Letzte Aktualisierung am 16. Juli 2025.
Ein sehr spannendes und empfehlenswertes Gespräch.
Kann man ein Stromnetz vollständig mit erneuerbaren Energien betreiben?
„Ja“, sagt Anders Lindberg, Präsident für Energie und Executive Vice President bei Wärtsilä, in der Folge von „Cleaning Up“ dieser Woche. Bis 2050 wird das nur 65 Billionen Euro zusätzlich kosten.
Das Team von Anders Lindberg bei Wärtsilä hat kürzlich seinen Bericht „Crossroads to Net Zero“ veröffentlicht, in dem argumentiert wird, dass die Beibehaltung einer gewissen Flexibilität bei der Stromerzeugung im Netz enorme Kosten einsparen wird, während die Welt sich um die Netto-Null bemüht, und gleichzeitig den Übergang zu erneuerbaren Energien beschleunigen wird. Im Mittelpunkt der Argumentation steht die Frage, was mit den letzten wenigen Prozent der Stromversorgung geschehen soll und welche Formen der Stromerzeugung aufgebaut werden müssen, um eine konstante Stromversorgung zu gewährleisten und Stromausfälle oder Spannungsabfälle zu verhindern.
Es überrascht vielleicht nicht, dass der Bericht von Wärtsilä, einem Hersteller von Gasmotoren, dafür plädiert, dass Gas die letzten wenigen Prozentpunkte der Stromerzeugung liefern sollte. Michael Liebreich stellt diese Behauptung auf den Prüfstand. Siehe auch den eigenen Beitrag Gasmotoren als Schlüssel für eine dezentrale Energiezukunft, der in der gleichen Zeit, aber unabhängig davon entstanden ist. Es geht vor allem darum, dass die derzeit forcierten Einhundertprozentziele in unseren Breiten weder technisch noch finanziell erreichbar sind. Wie so oft geht es daher nicht um ein Entweder-oder, sondern um eine Sowohl-als-auch!
Zusammenfassung
Ein Stromnetz vollständig mit Erneuerbaren betreiben: Pragmatismus und Systemdenken sind der Schlüssel
Das Gespräch beleuchtet die Möglichkeiten und Herausforderungen, ein Stromnetz vollständig oder überwiegend mit erneuerbaren Energien zu betreiben. Es wird deutlich, dass dies prinzipiell möglich ist, aber einen klaren Plan und ein systemisches Denken erfordert.
Warum ein rein erneuerbares Netz möglich ist – aber mit flexibler Unterstützung:
- Kommerzieller Durchbruch der Erneuerbaren: Solarenergie und Windkraft haben einen erheblichen kommerziellen Durchbruch erlebt und werden jährlich in steigendem Maße implementiert.
- Die Notwendigkeit von Flexibilität: Um die Intermittenz von Solar- und Windenergie zu handhaben, ist Flexibilität im System entscheidend. Selbst bei viel Wind- und Solarenergie benötigt man Speicherkapazitäten und vor allem flexible Kraftwerke, um Zeiten ohne Wind oder Sonne, besonders im Winter, zu überbrücken.
- Wirtschaftlichkeit und CO₂-Einsparung durch flexible Motorenkraftwerke: Eine Studie zeigt, dass der Verzicht auf starre Annahmen und die Integration flexibler Motorenkraftwerke (zusätzlich zu erneuerbaren Energien und Speichern) zu massiven Kosteneinsparungen von 65 Billionen Euro weltweit führen kann, verglichen mit einem reinen Erneuerbaren- und Speicher-Szenario. Gleichzeitig werden die CO₂-Emissionen um 21 % gesenkt, da die Implementierung von Erneuerbaren viel schneller voranschreiten kann.
- Die „letzten Prozent“ der Dekarbonisierung: Es wird argumentiert, dass die vollständige Umstellung auf 100 % erneuerbare Energien für die „letzten paar Prozent“ extrem teuer wird (Pareto-Prinzip). Ein pragmatischer Ansatz, der einen geringen Anteil flexibler Gaskraftwerke (z.B. 4 % in Chile bis 2035 statt 25 % Kohle, oder global eher 10 %) vorsieht, ist wesentlich kosteneffizienter und resilienter. Diese flexiblen Motorenkraftwerke können auch mit Biokraftstoffen, Wasserstoffmischungen (heute bis 25 %) oder zukünftig mit 100 % Wasserstoff oder Ammoniak betrieben werden, um die CO₂-Neutralität zu erreichen.
- Vorteile flexibler Motoren gegenüber Turbinen: Flexible Motoren sind effizienter, bieten bessere Flexibilität beim Hoch- und Herunterfahren, haben kürzere Mindestlauf- und -stillstandszeiten und funktionieren besser in einem breiten Temperaturbereich (z.B. von -45 bis +45 Grad Celsius). Sie können auch häufiges Starten und Stoppen ohne erhöhte Wartungskosten bewältigen und optimal im „Sweet Spot“ betrieben werden.
Wichtige systemische Voraussetzungen für ein resilientes Netz:
Um ein Stromnetz mit hohem Anteil erneuerbarer Energien sicher und stabil zu betreiben, sind folgende systemische Voraussetzungen und Planungen unerlässlich:
- Langfristige Planung und Systemdenken: Die Umstellung auf ein dekarbonisiertes Netz erfordert eine langfristige Planung über viele Jahre. Energie muss als ein Gesamtsystem betrachtet werden, um Widerstandsfähigkeit zu gewährleisten.
- Trägheit (Inertia) und Kurzschlussstrom: Mit dem Ausstieg aus traditionellen Kraftwerken (die viel inhärente Trägheit und Kurzschlussstrom liefern) muss geplant werden, wie diese Systembedürfnisse weiterhin gedeckt werden.
- Synchrone Kondensatoren: Dies sind elektrische Maschinen, die Trägheit und Kurzschlussstrom liefern, die bei einem Fehler im System benötigt werden, um die Schutzsysteme auszulösen und den Fehler zu beheben. Wärtsilä-Motorenkraftwerke können diese Funktion durch einen Kupplungsmechanismus zwischen Motor und Generator bieten, sodass der Generator als synchroner Kondensator weiterlaufen kann, auch wenn der Motor nicht zur Stromerzeugung genutzt wird.
- Motorenkraftwerke haben diese Schwarzstartfähigkeit integriert, d.h. sie können „aus dem Nichts“ starten und beim Wiederaufbau des Netzes helfen.
- Die meisten Stromrichter (Power Converter) von Wind- oder Solaranlagen verfügen derzeit nicht über diese netzbildende Fähigkeit; sie sind eher „Grid-Following“ als „Grid-Forming“.
- Batteriespeicher mit netzbildender Funktion können hier eine wichtige Rolle spielen, um das System beim Neustart zu unterstützen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine dekarbonisierte Wirtschaft machbar und bezahlbar ist und dabei die Resilienz des Systems erhalten bleibt, aber nur, wenn Energie als ein umfassendes System betrachtet wird und pragmatisch flexible Lösungen in die Planung einbezogen werden.