Quelle: www.dw.com

Sind 100 Prozent erneuerbare Energie möglich?
Kern- und Kohlekraftwerke erzeugen nicht nur wetterunabhängig Strom. Sie sind auch die Garanten einer konstanten Netzfrequenz. Nun müssen Erneuerbare lernen, ohne Konventionelle auszukommen. Bisher können sie das nicht.

Im Laufe dieses Sommers soll im Kohlekraftwerk Moneypoint, an der Südwestküste Irlands, ein neuer Wechselstromgenerator ans Netz gehen. Eine kohlebefeuerte Dampfturbine wird allerdings nicht angeschlossen und auch sonst kein Aggregat, mit dessen Hilfe Strom erzeugt werden könnte. Stattdessen liegt auf der Welle ein 120 Tonnen schweres Schwungrad von etwa vier Metern Länge und einem Durchmesser von zwei Metern, das mit Strom aus dem Netz in Rotation versetzt werden muss.

Die einzige Aufgabe der Anlage ist es, „rotierende Masse“ vorzuhalten und bei Bedarf sogenannte Momentanreserve bereitzustellen – also Leistung, die Frequenzschwankungen im Netz unmittelbar entgegenwirkt. Stromnetzesind nämlich nur stabil, wenn Einspeisung und Verbrauch sich die Waage halten. Ein Ungleichgewicht verändert die Frequenz, im Extremfall führt das zum Stromausfall.

Jahrzehntelang hat sich niemand Gedanken um Momentanreserve gemacht. Denn konventionelle Kraftwerke, mit all der rotierenden Masse in ihren Turbinensträngen, lieferten sie praktisch kostenlos im Überfluss mit. Doch nun, da diese Kraftwerke fast überall in Europa – und einigen anderen Teilen der Welt – reihenweise stillgelegt werden, rückt die Momentanreserve immer stärker in den Fokus der Netzbetreiber. Denn es droht ein kritischer Engpass.

„Insbesondere Länder mit kleineren isolierten Stromnetzen und einem hohen Anteil erneuerbarer Erzeugung – zum Beispiel Irland und Großbritannien – sind davon bereits heute betroffen und steuern massiv dagegen, indem sie Schwungräder installieren“, sagt Stephan Werkmeister von Siemens Energy. Das deutsche Unternehmen hat bereits Schwungräder nach Großbritannien, Australien, Italien und – das größte im Siemens-Angebot – nach Moneypoint in Irland geliefert. „Im großen Europäischen Verbundnetz sind die Kompensationsmöglichkeiten größer.“

Im „Netzentwicklungsplan Strom“ von 2021, einem Plan, den die vier Übertragungsnetzbetreiber in Deutschland unter Aufsicht der Bundesnetzagentur (BNetzA) alle zwei Jahre neu auflegen, wird ein Kompensationsbedarf von 40 Gigawatt bis 2035 angenommen. Das entspricht der Leistung von 40 großen Kohle- oder Kernkraftblöcken.

Wie viel Momentanreserve bisher aus dem Netz gefallen ist, könne die BNetzA nicht ermitteln, heißt es auf Anfrage der DW. Die verbliebene Leistung reiche aber bisher aus, um einen Schwarzfall zu verhindern.

„Mitten in Deutschland könnte ein System-Split weniger glimpflich ablaufen“, sagt Sönke Rogalla, der sich am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE mit der Materie befasst. Das Szenario, an das er denkt: Wenn an einem windigen Tag die Windkraftanlagen in Norddeutschland die Industrieanlagen im Süden mit Strom versorgen, würde ein Systemsplit dazwischen einen massiven Überschuss an Strom in Norddeutschland und einen ebenso massiven Mangel an Strom im südlichen Stromnetz verursachen.

Nur ein große Menge Momentanreserve könnte die Frequenzveränderung dann so stark verlangsamen, dass den Netzbetreibern genug Zeit bleibt, Erzeugungs- und Verbrauchsanlagen so zu- und abzuschalten, dass sich ein neues Gleichgewicht einstellt. Andernfalls würden sich zum Beispiel Industrieanlagen aufgrund von Sicherheitsmechanismen selbst abschalten und dadurch eine unkontrollierbare Kettenreaktion auslösen. „Die wahrscheinlichste Folge wäre ein großflächiger Stromausfall, der auch auf andere Länder des Europäischen Verbundnetzes übergreifen könnte“, sagt Rogalla.

Der Netzentwicklungsplan sieht vor, dass sich künftig auch erneuerbare Erzeugungsanlagen Momentanreserve bereitstellen sollen. Derzeit würden Regularien erarbeitet, mit denen Betreiber dazu verpflichten werden könnten, heißt es aus der Bundesnetzagentur. Nur: Stand heute können sie das gar nicht.

Auch deshalb wohl rechnen die Netzbetreiber damit, dass sie für solche Großereignisse auch in Zukunft „echte“ rotierende Masse vorhalten müssen. Konventionelle Kraftwerke braucht man dafür allerdings nicht. In Deutschland hat man bereits die Synchrongeneratoren einiger stillgelegter Kohle- und Kernkraftwerken stehen lassen und lässt sie nun – ohne Turbinen – am Netz mitlaufen. Die Weiternutzung schont zwar kurzfristig Geldbeutel und Ressourcen, langfristig aber dürften sich vakuumgelagerte Schwungräder wie das in Moneypoint als effizientere und nachhaltigere Lösung erweisen.

Anmerkungen

Was hier nicht angesprochen wird ist, dass es nicht nur um den Betrieb eines stabilen Systems geht, sondern wie man ein solches System auch bei einer Großstörung („Schwarzfall“) wieder hochfahren kann.