Von Dr. Franz Hein

Erste Ebene der Gewährleistung der Stabilität der Stromversorgung

Die einzelnen im Netz verteilt vorhandenen Momentanreserven (die jeweils für sich einen rein physikalisch reagierenden Energievorrat infolge der Rotationsenergie in den Schwungmassen darstellen), sind über elektromagnetische „Wellen“ im gesamten elektrischen Netzwerks mehr oder weniger elastisch untereinander verbunden. Damit bilden diese „verteilten“ Energievorräte insgesamt einen „Schwarm“, in dem Auslenkungen infolge von Veränderungen im Netz mit Lichtgeschwindigkeit (siehe die Maxwellschen Gleichungen) sich gegenseitig „mitteilen“. Diese Kopplung ist rein physikalischer Natur.

Diese Kopplung wirkt bei jedweder Änderung bei Einspeisungen, Lasten und auch bei Störungen (z.B. Kurzschlüsse) oder Topologieänderungen infolge von Schaltungen, speziell auch bei Netztrennungen. Dabei gilt in dem abgeschlossenen System, also dem „Stromversorgungssystem“, der Energieerhaltungssatz. Bei Netztrennungen gilt das für jeden entstandenen Netzteil. Das hat instantan (also ohne Zeitbedarf) Leistungsänderungen und damit auch Energieflüsse zur Folge, die den Energieerhaltungssatz erfüllen.

Der Begriff der Trägheit, der einer Masse eine „Eigenschaft“ zuweist (so als ob sich eine Masse einer Änderung ihrer Bewegung „widersetzt“), passt nicht für die Auswirkungen des Energieerhaltungssatzes, wird aber leider immer noch gebraucht. Muss der Begriff „Trägheit“ für die Wirkung der Momentanreserve nun nicht aus dem Sprachgebrauch verbannt werden?

Im derzeitigen Stromversorgungssystem erzeugen die rotierenden Massen über die Induktion den Wechselstrom und prägen diesem Wechselstrom über die Drehzahl eine Frequenz ein. Damit ist die Frequenz der Indikator für eine sich ändernde Rotationsgeschwindigkeit und damit gleichzeitig auch für einen Energieabfluss aus der Momentanreserve (dann sinkt die Frequenz) oder ein Anwachsen der Rotationsenergie (dann steigt die Frequenz). Die Geschwindigkeit, mit der sich die Frequenz ändert, hängt mit der Menge an rotierender Masse und der Höhe des aufgetretenen Leistungsdefizits bzw. des Leistungsüberschusses ab. Dies ist aber keine „Eigenschaft“ der Masse, also keine Wirkung einer „Trägheit“.

Die Festlegung einer Normfrequenz ist damit gleichbedeutend mit der Festlegung einer bestimmten Höhe des Energievorrates in den rotierenden Massen. Dieser Energievorrat in der Momentanreserve ist der verfügbare Puffer, um aufgetretene Leistungsdefizite decken zu können. Ein zu tiefes Absinken der Drehzahlen (und damit der Frequenz) muss vermieden werden. Die Drehzahlen der rotierenden Einheiten dürfen aber auch nicht zu groß werden. Damit puffert die Momentanreserve auch einen Leistungsüberschuss. Die Höhe des Energievorrates (siehe Normfrequenz) und die Größe des Pufferbereichs sind das Ergebnis einer Übereinkunft. Je höher die Menge an rotierender Masse ist, umso weniger schnell ändert sich die Frequenz als Regelgröße bei gleicher Höhe eines Leistungssprunges. Ein Wegfall von rotierender Masse (also auch ein geringerer Einsatz von z.B. Synchronmaschinen), macht das Gesamtsystem demnach empfindlicher gegenüber Leistungsveränderungen.

Solange im Stromversorgungssystem nicht auf die Frequenzänderung reagiert wird, setzt sich eine durch eine Leistungsänderung eingetretene Änderung der Drehzahl und damit der Frequenz ungehindert fort. Die Frequenzänderung muss durch Regeleingriffe über Leistungsänderungen bei der Einspeisung und/oder beim Leistungsbezug gestoppt werden. Dazu dienen derzeit die Messung der Frequenz und das Reagieren auf Frequenzänderungen durch Regeleinrichtungen. Das ist ein rein technischer, auf physikalische Gesetzmäßigkeiten beruhender Ablauf.

Zweite Ebene der Gewährleistung der Stabilität der Stromversorgung

In der zweiten Ebene muss eine Änderung der Regelgröße „Frequenz“ erkannt und darauf reagiert werden. Das Erkennen erfordert Zeit für die Messung und für das Feststellen einer (signifikanten) Änderung. Diese Zeit ist endlich groß und in dieser Zeit setzt sich eine Änderung in der ersten Ebene unverändert fort. Erst nach dem Ablauf dieser Zeit kann eine Regelung eingreifen. Diese Zeit wirkt wie eine „Totzeit“, in der das Gesamtsystem von außen unbeeinflusst ist.

Die Primärregelung kommt demnach immer zeitversetzt zur Wirkung. Der dafür „produzierte“ Leistungshub der Primärregelung ist entscheidend dafür, wie viel Zeit vergeht, bis die Wirkung der Momentanreserve durch den Regeleingriff abgelöst wird. Bei zuvor festgestelltem Leistungsmangel wird dann die Talsohle der Frequenz erreicht. Lag hingegen ein Leistungsüberschuss vor, wird ein Frequenzmaximum erreicht.

Der Beitrag der Primärregelung beendet schließlich den Energiefluss aus der Momentanreserve ins Netz bzw. aus dem Netz zur Momentanreserve. Die aktuelle Frequenz hat dann in ihrem Zeitverlauf einen „Endpunkt“ erreicht. Die Sekundärregelung versucht dann in der Folge in einer vereinbarten Zeit die Frequenz wieder auf den aktuell vorgegebenen Sollwert zu bringen. Das erfolgt z.T. automatisch oder durch manuelle Eingriffe durch das Personal in Leitwarten der Übertragungsnetzbetreiber. In der Regel wird so die Sollfrequenz innerhalb einer Viertelstunde wieder erreicht. Eine Mithilfe zur Primärregelung und auch zu dieser Systemdienstleistung ist in nachfolgenden Netzebenen bisher nicht realisiert.

Während in der ersten Ebene zur Gewährleistung der Stabilität der Stromversorgung das System in sich nach rein physikalischen Gesetzmäßigkeiten reagiert, reagieren in der zweiten Ebene in aller Regel Automaten aufgrund ihrer technischen Fähigkeiten und der Fähigkeiten der ihnen zur Verfügung stehenden Komponenten. Dabei ist die Zeitspanne bis zum Einsatz der Primärregelung und die dann auch tatsächlich verfügbare regelbare Leistung entscheidend wichtig für die Stabilität des Systems. Je rascher und je kräftiger die Primärregelung eingreifen kann, umso eher kann das Entfernen aus dem dynamischen Gleichgewicht gestoppt und so die Stabilität gewährleistet werden.

Batteriespeicher haben einen Energievorrat, der innerhalb einer kurzen Zeit abgerufen oder erhöht werden kann. Diese Fähigkeiten von Batterien in Kombination mit entsprechend programmierten Wechselrichtern samt den dazugehörenden Messeinrichtungen erlauben gegenüber bisher genutzten Regelkraftwerken ein deutlich rascher auf Änderungen der Regelgröße „Frequenz“ reagierendes Verhalten. Das gilt selbst für Pumpspeicherwerke und nicht nur für thermische Kraftwerke, bei denen ja erst bei der Dampferzeugung eingegriffen werden muss. Die neuen Techniken (Batteriespeicher in Kombination mit Wechselrichtern) mindern den Zeitbereich ganz erheblich, in dem allein die Momentanreserve die Stabilität des Gesamtsystems gewährleisten können muss. Die Momentanreserve wird also durch neuere technische Einrichtungen nicht ersetzt. Sie wird aber weniger lang in Anspruch genommen.

Die Pufferwirkung der Momentanreserve bestimmt also zusammen mit dem Leistungssprung im ersten Moment einer Auslenkung aus dem dynamischen Gleichgewichtszustand des Gesamtsystems dessen Fähigkeit zur Beibehaltung der Stabilität. Dies muss künftig vermehrt bei der zulässigen Größenordnung eines Leistungssprunges berücksichtigt werden. Das beschränkt die Leistungen der am Netz angeschalteten Komponenten. Das beschränkt aber auch den noch zulässigen Leistungstransport, weil bei einer Netztrennung (durch was auch immer bewirkt) in jedem Falle die entstehenden Teilsysteme mit den darin verbliebenen Momentanreserven den zwangsläufig auftretenden Leistungsmangel und in gleiche Höhe auch den Leistungsüberfluss beherrschen können müssen. Netztrennungen stellen deshalb die größere Gefährdung der Systemstabilität dar als sonstige Leistungsänderungen (Störungen wie Kurzschlüsse ausgenommen – die sind extrem belastend).

Eine zuvor erwähnte Leistungsbeschränkung würde sich automatisch dann von selbst einstellen können, wenn durch ein flächenhaft ausgedehntes Energiemanagement bereits vor Ort und bei jedem Stromkunde selbst ein Ausgleich zwischen Energiezufluss (z.B. auch über PV-Dächer) und Energiebedarf (z. B. auch durch Rückspeisung ins Netz) nach Möglichkeit durch Energieassistenzsysteme vorgenommen wird. Die dazu erforderlichen Speicher könnten zudem bei Störungen in vorgelagerten Netzebenen immer auch als Notreserve genutzt werden. Dazu wären dringend Standards und Regelwerke für den dann notwendigen Inselbetrieb zu etablieren. Wir brauchen Blackout-Fitness als Rückfallebene nicht nur in der untersten Netzebene, sondern in jeder Netzebene. Diese Fitness sollte dann aber auch regelmäßig getestet werden. Während in den oberen Netzebenen dies mehr an Verantwortlichkeit für die Stabilität des Systems als Ganzes bedingt, kommt es in den unteren Netzebenen besonders auf das Durchhaltevermögen (z. B. in einem Inselbetrieb) an. Dieses Miteinander schafft die dringend notwendige Resilienz der Energie-Infrastruktur.

Dritte Ebene der Gewährleistung der Stabilität der Stromversorgung

In der dritten Ebene bewirken Eingriffe des Menschen einen Leistungsmangel oder einen Leistungsüberschuss durch ihr Verhalten. Dieses Verhalten ist auch durch äußere Einflüsse bedingt (z.B. Umgebungstemperatur, besonders aber durch lokale Energiebevorratung). Das bedingt vor allem eine gute Prognose des kommenden Energiebedarfs und eine rechtzeitige Vorsorge für die mehr lokalen Speichermöglichkeiten. Das mindert dann auch den Transportbedarf und sorgt so für geringere, ad hoc auftretende, überörtliche Leistungsflüsse. Warum nicht zusätzlich zur Wetterprognose auch eine regelmäßige Energieprognose, um den Umgang mit der wertvollen Energie in das Bewusstsein der Bevölkerung einzuprägen.

Es geht dabei keineswegs um vermehrte Autarkie, sondern um Autonomie. Damit werden die unzweifelhaft bestehenden Herausforderungen besser beherrschbar gemacht. Energieassistenzsysteme würde da zu einem Mehr an Selbstorganisation beitragen. Das wiederum steigert die Resilienz der Bevölkerung und stärkt gleichzeitig auch die Zuversicht, auch künftige Herausforderungen bestehen zu können. Das so wichtige Miteinander kann sich hier das Prinzip der Subsidiarität zu eigen machen. Auch das Miteinander zwischen mehr städtischen und ländlichen Gebieten hat hier sehr positive Wirkungen. Eine mehr zentral ausgerichtete, dirigistische Vorgehensweise, z.B. durch Eingriffe der Netzbetreiber oder von Behörden, würde dem total zuwiderlaufen.

Zur dritten Ebene gehört auch der Energieaustausch möglichst bereits auf lokaler Ebene, aber auch der Energiehandel im gesamten Netzgebiet und das in jeder Netzebene. Mit der Istwertaufschaltung können hier Energieassistenzsysteme gleichermaßen den Energieaustausch wie auch die Abrechnung unterstützen. Auch das gemeinschaftsdienliche Mitwirken durch rechtzeitige Vorsorge und bedarfsgerechter Mitwirkung bei den Systemdienstleistungen kann damit erfasst, dokumentiert und honoriert werden. Überhaupt spielt hier das Energiemanagement eine extrem wichtige Rolle. Ohne Energiebevorratung kann die Energiewende und der künftige Betrieb der Energie-Infrastruktur nicht gelingen. Auch in der dritten Ebene der Gewährleistung der Stabilität der Stromversorgung sollte der monetäre Aspekt höchstens eine Nebenrolle spielen, denn die Nutzung der Energie ist ein Grundbedürfnis von uns allen. Energie ist ein „Lebensmittel“!

Vierte Ebene der Gewährleistung der Stabilität der Stromversorgung

Sämtliche Komponenten für die Energie-Infrastruktur müssen geplant, erstellt, in Betrieb genommen, überwacht, gewartet, bei Bedarf repariert und zu gegebener Zeit auch erneuert werden. Das ist ohne Investitionen nicht möglich. Dieser Aspekt der Daseinsvorsorge gehört unzweifelhaft mit zur Gewährleistung der Stabilität der Stromversorgung. Hier sind deshalb auch staatliche Einflussnahmen nötig, damit über demokratisch vorgenommene Prozesse das gemeinschaftliche Miteinander gebührend und vor allem langfristig beachtet wird.

Anmerkungen zur Gewährleistung der Stabilität der Stromversorgung

Die einzelnen „Momentanreserven“ reagieren aufgrund der jeweiligen rotierenden Masse und dem jeweiligen Leistungsbeitrag nach meinem Verständnis im Zeitverlauf unterschiedlich schnell. Auch die elektrische „Nähe“ der Primärregelungen in allen dafür geeigneten Standorten untereinander facht ein „Atmen“ der verschiedenen Leistungsbeiträge an. Damit entsteht ein Gebilde, in dem nach meiner Auffassung Schwingungen auftreten müssen. Das sind Pendelungen im System als Ganzes. Die darin enthaltene Schwingungsenergie wird durch die Wirkleistungsverluste u.a. in Transformatoren und Leitungen letztlich „entsorgt“. Diese Pendelungen werden so automatisch gedämpft. Nach meiner Auffassung ist durch den Abbau von Kraftwerken ein fortwährend zunehmenden Verlust an Momentanreserve und auch an primärgeregelten Kraftwerken zu beklagen. Durch das unterschiedliche „Ausdünnen“ dieser Komponenten in der Fläche werden wohl die Auslenkungen größer und damit die Pendelungen deutlicher. Das erzeugt zusätzlichen Stress. Das Gesamtnetz wird zurzeit durch den Abbau an Kraftwerken damit immer fragiler und reagiert empfindlicher auf die letztlich unvermeidbaren, ständig auftretenden Leistungsänderungen.

Eine gegenläufige Entwicklung kann ich immer noch nicht erkennen, obwohl sie längst im Gange sein müsste. Neue Technologien bei der Primärregelung (Wechselrichter in Kombination mit Batteriespeicher) spielen hinsichtlich der notwendigen Dimensionen offenbar bisher nur eine verschwindend geringe Rolle. Ob bei den DC-Verbindungen zwischen den europäischen Netzregelblöcken schwingungsdämpfende Einrichtungen eingebaut sind und entsprechend wirken, entzieht sich meiner Kenntnis.

Die bisherige, aus meiner Sicht überbordende Hoffnung, dass Energiemärkte und Regulierungen die Gewährleistung der Stabilität der Stromversorgung „garantieren“, ist wohl eine Art von Selbstbetrug. Das gilt in gleichem Maß auch für die Meinung, dass zentrales Einwirken eine Stabilität bei dieser so ungemein wichtigen Energie-Infrastruktur bewirkt. Die „Erneuerungszyklen“ durch die Wahlen der Volksvertreter und damit auch die Bildungen der Regierungen stimmen mit den deutlich langfristigeren Erneuerungszyklen der Energie-Infrastruktur einfach nicht zusammen. Physikalische Gesetzmäßigkeiten und überhaupt Naturgesetze können zudem nicht durch menschengemachte Gesetze „novelliert“ werden.