten die Maschinen zunächst die physische Kraft der Menschen gesteigert und die Geschwindigkeit, mit der sie sich fortbewegten, vervielfachen Maschinen heute die Menge und die Geschwindigkeit, mit der sie Informationen erfassen, verarbeiten und übermitteln können. Einst waren es die wuchtigen Industriekomplexe, heute faszinieren vor allem vernetzte Miniaturen. Als
Dass viele Länder des globalen Nordens in Sachen Umweltschutz so gut dastehen, erklärt sich eben leider auch oft damit, dass sie die dreckigen Glieder ihrer Wertschöpfungskette in ärmere Länder ausgelagert haben. Eine Praxis, die man als »Externalisierung« bezeichnet.
Im Jahr 2020 betrugen die digitalen Werbeausgaben weltweit 140 Milliarden Dollar, wovon drei Viertel bei zehn großen Firmen aufliefen. In den USA verbuchen Facebook und Google zusammen die Hälfte der online getätigten Werbeausgaben.
Letzten Endes nutzen wir den Effizienzgewinn, den uns die Technik beschert, nur, um mehr zu konsumieren – statt mit ihm die Umwelt zu entlasten. Ein Effekt, der seit Langem als rebound bekannt ist.
Paris ist die am dichtesten besiedelte Stadt in Europa. Auf einer Fläche, die kleiner ist als ein Achtel von Berlin, leben mehr als zwei Millionen Menschen. Von den zwölf Millionen Menschen, die im Großraum der Metropole leben, wohnen daher zehn Millionen in den Vororten, den Banlieues, Hochhaussiedlungen, die hinter dem mehrspurigen Autobahnring liegen, der die Stadt von ihrem Umland abgrenzt. Paris gilt international als einer der interessantesten Orte, wenn es um einen ökologisch – sozialen Stadtumbau geht. Die französische Hauptstadt reiht sich ein in Entwicklungen, die es auch in Kopenhagen, Amsterdam, Wien, Zürich oder Barcelona gibt.
Wenn das Leitbild »autofreundlich« irgendwann nicht mehr mit ökologischer, sozialer, räumlicher und wirtschaftlicher Gerechtigkeit zusammenpasst, braucht es ein neues. Wird das neue zur gelebten Bestimmung, folgen die Strukturen dem deklarierten Ziel. Idealerweise so, dass die Instanz, die sich um Verkehr kümmert, weder mit der für Ressourcenschutz noch mit der für Wohnungsbau und auch nicht mit der für Wirtschaftsförderung weiter konkurriert – sondern alle vier gemeinsam darüber nachdenken, wie Flächen, Infrastrukturen und Wege so gestaltet werden können, dass ein Quadratmeter mehrere Ziele bedienen kann.
Während sowohl für den Wohlfahrtsstaat der 1950er – und 1960er-Jahre als auch für den Wettbewerbsstaat ab den 1980er – Jahren die Zukunft immer offen und voller Chancen gewesen sei, die nur ergriffen werden mussten, um mehr Fortschritt, Freiheit und Wohlstand zu erreichen, bestehe die Zukunft für eine Politik der Resilienz vor allem aus Risiken, die immer wieder heftige Störungen bis hin zum Kollaps verursachen.
Das, was wir Versorgungssicherheit nennen, beschreibt in Wirklichkeit nichts anderes als die Erwartung, dass unsere ständig wachsenden materiellen Ansprüche störungsfrei erfüllt werden, als wäre das vollkommen normal. Dabei wird eine Frage nie gestellt: Wie soll den versorgenden Systemen das gelingen? Und auf welchem Niveau der Versorgung oder Sicherheit sind wir denn eigentlich zufrieden?
Je nachdem, wie wir unser gesellschaftliches Betriebssystem organisieren, werden sich alle drei Säulen der Resilienz verändern: die Vermögensbestände, die Prozesse und die Art von Output, mit dem wir das Ergebnis – das Outcome – des menschlichen Wohlergehens erreichen.
Wir können sehr viele unterschiedliche Strategien entwickeln, um durch ein besseres Betriebssystem die Krisen nicht nur zu parieren, sondern sie auch unwahrscheinlicher zu machen. Denn Krisen resultieren, wie wir an vielen Beispielen gesehen haben, oft genau daraus, dass wir nicht frühzeitig darauf achten, wenn die Bestände – die assets – zu gering werden: wenn nicht mehr genug Fläche für die Bedürfnisbefriedigung der Städter da ist oder wenn im Wald nicht mehr genug balancierende Rückkopplungsschleifen vorhanden sind. Richtig brisant wird es, wenn in Krisen strukturkonservativ reagiert wird, also alles gegen die Schocks verteidigt, aber nicht transformiert werden soll.
Transformation by design, not disaster,
Transformationswissenschaftler:innen beschreiben dafür einen dauerhaften Lernprozess, typischerweise in vier Schritten.
Der erste Schritt besteht darin, nicht nur frühzeitig zu agieren, sondern das Problem auch wirklich zu verstehen. Und damit auch das System, das es hervorbringt. Klingt wie eine Selbstverständlichkeit, ist es aber nicht.
Neue Einsichten und besseres Verständnis der Zusammenhänge entwickeln sich aber häufig erst, wenn mit allen Akteur:innen geredet wird, die für das System wichtig sind. Das bedeutet, zuzuhören, was diejenigen, die den ganzen Tag mit einem Problem konfrontiert sind, brauchen, um die Dinge besser zu machen, statt ihnen Lösungen anzubieten, mit denen sie womöglich gar nichts anfangen können. »Das ganze System in den Raum holen«, nennen die Transformationsforscher:innen diesen Schritt.
Im zweiten Schritt geht es darum, eine Zielbeschreibung und eine entsprechende Mission für den Veränderungsprozess zu entwickeln, der in und mit dem System erreicht werden soll. Während beim ersten Schritt das Systemwissen und eine angemessene Problembeschreibung im Vordergrund stehen, also Vernetzung, Dynamiken und möglicherweise diverse gelebte Ziele erfasst werden, entsteht im zweiten ein breit getragenes Zielwissen, also eine Übereinkunft darüber, wohin es eigentlich gehen soll und auf welchen Wegen man dorthin kommen kann. Damit eine Mission breit getragen wird, muss sie für die Beteiligten und Betroffenen anschlussfähig bleiben. Sich für Geschichten eignen, die wir uns auf den Gängen erzählen.
Im dritten Schritt, oft als »Portfolio« bezeichnet, wird ein Repertoire an Ideen für die gewünschte Veränderung entwickelt und ihr Einsatz choreografiert. Das ist die Phase des Erkundens und Experimentierens, in der sich der Möglichkeitsraum öffnet, eine Vielfalt an unterschiedlichen Ansätzen entsteht, die sich miteinander austauschen und im Idealfall kombinieren lassen, um Mehrfachlösungen, also Multisolving, zu ermöglichen.
Komplexe Systeme brauchen den Tanz und die Interaktion, oft über bisher bestehende Abteilungen oder Institutionen hinweg, und nicht das stoische Abarbeiten von fixierten Plänen.
Im vierten Schritt, der das Verbreiten und die Verstetigung des Gelernten umfasst, geht es darum, die erfolgreichen Lösungen im System zu verankern und sie zu skalieren.
»Zweck der oberen Hierarchieebenen ist es, den Zwecken der unteren Ebenen zu dienen«, schreibt Donella Meadows.
Wie Paris am Beispiel Mobilität, so zeigt Belo Horizonte anhand der Ernährung, dass wirkliche Veränderungen nicht nur neue Behörden und Papiere mit sich bringen, sondern davon abhängen, wie die neuen Beziehungen und Prozesse des Lernens, Abstimmens und Kooperierens aufgestellt werden.
In Demokratien ist es also nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine durch die Verfassung legitimierte Verpflichtung, Märkten eine Orientierung zu geben, also das Gemeinwohl auszubuchstabieren, auf dessen Erreichen sie durch die politische Regelsetzung hinwirken. Dann funktioniert die Marktwirtschaft als Instrument zur Erfüllung der gesellschaftlichen Ziele. Und natürlich sollten nicht alle Ziele einer Gesellschaft über Märkte organisiert werden. Gerade die öffentliche Daseinsvorsorge und soziale Sicherung zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus der Verfassung abgeleitete Rechte betreffen und für alle Menschen in würdevoller Qualität zugänglich sein sollten, unabhängig von der Kaufkraft.
Selbstverständlich läuft das nicht konfliktfrei. Überall sind auch persönliche Interessen im Spiel. Die Kunst ist, diese erfolgreich zu benennen und auszutragen. Dafür sind Transparenz und gute Kooperation genauso nötig wie passende Anreize oder Vergütungen. Gestaltungsmacht durch exzellente soziale Technik. Und eine Bildung, die uns dafür befähigt.
Die Voraussetzung für eine funktionierende Harmonie der Hierarchien – er hat den Begriff der »Demokratie« verwendet – ist eine Bildung, deren Inhalt den aktuellen Herausforderungen entspricht und Bürger:innen zu einem verhältnismäßigen Handeln befähigt. Nur so kann ein System der Selbstregierung erhalten werden. Zu dieser Bildung gehört auch die individuelle Resilienz gegenüber der Versuchung, privilegierte Stellungen primär zum eigenen Vorteil zu nutzen.
»In einem Partnerschaftssystem ermutigen, inspirieren und stärken Führungskräfte, statt zu kontrollieren und zu schwächen«,
Nehmen wir die Pandemie und wie die Weltgemeinschaft sie bekämpfte. Nur ein Jahr, nachdem SARS-CoV-2 entdeckt worden war, hatte die Menschheit schon die ersten Impfstoffe dagegen gefunden. Im Jahr darauf verfügte sie bereits über zehn Milliarden Dosen davon, mehr als genug, um alle Jugendlichen und Erwachsenen auf der Welt mindestens einmal zu impfen. Beides, Entwicklung und Produktion einer solchen Menge in so kurzer Zeit, war bis dahin nicht für möglich gehalten worden. Bei ausreichendem Willen und genügend Kooperationsbereitschaft können wir uns also auch selbst überholen. Bei der Verteilung dagegen kam eine ordentliche Dosis Dominanz zurück. Viele Hocheinkommensländer sicherten sich frühzeitig Impfstoffe, indem sie in die Forschung privater Firmen investierten und im Gegenzug bei ihnen Kapazitäten reservierten oder bei mehreren Herstellern gleichzeitig bestellten, ohne dass klar war, wer von ihnen das Rennen machte. Noch bevor auch nur eine der zehn Milliarden Dosen ausgeliefert war, die im ersten Jahr produziert werden sollten, hatten sich die 27 Länder der Europäischen Union zusammen mit den USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Japan bereits die Hälfte davon gesichert, obwohl diese Staaten zusammen nur 13 Prozent der globalen Bevölkerung ausmachen. Diejenigen Staaten, die in der gelddominierten Rangfolge der Kaufkraft oben standen, nutzten die Position, um ein knappes Gut zu bunkern – in diesem Fall Impfstoff –, es hätte aber auch eine andere Ressource sein können. Innerhalb ihrer Landesgrenzen verschaffte ihnen das kurzfristig einen Erfolg. Während es in einigen armen Ländern noch immer kaum genug Impfstoff gab, um wenigstens die gefährdeten Bevölkerungsteile zu schützen, konnten sie ihrer Bevölkerung bereits eine Booster-Impfung anbieten. Bald aber zeigte sich, dass dieser »Impfnationalismus« den Kampf gegen die Pandemie nur verlängerte. Nicht nur, weil SARS-CoV-2 mutierte und als Variante in die reicheren Länder zurückkehrte, sondern auch, weil diese Länder unterm Strich nichts davon haben, wenn ihre eigene Bevölkerung immun ist, während ihre Handelspartner noch unter der Pandemie leiden. Laut einer Studie der Internationalen Handelskammer verursacht eine ungleiche Verteilung der Impfstoffe weltweit Schäden von 9,2 Billionen Dollar – wovon die Hälfte bei den reicheren Ländern anfällt, eben weil sie in anderen Zusammenhängen viel stärker von der internationalen Vernetzung profitieren. Würden diese Länder stattdessen in eine andere Verteilung investieren, bekämen sie für jeden so eingesetzten Dollar etwa 166 Dollar Rendite. Dominanzstrategien rechnen sich also noch nicht einmal für die, die in der Pyramide oben sind. Sie können nur länger aushalten. Wäre das denn auch partnerschaftlich gegangen? Tatsächlich hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) früh eine solche Strategie vorgeschlagen. Ihre Idee war, dass alle Staaten Geld in einen gemeinsamen Fonds einzahlen, aus dem die Vakzine gebündelt für alle gekauft werden sollten. Covax, so der Name der Initiative, hätte ein partnerschaftliches Vorgehen gegen eine gemeinsame Gefahr etabliert. Doch viele Hocheinkommensländer entschieden sich dazu, den Fonds zu umgehen. Sie schlossen bilaterale Verträge mit den Herstellern ab, horteten mehr Impfstoff, als sie brauchten, während sie zugleich weniger an ärmere Länder abgaben, als sie Covax zugesagt hatten. Am Ende verteilte Covax, statt Impfstoffe für alle zu kaufen, nun nur noch Spenden an Bedürftige. Dabei hätte der Vorteil einer Partnerschaftsstrategie nicht nur darin bestanden, im globalen Norden und Süden zeitgleich mit den Impfungen beginnen zu können. Es hätte der Weltgemeinschaft auch eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber den Pharmakonzernen gegeben. Firmen, die für ihre Impfstoffe bis zu zwanzig Euro pro Dosis verlangten, sie aber zum Teil für weniger als ein Zehntel dieses Verkaufspreises produzierten – und die nicht bereit waren, den Patentschutz auch nur vorübergehend aufzuheben. Eine Harmonie der Hierarchien zu Beginn der Pandemie hatte sich in eine Eskalationsfalle zwischen Teilsystemen verwandelt, als nicht mehr Forschung, sondern Verteilung im Fokus stand.
Das Deutsche verwischt hier einen zentralen Unterschied, weil es in beiden Fällen bloß von Grenzen spricht, im Englischen dagegen können Grenzen limits oder boundaries sein. Limits sind physische oder physikalische Grenzwerte, die mit in den im jeweiligen Moment verfügbaren Ressourcen und Naturgesetzen zu tun haben. Boundaries dagegen sind soziale Übereinkünfte. Wir setzen beispielsweise Nutzungsbudgets (planetary boundaries), um die Risiken zu reduzieren, in harte Limits hineinzurutschen und aus Schocks zu lernen. Der Mensch selbst kann nicht fliegen, das ist ein Limit, daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er Flugzeuge entwickelt hat. Sie zeigt aber, dass sich Boundaries verschieben lassen – also das, wie Menschen mit limitierenden Befunden umgehen. Fortschritt entsteht in der Regel aus der bewussten Verschiebung unserer Boundaries und im Idealfall mit einer vernetzten und vorausschauenden Perspektive auf die zu erwartenden Limits. Erfolgreiches systemisches Management, so Donella Meadows, orientiert sich also immer am nächsten zu erwartenden Limit. Je eher wir sie entdecken und in hilfreiche Boundaries und Alternativen übersetzen, umso weniger Krise und Chaos.
Auch bei den systemrelevanten Tätigkeiten müssen wir Grenzen neu verhandeln, wollen wir die Freiheiten erhalten, die wir heute für selbstverständlich erachten. Sie müssen nicht nur endlich einen ähnlichen Durchschnittslohn bekommen wie andere Branchen. Auch die Anerkennung dieser Tätigkeiten – vom Gesundheitswesen über Lebensmittelversorgung und Kindernotbetreuung bis hin zu Logistikarbeitenden – muss entsprechend ihrer Funktionen in unseren Gesellschaften dringend aufgewertet werden.
Für Michael Tomasello ist es dieses im Raum geteilter Aufmerksamkeit entstandene Wir, in dem wir zu Menschen werden. Er bezeichnet diese Fähigkeit als »geteilte Intentionalität«. Keine andere Tierart verfügt über sie. Nur Menschen sind dazu in der Lage, »ihre Köpfe zusammenzustecken«, wie er es ausdrückt. In dieser Fähigkeit, nicht nur gemeinsam zu handeln, sondern dazuzulernen, liegt der Schlüssel für den rasanten und immer rasanter verlaufenden Aufstieg der Menschheit. Sie erlaubt es uns nicht nur, Gefühle und Wissen mit anderen auszutauschen, unsere Gehirne zusammenzuschalten und Probleme zu lösen, die für einen allein nicht lösbar wären, was eine enorme Explosion an Kreativität zur Folge hat. Sie ermöglicht es uns auch, das, was wir gelernt haben, systematisch an andere weiterzugeben und damit Erkenntnisse über Generationen hinweg anzuhäufen. Jeder Mensch, der neu auf die Welt kommt, erhält durch diejenigen, von denen er oder sie lernt, Zugang zum gesammelten Erfahrungsschatz der Menschheit und wird durch sie gewissermaßen auf den aktuellen Stand gehoben. »Wagenheber – Effekt« nennt Tomasello diese Voraussetzung dafür, dass jede Generation auf den Schultern ihrer Vorfahren steht.
Eine Information nicht mehr nur genetisch, sondern kulturell weitergeben zu können, öffnet dem Menschen die Tür zum Fortschritt und zu einer Entwicklungsform, bei der er nicht mehr nur reaktiv lernen und blind in Limits hineinlaufen muss. Er kann vorausschauen und Vorwärtskopplungen bauen. Dafür wächst aber auch die Verantwortung für die Effekte.
Initiative »The Giving Pledge« angeschlossen, zu Deutsch »Das Gebe-Versprechen«. Es ist eine Gruppe internationaler Unternehmer:innen und Erb:innen, in die man überhaupt nur aufgenommen wird, wenn man Milliardär:in ist und sich verpflichtet, wenigstens die Hälfte seines Vermögens für wohltätige Zwecke zu spenden. Im Jahr 2010 von Microsoft-Gründer Bill Gates und Investor Warren Buffett gegründet, hat die Initiative heute mehr als 230 Mitglieder aus 28 Ländern,
Wohltätigkeit wird in den USA inzwischen vor allem über private Stiftungen abgewickelt. Ihre Zahl ist zwischen den Jahren 2005 und 2019 um fast siebzig Prozent gewachsen, ihre Einlagen haben sich auf 1,2 Billionen Dollar mehr als verdoppelt, was der jährlichen Wirtschaftsleistung eines Landes wie Spanien entspricht.
In den USA gewährt der Staat solchen Stiftungen weitreichende Steuernachlässe, für die es schon genügt, wenn sie jährlich einen geringen Teil ihres Vermögens für gemeinnützige Zwecke ausgeben, während sie den Rest beispielsweise in Aktien investieren dürfen, um ihr Stiftungskapital zu vermehren. Geld, das der Staat sonst als Steuern einnehmen und entsprechend der Gemeinwohlorientierung einsetzen könnte, der er der Verfassung nach verpflichtet ist. Geld, das stattdessen in Institutionen gebunden bleibt, die privat darüber entscheiden, wofür es eingesetzt wird. Und deren Gründer genau deshalb noch weniger Steuern zahlen, als sie es in ihren geschäftlichen Tätigkeiten zur Erlangung des Reichtums ohnehin schon tun. Würden die hundert amerikanischen Mitglieder von The Giving Pledge wie versprochen die Hälfte ihres Vermögens spenden – das wären insgesamt knapp 500 Milliarden Dollar –, entgingen dem amerikanischen Staat laut Berechnungen der Denkfabrik Institute for Policy Studies etwa 360 Milliarden Dollar an Steuergeldern. Anders gesagt: Diese Form der Philanthropie bietet ein Gestaltungsvermögen, das nur sehr wenigen Menschen vorbehalten bleibt und von sehr vielen Menschen subventioniert wird. Und was bei der medialen Aufmerksamkeit für die großen Summen, die bestimmte Menschen spenden, zudem vollständig aus dem Fokus rutscht, ist die von Studien immer wieder bestätigte Tatsache, dass die Menschen mit den geringsten Einkommen am meisten spenden, sobald man die Höhe ihrer Beiträge ins Verhältnis zu ihren Einkommen setzt.
Es sind dieselben Systeme, die es jenen sechzig amerikanischen Milliardär:innen, die vor zwölf Jahren The Giving Pledge beigetreten sind, ermöglicht haben, ihr Vermögen insgesamt fast zu verdoppeln, während sie eigentlich die Hälfte davon spenden wollten. Fünfzig von ihnen haben es sogar verdreifacht, einige mehr als verzehnfacht. Allein von März bis Juli 2020, als die Pandemie die Welt mit voller Härte traf, stieg das kollektive Vermögen der hundert US-Milliardäre von The Giving Pledge um mehr als ein Viertel an. Die neuen Philanthropen werden schneller reich, als sie ihr Geld abgeben können.
In einer fraktalen Struktur werden bestimmte Prinzipien auf unterschiedlichen Ebenen wiederholt, dadurch multipliziert und als unsere gelebte Normalität wirksam. Verändert man ein Prinzip, löst man einen Wandel aus, der sich über die verschiedenen Ebenen fortsetzen kann. So gesehen spielen kollektiver und individueller Wandel immer zusammen, Wandel von oben nach unten und unten nach oben, auch der Wandel zwischen verschiedenen Organisationen auf einer Ebene findet nie isoliert statt.
Haben wir ein Problem beschrieben und vielleicht sogar eine gute Lösung dafür gefunden, ist diese damit noch lange nicht umgesetzt. Vieles geht immer nur Schritt für Schritt.
Auf uns Menschen angewendet, bedeutet das nicht, dass wir nicht vorausplanen, keine weitreichenden Ziele verfolgen sollen, um unsere Systeme zu verändern. Es heißt aber, dass wir uns diesen Zielen nur schrittweise nähern können, wenn die Veränderungen nicht zu disruptiv werden, also veritable Krisen oder Dominanzkonfrontationen hervorrufen sollen.
»Handle so, dass dein Gegenüber anschließen kann, gerade weil du das nicht kontrollieren kannst«
Indem wir jeweils den Schritt gehen, der den Beteiligten gerade möglich ist, schaffen wir Veränderungen, die dauerhafter in unseren Systemen zum Ausdruck kommen, in gelebter Praxis und selbst organisierenden Prozessen. Und solange wir uns nach einem Schritt nicht erst einmal lange ausruhen, sondern weiterlaufen, entsteht eine dynamische Praxis, bei der wir uns an das immer wieder Ungewisse anpassen, sich unsere Routinen verändern, Institutionen neu verpackt werden, das Neue normal wird. Verankert, weil so viele Menschen wie möglich mitmachen.
Da es mich stark erstaunt, wie offensiv gerade aus Kreisen von Ökonom:innen behauptet wird, dass die Szenarien des Club of Rome an der Realität vorbei berechnet worden seien, hier zwei Quellen, die mit heutigen Daten nachgerechnet haben: https://limits2growth.org.uk/wp-content/uploads/Jackson-and-Webster-2016-Limits-Revisited.pdf sowie https://advisory.kpmg.us/articles/2021/limits-to-growth.html (letzter Aufruf: 1. 6. 2022). Darüber hinaus ging es in diesem Modell nie darum, eine exakte numerische Prognose von Ressourcenbeständen anzubieten, sondern das degradierende Zusammenspiel der unterschiedlichen Trends von Industrialisierung, Ressourcennutzung, Bevölkerungswachstum, Verschmutzung und Verfügbarkeit von Land für Nahrungsmittelproduktion herauszustellen.