Erneut schwerwiegende Zwischenfälle am 17. Mai 2021 und am 24. Juli 2021

Quelle: srf.ch

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Am 24. Juli 2021 kam es um 16:36 Uhr zu einer Netzauftrennung im europäischen Verbundsystem und damit zur zweiten Großstörung in den letzten 7 Monaten. Doch kaum jemand hat davon Notiz genommen, frei nach dem Motto „Guat is ganga, nix is g’scheh’n!“, auch wenn in Frankreich, Spanien und Portugal rund 2 Millionen Menschen durch den automatisierten Lastabwurf kurzzeitig ohne Strom waren. Die Netzfrequenz sank in Spanien bis auf 48,66 Hertz. Zwar haben die europäischen Übertragungsnetzbetreiber wieder eine hervorragende Arbeit geleistet! Dennoch gibt es noch mehr offene Fragen als Antworten. 

So etwas hätte nicht passieren dürfen. Die europäischen Übertragungsnetzbetreiber untersuchen nun den Vorfall. Immerhin bereits die zweite Netzauftrennung in diesem Jahr (siehe 8. Jänner 2021). Zuvor gab es in den letzten Jahrzehnten nur drei weitere Netzauftrennungen im europäischen Verbundsystem: 2003 beim Blackout in Italien, 2006 bei der bisher schwersten Großstörung quer durch Europa und 2015, beim Blackout in der Türkei.

Die Iberische Halbinsel ist nicht optimal mit dem zentraleuropäischen Stromversorgungssystem vernetzt. Trotzdem fließen immer wieder große Energiemengen über diese Verbindungsstellen. So auch am 24. Juli und wie zuvor am 8. Januar. Unglücklicherweise kam es unter einer dieser Trassen zu einem Flächenbrand. Um 16:35 Uhr dürfte ein Löschflugzeug das Löschwasser unmittelbar über einer Höchstspannungsleitung abgeworfen und damit einen Kurzschluss verursacht haben. Damit wurden offensichtlich Folgeeffekte bewirkt, welche eine Minute später zu einer Überlastung der übrigen Kuppelstellen und zur Netzauftrennung zwischen Frankreich und der Iberischen Halbinsel führten. 

Weiterführende Informationen: Ignorierte Warnhinweise: Erneut Großstörung im europäischen Stromversorgungssystem bzw. Details unter Bedenkliche Ereignisse 2021

Am 17. Mai 2021 kam es in Polen zu einem schwerwiegenden Zwischenfall, der nicht hätte passieren dürfen. Dabei wurde das weltgrößte Kohlekraftwerk durch einen Fehler auf einer vorgelagerten Sammelschiene kurzfristig vom europäischen Verbundsystem getrennt. Sammelschienenfehler können genauso wie sonstige Fehler passieren. Überraschend war allerdings, dass dadurch schlagartig über 3 GW an Leistung im Netz fehlten, was eigentlich nicht passieren dürfte, da auf europäischer Ebene für solche Ereignisse nur 3 GW Reserveleistung vorgehalten werden. Aber: „Guat is ganga, nix is g’scheh’n!“ – und es blieb für den Großteil der Bevölkerung unbemerkt. Dass damit das Ausregelvermögen von Leistungssprüngen im Stromnetz völlig ausgereizt wurde und wir wieder einmal knapp an einem Totalausfall vorbeigeschrammt sind, das ging schlicht unter.

 

Krisenvorsorge unzureichend

Zuständigkeit-irgend jemandLeider haben wir in den letzten Wochen auf mehreren Schauplätzen erleben müssen, dass die Krisenvorsorge in vielen Bereichen unzureichend ist. Besonders bitter waren die Überschwemmungen in Deutschland mit bisher mehr als 180 Toten und enormen Sachschäden. Nach jüngsten Meldungen wurden über 40.000 Autos zerstört. Nicht, dass Autos besonders wichtig wären, aber damit wird die Dimension greifbarer. Der sonstige Sachschaden, insbesondere an der überlebensnotwendigen Infrastruktur (Strom, Trinkwasser, Abwasser, Telekommunikation, Straßen, Bahnen, Behausungen usw.) ist noch um Dimensionen größer und kann auch nicht so rasch wiederhergestellt werden.

Für uns alle, die nicht unmittelbar betroffen sind, ist das schlichtweg kaum vorstellbar. Die laufenden Schuldzuweisungen sind in diesem Zusammenhang daher auch nicht hilfreich. Der volle Schaden hätte mit Sicherheit nicht verhindert werden können. Auf jeden Fall hätte vieles besser gemacht werden können, wären die Warnungen ernst genommen und entsprechende Vorsorgemaßnahmen getroffen worden. Besonders bitter ist, dass bereits Anfang 2013 in einer Risikoanalyse für den Deutschen Bundestag, wo auch ein Pandemie-Geschehnis thematisiert wurde, das Thema Hochwasser-Ereignisse eindringlich beleuchtet wurde. Wer hat Konsequenzen daraus gezogen

Warnungen, die erst kommen, wenn einem sprichwörtlich das Wasser bereits bis zum Hals steht, sind obsolet. Hier muss bereits dann angesetzt werden, noch bevor sich ein konkretes Unheil abzeichnet. Auch vor der unmittelbaren Gefahr wäre noch einiges an Zeitpuffer verfügbar gewesen, um den Gesamtschaden zu reduzieren. Uns fehlt es offensichtlich an der notwendigen Sensibilität, um „schwache Signale“ richtig deuten zu können. Dadurch kommt es dann zu fatalen Ereignissen, obwohl wir wissen, wie erfolgreiche High Reliability Organizations (HROs) damit erfolgreich umgehen. Unsere Wohlstandsgesellschaft scheint sich aber nicht mehr als HRO zu sehen, wodurch es dann zur evolutionären Selektion kommt, um es einmal deutlich auszudrücken.

Dabei hilft es auch nichts, wenn wir die Schuld bzw. Verantwortung immer bei jemanden Anderen suchen, wie das heutzutage leider auch bei der Blackout-Vorsorge sehr häufig zu beobachten ist. Wir alle haben hier eine gesellschaftliche Verantwortung und die beginnt nun mal im eigenen Bereich: bei der persönlichen Vorsorge und bei den organisatorischen Maßnahmen in der eigenen Organisation bzw. im eigenen Unternehmen. Natürlich müssen wir auch die anderen Ebenen in die Pflicht nehmen. Zuerst sollten wir aber mit gutem Beispiel vorangehen, wo es meist noch viel zu tun gibt. Sprechen Sie das Thema bitte auch konkret in Ihrem Umfeld, in Ihrer Gemeinde oder Ihrem Unternehmen an! Je mehr Menschen die falschen Annahmen und Erwartungen hinterfragen, desto eher wird sich etwas ändern.

Und dann geht es auch (wie so oft) um eine entsprechende Top-down-Sicherheitskommunikation. Diese wird aber nur erfolgreich sein, wenn sie auf eine sensibilisierte Bevölkerung trifft. Denn Warnungen sind wertlos, wenn sie zu spät kommen oder nicht das intendierte Verhalten auslösen, weil uns die notwendige Risikokompetenz fehlt.

Zum anderen neigen wir halt dazu, negative Dinge auszublenden. Dies belegt einmal mehr eine Umfrage zur Krisenvorsorge in Österreich: Die österreichische Bevölkerung setzt mehrheitlich auf den Staat und weniger auf Eigenvorsorge. Ein Großteil der Menschen glaubt allen Ernstes, dass sie sogar bei mehrwöchigen Versorgungsproblemen – etwa in Folge eines Blackouts – primär vom Staat versorgt werden. Doch wer ist „der Staat“? Doch wir alle! Wie sollten die staatlichen Institutionen Millionen Menschen versorgen, wenn die gewohnten Strukturen nicht mehr funktionieren? Offensichtlich wiegen sich hier viele Menschen in einer Scheinsicherheit, um sich nicht damit weiter auseinandersetzen zu müssen. Auch das kann fatal enden, insbesondere dann, wenn man die Dinge einmal zu Ende denkt, wie das etwa Alexander Schatten in seiner sehr eindringlichen Podcast-Episode „Mit »Reboot« oder Rebellion aus der Krise?“ auf den Punkt gebracht hat (eine unbedingte Hörempfehlung!). Ein Zitat daraus: 

Wir haben die Leiter, über die wir zur heutigen gesellschaftlichen Komplexität hochgeklettert sind, leichtfertig weggeworfen. Ein Kollaps unserer Gesellschaft würde nicht nur unfassbares Leid mit sich bringen , sondern wir wären wohl auch nicht mehr in der Lage, die lebenswichtigen Infrastrukturen in absehbarer Zeit wiederherzustellen. Auch die Vision von schnellen und radikalen Reformen sind aus mehreren Gründen unrealistisch und brandgefährlich. Etwas zerstören ist relativ einfach, etwas Funktionierendes wieder aufbauen hingegen ungeheuer schwierig und – wenn es große Teile der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik betrifft – auch nicht planbar.

Dazu passt auch hervorragend der lesenswerte Artikel „Die nächste globale Katastrophe ist auf dem Weg – und wir sind nicht bereit“ von Niall Ferguson in der nzz.ch. Ferguson nennt fünf Kategorien für das politische Fehlverhalten auf dem Gebiet der Katastrophenvorbereitung und der Schadensminderung:

  1. Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen.
  2. Mangel an Vorstellungsvermögen.
  3. Neigung, den letzten Krieg oder die letzte Krise durchzukämpfen.
  4. Unterschätzen einer Gefahr.
  5. Hinausschieben notwendiger Vorsorgemaßnahmen oder auf eine Gewissheit warten, die sich nie einstellt.

Auch das Untersuchungsergebnis aus der „Challenger“-Katastrophe im Jahr 1986 dürfte vielen Lesern anhand von aktuellen Beispielen bekannt vorkommen: Die Bürokraten der mittleren Führungsebene bei der NASA hatten darauf bestanden, das Risiko eines katastrophalen Fehlers mit 1:100 000 zu bewerten, obwohl die eigenen Ingenieure es mit 1:100 einschätzten. Ein „Phänomen“, das bei der Blackout-Vorsorge in ähnlicher Form häufig zu beobachten ist. Die Differenz zwischen den Aussagen offizieller Stellen oder höherer Führungsebenen und der Einschätzung der ungeschminkten Realität (etwa die Handlungsfähigkeit im Fall eines Blackouts betreffend), ist häufig gravierend. Schutzbehauptungen gibt es daher nicht nur bei den „Anderen“, sondern vielfach in den eigenen Reihen. Bei der Beurteilung der Wiederanlaufzeiten nach einem Blackout treten häufig gravierende Fehler auf, weil einfach komplexe Zusammenhänge im logistischen Bereich massiv unterschätzt werden.

Gerade in den letzten Wochen haben wir irrwitzige Entwicklungen bei Lieferketten erlebt: Die Lieferzeiten sind bei Standard-Schaltschränken von 2 Tagen auf 10 Wochen angestiegen. 100 Stück Standard-Schrauben konnten nur über drei Lieferanten bezogen werden. Weitere Lieferungen sind nicht absehbar usw. Überlegen Sie sich nur einmal, wie lange es dauern könnte, nur die Grundversorgung wiederherzustellen, wenn es einmal quer über Europa zu einem Totalausfall der Produktion und der Lieferketten gekommen ist. Ein anschauliches Beispiel aus dem vergangenen Jahr: Während des ersten Lockdowns mit Grenzschließungen war die Abfüllung von Mineralwasser nicht mehr möglich, weil die Verschlüsse für die Flaschen nicht mehr angeliefert werden konnten. Hier nochmals die Empfehlung der Podcast-Episode „Mit »Reboot« oder Rebellion aus der Krise?„.

Ferguson gibt auch wichtige Empfehlungen, die auch die Österreichische Gesellschaft für Krisenvorsorge propagiert:

  1. Wir sollten nicht länger versuchen, Katastrophen vorherzusagen oder ihnen gar Wahrscheinlichkeiten zuzuordnen. Von Erdbeben über Kriege bis hin zum Kollaps der Finanzsysteme: Die herausragenden historischen Zusammenbrüche folgten zufälligen Entwicklungen. Wohl kaum jemand hat im Frühsommer 1914 damit gerechnet, dass es in Kürze einen Weltkrieg geben könnte. Auch im Februar 2020 waren sich noch viele europäischen Entscheidungs- und Verantwortungsträger sicher, dass uns die Entwicklungen in China nichts angehen. Sie glaubten auch, dass wir gut vorbereitet seien und niemand verifizierte die falschen Annahmen, was dann im März in hektischen Aktionismus mündete. Während der erste Lockdown noch aufgrund der vielen Unsicherheiten geboten war, wurde aber dann wenig daraus für die Folgemonate gelernt. Es fehlte vor allem im öffentlichen Sektor an der notwendigen Anpassungsfähigkeit. Auch jetzt geht es vorwiegend um die Wiederherstellung der alten Welt und kaum um eine Weiterentwicklung und Anpassung, um besser auf zukünftige Krisen vorbereitet zu sein. Das spiegelt sich etwa im aktuellen österreichischen Aufbau- und Resilienzplan 2020-2026 wider.
    Derartige Krisen – wie auch ein mögliches Blackout – gehören nicht in den Bereich des Risikos, sondern in das „Reich der Ungewissheit“. Wir wären gut beraten, uns das einfach einzugestehen, anstatt uns mit unerreichbaren und irreführenden Berechnungsversuchen selbst zu täuschen. Hier helfen die Risiko-ethischen Überlegungen der Ludwig-Maximilians-Universität München weiter, welche anhand der Corona-Pandemie angestellt wurden.
  2. Katastrophen treten in viel zu vielen Formen auf, als dass wir sie mithilfe der üblichen Ansätze zur Risikominderung behandeln könnten. Betriebsunterbrechungen gelten seit Jahren als Top-Risiken, dennoch sind wir unvorbereitet in die aktuellen Lieferkettenstörungen getaumelt. Dabei wissen wir seit Langem von Aufschaukelungsprozessen durch Rückkoppelungen: Eine Verzögerung in einer Rückkopplung kann ein System zum Schwingen bringen. Siehe dazu auch das aktuelle Beispiel „Schweinestau“ in der Dissertation „Auswirkungen eines großflächigen und langandauernden Stromausfalls auf Nutztiere in Stallhaltungen„, die weiter unten vorgestellt wird. 
  3. Je vernetzter Gesellschaften werden, desto größer ist die „Ansteckungsgefahr“ („Domino- oder Schmetterlingseffekt“). Eine vernetzte Gesellschaft benötigt gut durchdachte Sicherungen, die in einer Krise die Verbindungen („Konnektivität“) des Netzes rasch verringern können, ohne die Gesellschaft vollständig zu vereinzeln und zu lähmen. Siehe hierzu das Energiezellensystem oder das Schottensystem in Schiffen, um einen Wassereintritt isolieren zu können. Also genau das Gegenteil von dem, was bei den Lockdowns gemacht wurde. Diese waren wiederum „notwendig“, weil man zu spät reagiert hat und dann die Entwicklungen bereits aus dem Ruder gelaufen sind. Früherkennung ist daher ein MUSS, um Schäden minimieren zu können. Hierzu auch eine Empfehlung für die ROMI-Methode® von Maximilian Mitera, die auf vielen unterschiedlichen Ebenen anwendbar ist.

Siehe etwa seine Analyse zur Pandemie:

Bei einer aggressiven Form der Pandemie wird als erstes die medizinische Versorgung massiv gefordert und wenn diese Versorgung zusammenbricht, kann dies dazu führen, dass auch die bisher bekannte Infrastruktur versagt.

Es ist sinnvoll, sich die historischen Parallelen anzusehen, weil die folgenden Faktoren für eine Sichtbarmachung einer herannahenden Bedrohung mitberücksichtigt werden sollten. Gleichzeitig sollten Hinweise der Gegenwart bewertet werden, d.h. wie sieht die aktuelle Entwicklung aus.

Der durch die Pandemie erzeugte Handlungsdruck macht die träge Reaktionsfähigkeit des Staatswesens sichtbar und wird dadurch zu einem Warnhinweis. Der Druck durch die digitale Kommunikation wirkt auf jeden, auch auf jeden Minister und jeden Staatschef. Mit einer endlosen Menge von Informationen und Anfragen kann somit ein ganzes System lahmgelegt werden. Aktuell dauern notwendige Entscheidungen eine Zeit, die in keiner Krise vorhanden ist. Umso notwendiger wird eine agile und schnelle Kommunikation ohne ewige juristische hierarchische Abstimmungsschleifen. Umso schwieriger erscheint es, wenn das Oben entscheidet, was unten gesagt wird. Eine solche Top-Down-Kommunikation wird dazu führen, Chancen und Entwicklungen zu ersticken.

Diese systemrelevaten Garanten sollten einem Sicherheitssystem folgen, was ich nochmals am Beispiel der Sicherung eines Schiffes darstellen möchte. Analog der Konstruktion eines Schiffes mit verschiedenen Kammern für den Fall eines Wassereinbruches, laufen moderne Schiffe nicht mit Wasser voll und sinken, sondern die Bereiche, welche mit Wasser volllaufen werden vom Rest des Schiffes getrennt — also unter Quarantäne gestellt.

Resiliente Gesellschaften haben eine intrinsische (= selbstverständlich vorhandene) Immunität gegenüber eine sich ungehemmt ausbreitende Störung des Zusammenhalts. Das muss wieder ins Bewusstsein von uns allen gerückt werden.