Quelle: hans-albert-institut.de

Wie ist rationales Handeln in der Corona-Krise möglich? Die Philosophen Nikil Mukerji (HAI-Beirat) und Adriano Mannino schreiben im neuen SPIEGEL-Bestseller über „Philosophie in Echtzeit“ und „Katastrophenethik“. Im Interview erklärt Mannino, was es damit auf sich hat.

In eurem Buch ist von einer „Philosophie in Echtzeit“ die Rede. Was meint ihr damit und warum ist sie gerade in der Corona-Krise notwendig?

Angesichts der Dringlichkeit der Probleme stehen wir gegenwärtig unter Entscheidungszwang und können uns nicht den Luxus leisten, so lange zu warten, bis gesichertes Wissen vorliegt. Wir müssen Daten und Argumente unter Deadlinedruck verarbeiten, weil Handlungsentscheidungen notgedrungen vor einem bestimmten Zeitpunkt getroffen werden müssen. Es besteht daher ein Vorrang der Praxis. Dabei müssen wir auch dann mit den besten verfügbaren Informationen arbeiten, wenn sie weniger verlässlich sind, als wir dies unter normalen Umständen akzeptieren würden. Die Forschungslage ändert sich in rasantem Tempo, was eine Anpassung unseres Denkens und Handelns erfordert. „Philosophie in Echtzeit“ ist bestrebt, diesem dynamischen Prozess und den bevorstehenden Deadlines gerecht zu werden. Im letzten Kapitel des Buches stellen wir „zehn Gebote“ für das Philosophieren in Echtzeit zusammen.

Philosophisches Arbeiten benötigt normalerweise Zeit zum Nachdenken. Steht eine Philosophie in Echtzeit nicht in Gefahr, nachlässig zu sein und wichtige Aspekte auszublenden?

In der Tat sollte Philosophie in Echtzeit möglichst vermieden werden – das ist eines der zehn Gebote. Es ist sehr viel besser, auf Vorrat zu denken und nicht zu warten, bis ein Katastrophenrisiko zugeschlagen hat. Das Denken auf Vorrat ist sozusagen ein philosophischer Hamsterkauf, mit dem man sich für schlechte Zeiten absichert. Wenn man das Denken auf Vorrat aber versäumt hat, muss man Probleme zwangsläufig hart priorisieren und büßt an Freiheit ein, die eigenen Forschungsfragen nach Lust und Laune zu wählen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer „kognitiven Triage“, in Anlehnung an die Triage in der Notfallmedizin. Wir müssen uns fragen, welche offenen Fragen besonders drängend sind und welche warten müssen.

Eine wichtige Eigenschaft guter Philosophie in Echtzeit, so schreibt ihr im Buch, sei die „kognitive Arbeitsteilung“. Niemand kann sich in der gebotenen Eile allen Problemen widmen. Das heißt natürlich, dass wir bestimmten Expertinnen und Experten bis zu einem gewissen Grad vertrauen müssen. Nun vertreten aber nicht alle Expertinnen und Experten dieselben Ansichten, sondern widersprechen sich in vielen Punkten. Wie können wir beurteilen, wem von ihnen zu vertrauen ist?

In der Regel ist es zunächst einmal sinnvoll, der Mehrheit der Expertengemeinschaft zu folgen, da sie statistisch zuverlässiger urteilt. Unser Vertrauen in die Mehrheitsmeinung der Experten sollte aber nicht absolut sein, sondern ein Wahrscheinlichkeitsurteil darstellen. Schließlich macht es einen Unterschied, ob nahezu alle Experten eine Ansicht vertreten oder bloß eine geringe Mehrheit. Damit ist aber die Frage noch nicht geklärt, auf wessen Meinung wir uns in unserem Handeln stützen sollten. Hier kommen die Entscheidungstheorie und die Risikoethik ins Spiel. Wir müssen uns nämlich fragen, wie schlimm es wäre, wenn sich eine Expertengruppe irren sollte, und ob wir ein solches Szenario verantworten können. Bei umstrittenen Themen kann es daher durchaus vernünftig sein, der Mehrheit von Experten Glauben zu schenken, zugleich aber auf Nummer sicher zu gehen und im praktischen Handeln einer Minderheit pessimistischer Experten zu folgen. „Pessimistisch“ bedeutet hier, dass die entsprechenden Experten ein Katastrophenszenario vorhersagen, wenn wir nicht handeln. Wir zeigen im Buch auf, dass der Shutdown wahrscheinlich vermeidbar gewesen wäre, wenn wir uns an diesem Prinzip – „Folge der Expertenminderheit, wenn sie pessimistisch ist“ – orientiert hätten.

Um rational und verantwortungsvoll entscheiden zu können, müssen wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen kennen. Ist dies in der Krise überhaupt möglich, wenn sich die Forschungslage ständig ändert und die Konsequenzen unserer Handlungen ungewiss sind?

Das ist tatsächlich ein schwerwiegendes Problem. Wenn die Ungewissheit umfassend ist, kann man sich oft nur an Heuristiken orientieren. In vielen Fällen ist aber dennoch erkennbar, welche Optionen vorzuziehen sind, weil Risiken ungleich verteilt sind. Entscheidend ist insbesondere, worauf wir wetten würden, wenn katastrophale Worst-Case-Szenarien nicht ausgeschlossen werden können.

Das wird beispielsweise deutlich, wenn wir auf den Anfang der Pandemie zurückblicken: Nachdem die chinesische Provinz Hubei militärisch abgeriegelt worden war, hätte klar sein müssen, dass die Gefahrenlage auch für uns wahrscheinlich sehr real ist. Man musste zu allem Übel auch mit der Möglichkeit rechnen, dass die chinesische Staatspropaganda die Opferzahlen massiv schönt. Die tragische Fallstudie Norditaliens, die Europa am Ende wachgerüttelt hat, wäre nicht notwendig gewesen – China hätte genügen müssen. Man wusste, dass die Welt so globalisiert und vernetzt ist wie niemals zuvor, und dass ein Virus binnen weniger Stunden um die ganze Welt reisen kann. Man hätte daher zumindest den Flugverkehr aus China stoppen und den Maskenvorrat sofort überprüfen sollen. Gesundheitsminister Spahn meinte, es sei nicht absehbar gewesen, dass die Masken als Centprodukt „plötzlich so teuer“ werden könnten. Was glaubte man denn, würde während einer Pandemie am Maskenmarkt geschehen? Schon vor Jahren wäre es auch sinnvoll gewesen, Tracing-Apps zu entwickeln und Strategien zum Hochfahren der Testkapazitäten festzulegen. Während in westlichen Ländern weiter verharmlost wurde, hatte man beispielsweise in Südkorea und Taiwan dieses effektive und vergleichsweise günstige Maßnahmenpaket längst umgesetzt. Anders als hier war in Südkorea und Taiwan deswegen bis heute kein Shutdown notwendig. Seit Beginn der Pandemie gab es in Südkorea weniger als 12.000 bestätigte Corona-Fälle, in Taiwan sind es keine 500.

Bezeichnend ist natürlich auch, dass die Abteilung für Gesundheitssicherheit im Gesundheitsministerium gerade erst ad hoc geschaffen wurde. Eine solche Abteilung würde man sich seit Jahrzehnten an der Arbeit wünschen. Das wirft die unangenehme Frage auf: In wie vielen anderen Bereichen fehlen Sicherheitsabteilungen?

Im Rückblick weiß man natürlich vieles besser…

Viele wussten es auch vorausblickend durchaus besser. Dazu gehören etwa Bill Gates, Nassim Taleb oder die ganze ostasiatische epidemiologische Expertencommunity, der wir hätten folgen sollen.

Doch dürfen wir solch drastische Maßnahmen wie einen Shutdown veranlassen, wenn wir ihre Notwendigkeit nicht mit Gewissheit begründen können? Immerhin sind enorme Kosten und auch Existenzen damit verbunden.

Die Maßnahmen ergreifen wir nicht deshalb, weil wir uns sicher sind, sondern gerade weil wir Entscheidungen unter Ungewissheit fällen müssen. Wir sehen, dass wir unterschiedliche Handlungsoptionen haben, die mehr oder weniger riskant sind. Da Vorsicht besser ist als Nachsicht, versuchen wir die Risiken möglichst zu minimieren. Unverantwortlich wäre es dagegen, mit dem Feuer zu spielen und den Tod hunderttausender Menschen in Kauf zu nehmen, der bei einer Durchseuchung der Gesellschaft resultieren könnte. Selbst wenn sich im Rückblick herausstellen würde, dass diese Pandemie nicht so gefährlich war, wären die Präventionsmaßnahmen und ein frühzeitiger Shutdown also gerechtfertigt gewesen.

Der Shutdown war insbesondere auch deshalb die einzig richtige Wahl, weil nur er eine reversible Strategie darstellt. Wenn man die Verbreitung des Virus nicht hinreichend schnell bremst, läuft man Gefahr, sich unumkehrbar auf eine Durchseuchung festzulegen. Ein Shutdown kann gelockert und aufgehoben werden, eine exponentielle Durchseuchung nicht. Risikoethisch ist der Shutdown als reversible Strategie daher überlegen. Nur reversible Strategien ermöglichen es, begangene Fehler zu korrigieren und unser Handeln an den neuen Kenntnisstand anzupassen. Eine solche kritisch-rationale Haltung, welche die prinzipielle Fehlbarkeit unserer Entscheidungen berücksichtigt, hätte von Seiten der wissenschaftlichen Experten und der Politik auch viel klarer kommuniziert werden müssen. Damit hätte man auch jenem Nährboden Wasser abgegraben, auf dem derzeit Corona-Verharmlosungen und Verschwörungstheorien gedeihen.

Wegen der Pandemie wird mit einer tiefen und langanhaltenden Rezession der Weltwirtschaft gerechnet. Auch dadurch stehen hunderttausende Menschenleben auf dem Spiel. Müsste eine umsichtige Risikoethik nicht auch ein ökonomisches Worst-Case-Szenario in den Blick nehmen und in politische Entscheidungen einbeziehen?

Doch, absolut. Wir argumentieren im Buch vor allem für die folgende These: Hätten wir das pandemische Katastrophenrisiko ernst genommen und wären wir vorbereitet gewesen, hätten Staaten sowohl die Überlastung der Intensivstationen als auch den Shutdown – und damit das ökonomische Katastrophenrisiko – vermeiden können. Länder wie Südkorea, Taiwan oder Japan beweisen, dass das in der Tat möglich war.  Wir hätten vor der Katastrophe tätig werden müssen. Denn wenn eine Katastrophe eintritt, hat man oft nur noch schlechte Optionen, die allesamt mit erheblichen Risiken behaftet sind.
 
Wie kann es zu solchen Fehleinschätzungen kommen?
 
Nicht zuletzt fehlt es insbesondere den westlichen Gesellschaften an relevantem Erfahrungswissen und an der Bereitschaft, von anderen Gesellschaften zu lernen. Gefährliche Epidemien waren bis vor Kurzem schlicht nicht Teil unserer Lebenswelt. Daher wähnt man sich in einer Sicherheit, die nicht gegeben ist. Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts, sagte Ende März an einer Pressekonferenz: „Wir alle sind in einer Krise, die ein Ausmaß hat, das ich mir selber nie hätte vorstellen können.“ So erging es wohl vielen. Vermutlich spielt diesbezüglich auch eine gewisse kulturelle Überheblichkeit eine Rolle. Nach dem Motto: “Was kann uns im sichersten und wirtschaftsstärksten Land Europas schon passieren?” Selbst als in Italien der Katastrophenfall eintrat, wollte man den Ernst der Lage in Deutschland und in der Schweiz zunächst nicht wahrhaben. Es dauerte mehrere Tage, bis die erschütternden Triage-Berichte italienischer Intensivmediziner in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Italienische Führungskräfte und Journalisten, zu denen ich als halber Italiener guten Zugang habe, hatten tagelang verzweifelt und vergeblich versucht, die deutsche Öffentlichkeit wachzurütteln. Ich bin immer noch schockiert, wie schlecht die Kommunikation zwischen den europäischen Öffentlichkeiten funktioniert hat. In einem geeinten Europa muss man sich in Echtzeit zuhören und antworten können.

Angenommen es stellt sich rückblickend heraus, dass die Corona-Pandemie unerwartet glimpflich verlaufen ist. Würde dies nicht das Vertrauen in öffentliche Institutionen erschüttern, was risikoethisch ebenso berücksichtigt werden müsste?

Ja, es könnte durchaus sein, dass Teile der Gesellschaft dann Vorwürfe erheben. Das ist das „Paradoxon der Prävention“: Man sieht nicht die Schäden, die wegen erfolgreicher Maßnahmen ausgeblieben sind. Zu welchen Kurzschlüssen das führen kann, erleben wir schon jetzt bei den sogenannten „Corona-Rebellen“, die jede noch so vernünftige Regel als Bevormundung und unbegründete Panikmache abtun. Dabei sollten sie eigentlich glücklich sein, in einem Gemeinwesen leben zu dürfen, das den Schutz seiner Mitglieder oben anstellt und nicht fahrlässig Menschenleben gefährdet.

Klar ist auch: Bei einem, sagen wir, zehnprozentigen Risiko für einen Katastrophenfall wären Präventionsmaßnahmen statistisch in neun von zehn Fällen „umsonst“ gewesen. Das heißt aber keineswegs, dass wir sie nicht hätten ergreifen sollen. Denn wer möchte ernsthaft in einer Gesellschaft leben, in der kollektiv russisches Roulette gespielt wird? Entlang dieser Linien müsste erklärt werden, dass es keinen Grund gibt, den öffentlichen Institutionen oder der Wissenschaft das Vertrauen zu entziehen, selbst wenn sich Präventionsmaßnahmen im konkreten Fall als unnötig erweisen. Im Fall von Covid-19 legen die aktuellen Daten aber nahe, dass die Präventionsmaßnahmen wichtig waren und noch bedeutend früher hätten ergriffen werden sollen.

Kommentar

Viele dieser Aussagen können auch 1:1 für das Thema Blackout herangezogen werden.