Quelle: nzz.ch – siehe auch die Buchauszüge aus Offline! Das unvermeidliche Ende des Internets und der Untergang der Informationsgesellschaft (2014)

«Sonst stürzt alles ein»: Weshalb der modernen Zivilisation der Kollaps droht

Die moderne Informationsgesellschaft ist von innen her bedroht, sagt der deutsche Kognitionsforscher Thomas Grüter. Wir sollten uns auf den Kollaps vorbereiten – um zu retten, was zu retten ist.

NZZ am Sonntag: Die Geschichte der Menschheit kennt rund 50 Hochkulturen oder Zivilisationen. Die meisten von ihnen sind auf dem Höhepunkt zerfallen. Kann uns das ebenfalls passieren?

Thomas Grüter: Sicher kann uns das passieren. In den anderen 50 Zivilisationen hat auch niemand auf dem Höhepunkt erwartet, dass binnen weniger Jahrzehnte ein beträchtlicher Teil ihrer Organisation und Infrastruktur zusammenbrechen würde.

Heute dominiert eine Kultur, welche die ganze Welt umspannt – die digitale Zivilisation. Was zeichnet diese aus?

Wir haben eine globale Arbeitsteilung aufgebaut, auf die wir nicht verzichten können. Wie wir zu Beginn der Pandemie gesehen haben, sind wir auf Produkte aus China angewiesen, die wir selber nicht so schnell herstellen könnten. Die Chinesen andererseits sind darauf angewiesen, dass sie Rohstoffe aus aller Welt bekommen. Das Internet funktioniert nur auf globaler Ebene. Mehrere Staaten haben versucht, ein abgeschottetes nationales Internet zu errichten. Aber das hat nie geklappt. Wir leben in einer Zivilisation, die kritisch davon abhängt, dass sie ständig weltumspannend funktioniert. Das hat es noch nie gegeben. Fast zu jedem Zeitpunkt bis etwa ins 18. Jahrhundert haben mehrere Hochkulturen gleichzeitig existiert.

Hat die moderne Informationsgesellschaft ihren Höhepunkt bereits überschritten?

Ich denke, sie bewegt sich in Richtung ihres Höhepunktes. Die digitale Entwicklung beschleunigt sich ständig. Die künstliche Intelligenz erobert immer mehr Alltagsbereiche. Schon heute ist unsere Zivilisation ohne digitale Technik kaum noch lebensfähig. Kann die Entwicklung in diesem Tempo weitergehen, oder muss sich das irgendwann überschlagen? Ob das noch 10 Jahre gutgeht, 50 Jahre oder vielleicht 100 Jahre – das kann keiner sagen. Aber irgendwann droht ein schwerer Rückschlag, vielleicht schon in nächster Zeit.

Was sind die Folgen dieser Abhängigkeit?

Wenn wir einen grösseren Stromausfall haben oder das Internet nur schon teilweise ausfällt, dann kommt unser Leben zum Stillstand. Kein Bezahlvorgang funktioniert mehr ohne unmittelbare digitale Rückkopplung. Auch die gesamte Lagerhaltung und die Bestellung in allen Supermarktketten arbeiten digital. All das lässt sich nicht so schnell auf die alten Verfahren zurückführen. Genauso wenig, wie man den Lastwagenverkehr wieder mit Pferdekarren abwickeln kann. Einen direkten Rückweg gibt es nicht. Wenn wir nicht alles wieder in Gang bekommen, müssten wir mit den immer schlimmer werdenden Folgen eines solchen Zusammenbruchs leben.

Höre hierzu auch den Podcast 045 –Mit »Reboot« oder Rebellion aus der Krise?

Sie schreiben in Ihrem Buch «Offline!», das komplexe Grundgerüst unserer Zivilisation drohe seine Stabilität zu verlieren. Woran erkennen Sie das?

In allen europäischen Staaten und in den USA bröckelt jede Form von Infrastruktur. Straßen, Brücken und öffentliche Gebäude brauchen dringend mehr Geld, als sie bekommen, um auf dem optimalen Stand zu bleiben. In Deutschland sind dreitausend Autobahnbrücken dringend renovierungsbedürftig. Ähnliches gilt für die elektrische Infrastruktur, die Wasserversorgung und die Kanalisation.

Wo liegen die Schwachstellen der digitalen globalen Gesellschaft?

Die digitale Infrastruktur ist gerade erst aufgebaut worden, deswegen steht sie noch nicht zur Erhaltung an. Das kann sich aber bald ändern. Zum Beispiel weiss keiner, wie lange Glasfaserleitungen halten. Die Hersteller versprechen 40 Jahre, dann müsste spätestens ab 2040 ein Grossteil ersetzt werden. 40 Jahre sind aber optimistisch, denn die Glasfaserkabel befinden sich im Boden und sind Hitze, Kälte und mechanischem Zug ausgesetzt. Vielleicht müssen die Kabel deshalb schon ab 2030 in grösserem Massstab ersetzt werden. In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es rund eine Million Kilometer Glasfaserkabel. Jedes Jahr nur drei Prozent zu ersetzen, bedeutet 30 000 Kilometer neue Kabel.

Wie steht es um Dinge wie die Speicherung des Wissens oder Engpässe des Internets?

Man denkt immer, das Internet vergisst nichts. Es scheint aber so zu sein, dass das Internet nur die unangenehmen Dinge nicht vergisst. Tatsächlich gehen ständig Inhalte verloren, dafür reicht ein Wassereinbruch oder eine Fehlfunktion in einem Datenzentrum. Könnte die Infrastruktur über längere Zeit nicht ersetzt werden, hätten wir ein wirklich grosses Problem. Man kann die digitale Zivilisation nicht unterbrechen. Nicht für ein Jahr, nicht für zwei Jahre, nicht für fünf Jahre. Digitale Komponenten sind sehr kurzlebig. Die wirtschaftliche Nutzungsdauer eines Smartphones liegt bei ungefähr zwei Jahren und die Lebensdauer bei vier oder fünf Jahren. Wenn das System zwei Jahre lang nicht mehr unterhalten werden könnte, käme es zu unwiderruflichen Schäden. Grob gerechnet, wäre die Hälfte der Geräte nicht mehr funktionsfähig. Und damit wäre das Rückgrat der digitalen Gesellschaft nicht mehr stabil.

Welche Bruchstelle erachten Sie als besonders gefährlich?

Ich denke da zum Beispiel an die Konzentration der Hardware-Herstellung für die höchst integrierten Schaltkreise, die nun einfach jeder braucht. Die meisten Fabriken befinden sich in Südkorea und in Taiwan. Das sind beides Gegenden, die kriegsgefährdet sind. Die Chinesen könnten auf die Idee kommen, Taiwan zu erobern. Damit haben sie mehrfach gedroht. Gleichzeitig könnten die Nordkoreaner im Windschatten eines solchen Krieges in Südkorea einmarschieren. Dann würden fast alle Produktionsstätten für Chips für Jahre ausfallen.

Sind sich die Menschen solcher Gefahren überhaupt bewusst?

Diesen Eindruck habe ich nicht. Ich bin mehrfach zu Vorträgen in jener Branche eingeladen worden, die sich um die Sicherheit von kritischen Infrastrukturen kümmert. Alle Leute, mit denen ich da gesprochen habe, haben mir erklärt, ihre Arbeit habe nicht den Stellenwert, den sie brauchte. Die meisten Menschen haben wohl das Gefühl, es gehe immer so weiter und es könnte sich kaum etwas ändern. Jedenfalls nicht schnell und schon gar nicht katastrophal. In der Psychologie ist dieses Phänomen als «normalcy bias» bekannt.

Und warum handeln wir nicht? Weshalb laden die Leute alle ihre Fotos in die Cloud, von der man nicht weiss, ob sich wirklich sicher ist?

Welche Alternative haben sie? Sie können ihre Daten auf einem USB-Stick oder einer externen Festplatte speichern. Aber ein USB-Stick kann verloren gehen, eine externe Festplatte kann herunterfallen. Und da sagen sich die Leute: Auf Daten, die ich auf einem Datenträger aufbewahre, muss ich selbst aufpassen. Bei Daten, die in der Cloud sind, darf ich nur das Passwort nicht vergessen, um die Daten kümmert sich jemand anders. Zudem werden selbst aufbewahrte digitale Daten unbrauchbar, wenn Sie eines Tages kein passendes Abspielgerät mehr haben.

Da lobt man sich das gute alte Buch.

Ja, Informationen in einem gedruckten Buch können Sie, wenn das Buch einigermassen vernünftig hergestellt wurde, auch nach 500 Jahren noch lesen. Daten, die auf einem Stick oder auf Datenbändern gespeichert sind, muss man erst einmal auslesen können, und dann muss man auch noch wissen, wie die Daten codiert sind.

Sie haben einmal gesagt: «Wer die Gefahr nur im Klimawandel sieht, denkt in einem zu engen Rahmen.» Ist der Klimawandel gar nicht so schlimm?

Der Klimawandel ist schlimm, und wir müssen uns gut darauf vorbereiten, ganz klar. Andere Dinge sind aber ebenso bedrohlich, und wenn wir sie aus den Augen verlieren, dann werden wir hinterrücks von ihnen erwischt. Man sollte zum Beispiel nicht vergessen, dass immer noch rund 12 000 zündfähige Atomsprengköpfe existieren.

Die eine sehr reale Gefahr darstellen.

Sie und ich kennen noch die Zeit, in der es hiess, man müsse jederzeit damit rechnen, dass die Welt bei einem grossen Atomkrieg untergehe. Das hat heute keiner mehr im Blick. Was auch kaum erwähnt wird: Die Versalzung und Degradation der Böden nimmt ständig zu. Und wir müssen uns darauf einstellen, dass ein merklicher Rohstoffmangel auftritt. Silber zum Beispiel ist ein wichtiger Industrierohstoff, der aber schon in 20 Jahren knapp werden könnte.

Und doch hat der Mensch stets den Kopf aus der Schlinge gezogen, wenn es eng wurde.

Das kann man eigentlich nicht so sehen. Wenn Zivilisationen untergegangen sind, haben die Menschen es zwar überlebt, aber die Strukturen, die sie aufgebaut haben, sind zerfallen. Jetzt haben wir aber dummerweise nur noch eine einzige, weltweite Zivilisation, und das macht das Risiko ein ganzes Stück grösser. Wir haben – wie die Engländer so schön sagen – alle Eier in einem Korb liegen.

Können neue Technologien den Kollaps unserer Zivilisation verhindern?

Das wäre zu schön. Elon Musk will ja auf dem Mars Städte bauen, falls die Zivilisation auf der Erde kollabiert. Die Idee ist zwar nicht schlecht, aber ich glaube nicht, dass er das schafft.

Die Corona-Krise stellt die erste globale Krise der globalen Gesellschaft dar. Wie ist die Welt damit umgegangen?

Bisher sind wir einigermassen gut durchgekommen. Das Virus ist sehr ansteckend, aber nicht annähernd so gefährlich wie die Pest-Epidemien des Mittelalters, bei denen bis zu einem Drittel der Menschen umgekommen ist. Diese Pandemie ist eigentlich eher eine Warnung, dass es deutlich schlimmer kommen könnte. Wir sollten uns vor allen Dingen darüber im Klaren sein, dass selbst unsere schnelle Kommunikation uns nicht vor der weltweiten Ausbreitung des Virus geschützt hat.

«Je höher Sie einen Turm bauen, desto stärker müssen Sie das Fundament machen. Das ist eines der ganz grossen Probleme, die jede Zivilisation früher oder später hat.»

Kracht jede Zivilisation einmal zusammen?

Je höher Sie einen Turm bauen, desto stärker müssen Sie das Fundament machen. Das ist eines der ganz grossen Probleme, die jede Zivilisation früher oder später hat. Man muss immer mehr Mittel in Form von Geld oder Arbeit in die Erhaltung stecken. Und es sieht so aus, als hätten alle Länder in Europa und die USA bereits jetzt Schwierigkeiten, ihre Infrastruktur überhaupt nur auf dem heutigen Stand zu halten, von einem Ausbau ganz zu schweigen.

Das spräche dafür, dass unsere Zivilisation ihren Höhepunkt vielleicht doch schon sehr bald erreicht haben wird.

Das könnte sein. Der genaue Zeitpunkt hängt auch davon ab, ob grössere Katastrophen eintreten. Wichtig ist, dass wir mit möglichst vielen Eventualitäten rechnen und uns darauf vorbereiten. Sonst stürzt tatsächlich einmal alles ein.

Wie könnte die Zivilisation aussehen, die nach uns kommt?

Wir haben jetzt einen weltweiten Austausch von Menschen und die weltweite Kommunikation als Grundlage unserer Zivilisation. Da stellt sich schon die Frage: Kann so etwas jemals wieder aufgebaut werden? Wasserversorgung und Kanalisation waren in den Städten des Römischen Reichs im dritten Jahrhundert selbstverständlich. In Europa wurde dieser Standard erst im 19. Jahrhundert wieder erreicht. Ein römischer Philosoph hätte zu seiner Zeit kaum die Entstehung der Naturwissenschaften und das Gedankengebäude der Aufklärung als Basis der nächsten Zivilisation vorhersehen können.

Dafür sagte der römische Philosoph Seneca vor 2000 Jahren etwas anderes: «Nichts von dem, was heute existiert, ist nicht das Ergebnis eines früheren Kollapses.» Gehört der Kollaps zum Leben?

Ich gebe Seneca absolut recht. Wir sollten aber auch daran denken, dass Seneca Stoiker war. Die Stoa ging davon aus, dass die Welt in regelmässigen Abständen im Feuer endet und daraus neugeboren wird. Auch komplexe biologische Systeme, sei es nun ein Baum oder ein Mensch, brechen irgendwann zusammen. Anders ausgedrückt: Jeder stirbt, die Art aber bleibt erhalten und entwickelt sich weiter.

Kann der Kollaps einer Zivilisation auch eine reinigende Wirkung haben – gleichermassen die Wende zum Besseren darstellen?

Nein, das setzt eine moralische Komponente voraus, die aber beim Zusammenbruch einer Zivilisation keine Rolle spielt. Solche Interpretationen werden oft nachgeschoben. Ein Beispiel dafür ist die Vorstellung, wonach das Römische Reich wegen seiner Dekadenz und Überheblichkeit untergegangen ist. Unter Historikern ist diese These heute höchst umstritten.

Was können wir lernen aus dem Zerfall früherer Zivilisationen wie dem Niedergang des Römischen Reiches oder dem Verschwinden der Zivilisation der Maya in Mittelamerika?

Wir sollten häufiger Gebrauch machen von der Möglichkeit, gesellschaftliche oder technische Entwicklungen zu simulieren. Damit könnten wir uns mehr Vorwarnzeit verschaffen. Wir haben bei der Pandemie gesehen, wie schnell eine Ausnahmesituation entstehen kann. Und wir sollten alles daransetzen, unsere Infrastruktur zu erhalten und zu stärken. Sie leidet sowohl durch Verschleiss wie auch durch Katastrophen und mutwillige Beschädigung. Allein durch Cyberangriffe gingen in Deutschland 2020 mehr als 220 Milliarden Euro verloren. Aber machen wir uns nichts vor: je komplexer die Strukturen, desto schwieriger wird ihr Erhalt.

Thomas Grüter: Der Kollaps der globalen digitalen Zivilisation. Springer Nature, Berlin 2021.


Das Ende unserer Zukunft – die Schwachstellen der digitalen Gesellschaft

Die Wirtschaft brummt wieder. Und doch sind die Verwerfungen infolge der Corona-Krise in unserer digitalisierten Zivilisation nicht zu übersehen. Als letzter der grossen Automobilhersteller hat diese Woche Toyota angekündigt, wegen des weltweiten Mangels an Chips seine Produktion ab September um 40 Prozent zurückzufahren. Dieser Engpass hat auch damit zu tun, dass die hochintegrierten Schaltungen fast ausschliesslich in wenigen Fabriken in Südkorea und Taiwan produziert werden.

Am Beispiel dieser Computerchips wird auf einen Schlag deutlich, wie verletzlich die global vernetzte und zunehmend digitalisierte Gesellschaft inzwischen geworden ist. «Jede Unterbrechung der Herstellung und Verteilung für mehr als zwei Jahre könnte zu einer unkontrollierbaren Rezession führen, die das digitale Zeitalter beendet», schreibt der deutsche Kognitionsforscher und Wissenschaftsautor Thomas Grüter in der zweiten und umfassend aktualisierten Ausgabe seines Buchs «Offline! Der Kollaps der globalen digitalen Zivilisation».

Sachlich fundiert und umfassend recherchiert zeigt Grüter auf, wo die Bruchstellen in einer digitalen Gesellschaft liegen, die sich immer schneller, aber auch immer unberechenbarer entwickelt. Jede Hochkultur ist früher oder später untergegangen, oft auf ihrem Höhepunkt und in kürzester Zeit. Grüter argumentiert, warum dieses Schicksal auch uns Heutigen blühen könnte, wenn wir unseren Blick nicht für jene Dinge schärfen, die nicht gut laufen.

Ausser in der Konzentration der Produktionsstätten von Chips sieht Grüter, der sich seit vielen Jahren mit dem Thema befasst, ein «hohes Risiko» im Umstand, dass kritisches Wissen zunehmend ausschliesslich digital gespeichert wird. Wie schnell dabei ein unwiderruflicher Verlust von Daten droht, belegen die täglichen Cyberangriffe auf Regierungen, Unternehmen und sogar Spitäler. Und auch wenn man das nicht denken würde: Das Internet hat Engpässe, die den Datenverkehr empfindlich stören können – dazu gehören zum Beispiel die Unterseekabel und die nationalen Knoten.

Eine Alternative dazu besteht im weiteren Ausbau des Satelliten-Internets, wie er von Firmen wie SpaceX oder One Web bereits intensiv betrieben wird. Doch auch das birgt laut Grüter bisher unterschätzte Risiken: «Kommunikations- und Navigationssatelliten könnten durch eine Kettenreaktion zerstört werden. Die entstehende Trümmerwolke verhindert für einige Jahre, dass neue Satelliten gestartet werden können.»

Die jetzt heranwachsende Generation solle sich unbedingt um das Klima, aber eben auch um die Bewahrung der digitalen globalen Gesellschaft sorgen, sagt Grüter. Der Gründer und ehemalige Geschäftsführer eines Softwareunternehmens weiss, von er spricht. «Das Leben geht weiter», sagt er. «Aber für viele Menschen wäre das Ende der gegenwärtigen Zivilisation zugleich das Ende ihrer Zukunftshoffnungen.» (pim.)