Das Buch „Lauter Lügen“ von Konrad Paul Liessmann beschäftigt sich kritisch mit aktuellen interessanten gesellschaftlichen Fragen und Entwicklungen.

Hier wieder einige Zitate, die zum Weiterlesen animieren sollen.

Mitunter ist es verblüffend zu sehen, wie schnell sich vermeintlich gravierende und vieldiskutierte Phänomene als belanglos herausstellen, im Gegenzug ist es ernüchternd, feststellen zu müssen, wie oft wirklich Wichtiges schlicht übersehen werden konnte.

In der Politik wurde immer schon gelogen, und immer schon haben die Anhänger dieser Politik das augenzwinkernd akklamiert. Die Lügen, mit denen Colin Powell, Tony Blair und George W. Bush der Weltöffentlichkeit ihre Kriegsabenteuer, die bis heute abertausenden Menschen das Leben kosten, schmackhaft machten, hatten keine Konsequenzen ;

Die neue Campus-Kultur, in der es von Mikroaggressionen und Trigger Warnings wimmelt, lebt doch davon, dass Fakten nichts, die Gefühle und Befindlichkeiten der Betroffenen aber alles zählen. Und überhaupt: Gilt »Faktenwissen« nicht seit langem in der modernen Pädagogik und Didaktik als verzichtbar, ja als geradezu schädlich, da jugendliche Gehirne keinesfalls mit Wissen belastet werden dürfen, wenn es doch um Kompetenzen und Emotionen geht? Dass man nichts mehr wissen muss, weil die Digital Natives ohnehin alles googeln können, war eine dieser verheerenden reformpädagogischen Ideen, die sich nun anfangen, bitter zu rächen.

Natürlich lügen auch die Guten, vor allem dann, wenn sich die Wirklichkeit den Ideen des Guten zu widersetzen scheint.

Nietzsche zu zitieren: »Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als die Lügen.«

Um an der Welt nicht zu verzweifeln, zeichnen wir von dieser ein geschöntes und verkürztes Bild, das unseren Interessen entspricht. Und nicht selten verschließen wir die Augen vor einer Wahrheit, die unsere Ideale konterkariert und von der wir fürchten, dass sie womöglich in falsche Hände gerät. Damit belügen wir uns selbst.

Eher selten ist allerdings davon die Rede, dass der alten, lange verpönten Tugend der Selbstbeherrschung wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte: Es muss nicht jeder Affekt gleich aller Welt kommuniziert werden.

Da es zur Logik der Dummheit gehört, dass man sie nicht aufwendig widerlegen muss, genügt es, störende Meinungen und unangenehme Positionen in die Nähe von Verschwörungstheorien zu rücken, um sich ihrer zu entledigen. Argumentative Auseinandersetzungen erübrigen sich, an deren Stelle tritt die pädagogische Besorgnis. Verzweifelt wird gefragt, was man gegen die rasende Verbreitung von Verschwörungstheorien tun könne. Die Antwort ist immer dieselbe: Bildung, Bildung, Bildung. Vergessen wird dabei, dass nicht wenige Anhänger von Verschwörungstheorien überzeugt davon sind, besser informiert zu sein und mehr zu wissen als die durch offiziöse Medien gegängelten Menschen.

Rituale orientieren sich, wie religiös auch immer sie fundiert sein mögen, an Friedrich Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Genau deshalb können sie auch sinnentleert praktiziert werden — ihre Bedeutung liegt in der reinen Wiederholbarkeit. Das Festhalten an Ritualen erklärt sich aus dieser Vergewisserung: das Richtige zu tun, indem man sich einfach einer Form fügt.

Sprachpolizeiliche Maßnahmen lassen die Realität allerdings ungeschoren und fungieren deshalb eher als Gesinnungsnachweis und Feigenblatt für Machtansprüche aller Art.

Alle Menschen sind gleich, keine Frage. Zumindest vor Gott ; wenn sie großes Glück haben, auch vor dem Gesetz. Ansonsten herrscht Ungleichheit. Aussehen, Herkunft, sozialer Status, Geschlecht, Einkommen, Intelligenz, Leistungsfähigkeit, Interessen, Begabungen — in keinem dieser Punkte gleicht einer dem anderen. Menschen begegnen einander deshalb prinzipiell unter asymmetrischen Gesichtspunkten. Das aber bedeutet: Wo immer Menschen miteinander zu tun bekommen, entsteht ein Gespinst von Abhängigkeiten, die nie gleich oder gleichmäßig verteilt sind.

Viel ist heute vom Verlust der Glaubwürdigkeit die Rede. Im Zeitalter der Fake News und der Lückenpresse leiden darunter die etablierten Medien ebenso wie die Filterblasen der sozialen Netzwerke, die Glaubwürdigkeit von erfolgreichen Politikern kann ebenso schnell Risse bekommen wie die von Parteien, das Vertrauen in die Innovationskraft von Automobilkonzernen war auch schon einmal höher, und nicht einmal den NGOs nimmt man ab, dass es ihnen immer um die Rettung von Menschen und der Welt gehe. Gleichzeitig bieten Heerscharen von Medien – und Politikberatern ihre Hilfe an, um die Glaubwürdigkeit ihrer Klienten zu verbessern. Handelt es sich bei Glaubwürdigkeit also um ein Marketingkonzept, bei dem es genügt, einige Regeln zu beachten, um nicht in den Verdacht des Vertrauensverlustes zu gelangen? Durchforstet man die einschlägige Literatur, stößt man in der Tat auf zahlreiche gute Ratschläge, deren Befolgung vor Glaubwürdigkeitsverlust schützen sollte.

Sehen wir uns diese an sich so plausiblen Bausteine genauer an:

  • Ehrlichkeit: Wie glaubwürdig ist ein Mensch, der von sich behauptet, immer ehrlich zu sein und nie zu lügen? Natürlich überhaupt nicht. Je nach Definition der Unehrlichkeit und Lüge haben Psychologen festgestellt, dass wir an einem Tag unzählige Male lügen — aber keine dieser Lügen muss unsere Glaubwürdigkeit beschädigen, wenn es um Lügen aus Höflichkeit, aus Rücksichtnahme, aus Vorsicht geht, oder es sich um Übertreibungen, Flunkereien und Verharmlosungen handelt, die als solche durchschaut werden, aber zu einem bestimmten Typus von Kommunikation gehören. Wirklich ehrliche Werbung, die nur bekanntgäbe, was ein Produkt ausmacht, wäre keine Werbung. Entscheidend für die Glaubwürdigkeit ist nicht die Ehrlichkeit an sich, sondern das Wissen und das Gespür, wann und in welchem Kontext man ehrlich sein sollte und wann eine Lüge der Situation angemessener ist.
  • Ähnlich verhält es sich mit der Transparenz. Seien wir einmal ehrlich: Ein vollkommen transparenter, also durchsichtiger Mensch wäre nicht glaubwürdig, sondern unerträglich. Wir wollen nicht alles von allen wissen. Wir wollen unsere Geheimnisse bewahren und sie anderen auch zugestehen. Ein Mensch ohne Geheimnisse und eine Institution ohne dunkle Kanäle wären weder glaubwürdig noch vertrauenerweckend. Auch hier gilt: Ich muss wissen, wann es wichtig und sinnvoll ist, etwas von mir preiszugeben. Wer ständig betont, dass er nichts zu verbergen hat, wirkt nicht glaubwürdig, sondern erzeugt Misstrauen.
  • Noch problematischer ist die Aufforderung, authentisch zu sein. Authentizität ist ein Ideal, von dem wir nur hoffen können, dass es niemand verwirklicht. Würden wir all unseren Impulsen »authentisch« nachgeben, uns immer so präsentieren, wie wir tatsächlich fühlen und denken, würde jedes soziale Leben zusammenbrechen. In vielen Situationen sind wir nicht nur froh, sondern auch darauf angewiesen, nicht authentisch sein zu müssen — und dies nicht nur, wenn die Höflichkeit es gebietet, sich zurückzuhalten. Es ist ja ein Problem der sozialen Medien, dass sie aufgrund ihrer Technologie die Menschen dazu verleiten, authentisch zu agieren. Das Resultat sind Hasspostings. Die alte, bis vor kurzem allerdings verpönte Tugend der Selbstbeherrschung scheint gerade unter den Bedingungen der digitalen Medien an Bedeutung zu gewinnen.
  • Glaubwürdig ist nicht derjenige, der bei jeder Gelegenheit seinen Impulsen nachgibt, sondern der auch zu verstehen gibt, wann und aus welchen Gründen er sich jetzt beherrscht. Aber darauf zu achten, dass Reden und Handeln immer übereinstimmen, muss doch ein entscheidendes Kriterium für Glaubwürdigkeit sein! Wasser predigen und Wein trinken: Das ist doch der Inbegriff der Unglaubwürdigkeit!

Wenn das Reden sich nicht als Empfehlung an andere wendet, sondern damit zu tun hat, dass Menschen Dinge von sich behaupten oder auch verlangen, die sie nicht immer einlösen können, kann das auf »authentische« Weise zeigen, dass der Mensch ein Wesen ist, das notgedrungen hinter seinen eigenen Erwartungen und Wünschen zurückbleiben kann. Solche Schwächen sind nicht nur menschlich, sie können auch das Vertrauen stärken.

Und nun, zu guter Letzt, das konsistente Verhalten. Gemeint ist damit, dass man stets widerspruchsfrei agieren soll. Menschen sind keine Rechenmaschinen, und deshalb widerspruchsvolle Wesen. Unser Denken und unser Fühlen sind oft nicht im Einklang, schon Platon wusste, dass wir von Leidenschaften getrieben sind, die von unserer Vernunft nur schwer zu zügeln sind. Nur allzu oft werden wir solchen Leidenschaften, mitunter auch nur Launen, nachgeben und dadurch den Eindruck erwecken, widersprüchlich, inkonsistent und unzuverlässig zu sein. Aber dies muss die Glaubwürdigkeit nicht beschädigen, wenn es darüber hinaus Indikatoren der Konsistenz und Verlässlichkeit gibt. Wann also verspielen wir unsere Glaubwürdigkeit tatsächlich? Paradoxerweise dann, wenn wir besonders glaubwürdig erscheinen wollen und dabei so tun, als wären Inkonsistenz, Widersprüchlichkeit und Inauthentizität etwas, das nur an anderen, nie an uns selbst zu beobachten ist; oder wenn wir vorgeben, nur moralisch hehre Ziele zu verfolgen, nie böse Gedanken zu hegen; oder wenn wir demonstrativ politisch korrekt formulieren und uns deshalb für besonders anständig halten. Sichtbar betonte Glaubwürdigkeit macht unglaubwürdig.

Man kann auch ein authentischer, konsistenter Lügner sein. Glaubwürdigkeit allein ist noch keine moralische Kategorie. Glaubwürdige Menschen sind nicht unbedingt die besseren Menschen. Glaubwürdigkeit allein besagt deshalb wenig. Vergessen wird, dass Glaubwürdigkeit keine Charaktereigenschaft ist, sondern ein Attribut, das wir anderen Menschen aufgrund unterschiedlicher Annahmen, Erfahrungen und Intuitionen zuschreiben. Über unsere Glaubwürdigkeit können wir also nicht selbst befinden. Es ist deshalb weder für Medien noch für Unternehmen oder politische Parteien und Bewegungen ein erstrangiges Ziel, glaubwürdig erscheinen zu wollen. Wer dies vorgibt, hat in der Regel seine Glaubwürdigkeit auch schon verspielt. Besser und klüger wäre es, die Dinge zu tun, die man für richtig und wichtig hält, seine Vorstellungen, Ziele, Programme zu verfolgen, durchaus mit rhetorischen Übertreibungen und menschlichen Widersprüchen, ohne immer authentisch sein zu wollen und ohne demonstrative und deshalb nur vorgetäuschte Transparenz. Wie glaubwürdig dann solch eine Lebensführung, Unternehmensstrategie oder Politik sein wird — das kann man ruhig den Kunden, Lesern, Partnern und Wählern überlassen.

Zwar ist das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes auch unter gläubigen Katholiken höchst umstritten, das ändert nichts daran, dass die Zahl der Menschen, die sich in Meinungsfragen für unfehlbar halten, rasant zunimmt. Anders sind die Debatten, die in sozialen Netzwerken, aber auch in seriösen Printmedien über die Grenzen des Sagbaren geführt werden, kaum zu verstehen. Auch mit Argumenten vorgetragene und in einem sachlichen Ton formulierte Positionen werden zunehmend mit dem Hinweis, dass über bestimmte Fragen nicht mehr diskutiert werden kann, aus Medien verbannt. Die Wahrheit steht offensichtlich schon fest, wer daran zweifelt, hat nicht eine andere Meinung, sondern ist ein Ketzer.

Die religiöse Inbrunst, mit der der Kampf um die Grenzen der Meinungsfreiheit heute ausgetragen wird, kommt nicht von ungefähr. Wer in einer säkularen Umgebung seine eigene Position gegen Kritik immunisieren will, muss zu einer Rhetorik greifen, die jene absoluten Wahrheitsansprüche kennzeichnet, wie sie von Religionen verkündet werden.

Ein Reizwort genügt, und man wendet sich ab — was immer dann noch kommen mag. Dass es ein schlichtes Gebot der Höflichkeit sein könnte, zu hören, was andere zu sagen haben, spielt schon lange keine Rolle mehr.

Mill führt unter anderem einige interessante pragmatische Gründe an, etwa, dass nur die Auseinandersetzung mit gegenteiligen Positionen die eigene Auffassung stärken und plausibilisieren kann, oder dass es nicht ausgeschlossen ist, dass auch im größten Unsinn ein Körnchen Wahrheit stecken könnte und dass der Fortschritt im Denken auf mitunter abseitig erscheinende und zugespitzt formulierte Ideen angewiesen ist.

Wer sich einer Debatte verweigert, weil er glaubt, die Wahrheit schon zu kennen, beansprucht nämlich für sich eine ziemlich erhabene Position: »Jede Unterbindung einer Erörterung ist eine Anmaßung von Unfehlbarkeit.« Wäre dies nicht der Fall, müsste man nämlich zugestehen, dass man andere Meinungen aus Gründen der Macht, der Eitelkeit, der Feigheit oder der Unduldsamkeit nicht zulassen oder debattieren will.

Während eine linke Identitätspolitik die Vielfalt in der Gesellschaft stärken will und eine rechte identitäre Politik die Homogenisierung der Gesellschaft anvisiert, geht die Mannigfaltigkeit des Einzelnen dabei verloren.

Identität sabotiert Individualität.

Human wäre es, die Vielgestaltigkeit des Menschen und die Plastizität seiner Zugehörigkeiten zu stärken und zu fördern.

Es lebt sich wahrscheinlich einfacher, wenn eine Sprachpolizei festlegt, was ein Wort bedeutet, wie es zu verwenden und wann es aus dem Verkehr zu ziehen ist.

Wo jedes Wort ein Fehltritt, jeder Satz eine Entgleisung, jede Metapher eine Verletzung sein könnte, erstarrt das Denken. Angst ist weder für das Sprechen noch für das Schreiben ein kluger Ratgeber. Das bedeutet nicht, dass jederzeit alles gesagt werden kann. Doch man sollte den Menschen schon zutrauen, dass sie Kontexte verstehen, historische Wandlungen berücksichtigen und Bedeutungsnuancen erkennen können.

Was bedeutet es, die Welt von allen historischen Spuren zu säubern, die unseren aktuellen Moralvorstellungen widersprechen? Zum einen muss man ob solcher Versuche leise Zweifel am Geschichtsunterricht anmelden, sofern dieser noch existiert und nicht in leeres Kompetenzgerede aufgelöst wurde. Wer, der grundlegende Kenntnisse der Geschichte des Mittelalters aufweist, wüsste nicht ein siebenhundert Jahre altes kirchenpropagandistisches Relief richtig einzuschätzen? Die bilderreichen sakralen Bauten des Christentums sind voll von Darstellungen, die sowohl den guten Geschmack als auch das moralische Empfinden stören können. Müssen wir deshalb die Fassaden der Kirchen glätten und ihre Innenausstattungen entrümpeln, weil das notwendige Wissen zu deren angemessener historischer Einordnung und Beurteilung verlorengegangen ist? Zum anderen aber müsste man sich fragen, was es bedeutet, dass wir die Vergangenheit und ihre Dokumente generell unter die moralische Kuratel der Gegenwart stellen wollen — und das reicht vom Umschreiben von Kinderbuchklassikern bis zur Entfernung von Fotos, auf denen ein deutscher Bundeskanzler in Wehrmachtsuniform zu sehen ist. Darin artikuliert sich ein unangenehmer Habitus, der vor allem linken Bewegungen und kommunistischen Parteien von Anfang an eingeschrieben war und sich in bestimmten Formen politisch korrekten Denkens fortsetzt: die Lust an der Säuberung und ein damit verbundenes Phantasma der politisch – moralischen Reinheit. Problematisch sind solche intellektuellen Säuberungsaktionen nicht nur aufgrund ihrer Geschichtsvergessenheit ; problematisch sind sie vor allem, weil sie die historischen Wurzeln der Gegenwart ideologisieren und damit einem produktiven Diskurs entziehen.

Es geht den Aktivisten nicht darum, sich mit fragwürdigen Positionen, unbequemen Denkern, widersprüchlichen Kunstwerken kritisch oder polemisch auseinanderzusetzen, sondern man will Menschen zum Schweigen und Dinge zum Verschwinden bringen, man will eliminieren, durchstreichen, beseitigen. Man will canceln.

Ängste ernst nehmen: Das klingt nämlich nach geheucheltem Verständnis bei gleichzeitiger moralischer Abwertung. Die Ängstlichen: Das sind die schlecht Informierten, die anfällig für Verschwörungstheorien und Ressentiments aller Art sind. Der linksliberale Zeitgeist mokiert sich über die Ängstlichen, die noch nicht den Status souveräner Weltoffenheit erreicht haben. Aber könnte es nicht sein, dass viele Menschen gar keine Angst haben, sondern nur andere politische Präferenzen? Warum unterstellt man Menschen, die konservative Positionen vertreten, der Idee des Nationalstaates noch immer etwas abgewinnen können, nicht jede Reform bejubeln und Migration nicht nur als Bereicherung empfinden, sie hätten Angst? Macht man damit nicht aus einer politischen Frage eine psychologische Diagnose? Natürlich: Man kann, man muss solchen Positionen vielleicht heftig widersprechen. Ängste verlangen nach einer Therapie, kontroverse politische Konzepte nach einer Auseinandersetzung. Diese aber führen wir eher ungern. Unterstellte Ängste sind ein Hinweis auf paternalistische Besorgnis. Wie Kindern, die sich vor Gespenstern fürchten, versprechen die politischen Vormünder, den Menschen die Ängste zu nehmen. Vielleicht sollte man weniger die Ängste der Menschen, als vielmehr diese selbst ernst nehmen.

Haben die Tapferen, die Angst vor den Ängstlichen haben, wirklich nur die Menschenrechte und die Demokratie im Auge? Geht es nicht auch ein klein wenig um den drohenden Verlust von Macht und Einfluss? Das Paradoxe der Angst liegt darin, dass nur die Ängste der anderen, nie die eigenen jeder Grundlage entbehren. Angst ist deshalb für den politischen Diskurs ein denkbar schlechter Ratgeber. Anstatt sich wechselseitig Ängste zu unterstellen oder deren Berechtigung abzusprechen, wäre es besser, sich den Konflikten und Bruchlinien der Gesellschaft ohne falsche Besorgnis und moralische Vorbehalte zu stellen.

Eine Gesellschaft, die sich ohne Brüche als großes Wir verstünde, in der alle das Gleiche wollten, wäre gar keine erstrebenswerte Utopie. Die Vorstellung, dass es früher besser gewesen sei, sitzt einem romantischen Irrtum auf. Gesellschaften waren immer gespalten — man denke an die Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts —, und die solidarische Klammer, die diese Spaltung überwinden sollte, war ideologisch immer prekär. Es war übrigens gerade der Nationalismus, der solch eine Klammer darstellen und ein großes Wir behaupten wollte. Die Folgen sind bekannt.

Die Arbeit wird uns zwar nicht ausgehen, aber sie wird ihre Gestalt radikal ändern. Die Frage ist nicht nur, welche und wie viele Arbeitsplätze durch den technischen Fortschritt verlorengehen und wo neue geschaffen werden können, sondern es muss auch darum gehen, immer offenere und vielfältigere menschliche Tätigkeiten von dem Modell der Erwerbsarbeit sukzessive zu entkoppeln. Damit diese Chance genutzt werden kann, müssen die ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen diesem Prozess angepasst werden. Auch wenn es viele gar nicht gerne hören: Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, so unausgegoren sie noch sein mag, ist vielleicht doch ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Die Welt ist voll von Ereignissen, von denen man auf Anhieb nicht zu sagen wüsste, ob es sich um zufällige, tragische Einzelfälle oder um die Spitzen von Eisbergen handelt, um medial hochgepuschte singuläre Vorkommnisse, die niemand verhindern kann, oder um Handlungen, die Ausdruck allgemeiner Trends oder einer falschen Politik sind. Die Wirklichkeit hat es so an sich, dass ihr die Kausalitäten, die sie bestimmen, nicht auf die Stirn geschrieben stehen. Ab wann eine Klasse von Ereignissen zum Indiz einer gesellschaftlichen Entwicklung oder einer kollektiven Bedrohung wird, ist dabei alles andere als ausgemacht.

Ob tragische Ereignisse als bedauerliche Zwischen- oder Einzelfälle oder als Zeichen tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen wahrgenommen werden, hängt immer auch von Voreinstellungen und ideologischen Präferenzen ab. Die chaotische Struktur der medial vermittelten Nachrichten erlaubt es fast jedem, in dem einen oder anderen Fall eine Bestätigung seiner Weltsicht zu sehen; und umgekehrt kann auch jeder dieser Fälle verwendet werden, um die Weltsicht des anderen zu diskreditieren. Das bedeutet nicht, dass man gar keine Zusammenhänge und allgemeine Entwicklungen ausmachen könnte. Aber man sollte sich darüber im Klaren sein, dass im menschlichen Handeln Kausalitäten nicht solch einen zwingenden Charakter haben wie in der Natur. Die Frage nach den Ursachen von Anschlägen und Terror, von zunehmender Gewalt in privaten und öffentlichen Räumen ist selten von unbedingter Evidenz. Statistik hilft hier nicht wirklich weiter, denn wer einen Trend erkennen will, lässt sich nicht von dem Hinweis auf die Seltenheit oder Unwahrscheinlichkeit eines Ereignisses davon abhalten.

Ob eine Aggression singulär und damit bedauerlich, aber gesellschaftlich ohne große Bedeutung ist, oder Anzeichen einer gefährlichen sozialen Verschiebung, die durch eine politische Anstrengung bekämpft werden muss, lässt sich oft erst dann feststellen, wenn die Wirklichkeit selbst ihr Urteil gesprochen hat. Warnungen und apokalyptische Prognosen aller Art schreiben manchmal erst das herbei, was Gegenstand der Besorgnis ist; aber auch diese Einsicht bedeutet keine Entwarnung. Denn der vermeintlich einsame Einzeltäter könnte doch an den Fäden des Weltgeists hängen und die verhängnisvolle Spitze eines Eisberges markieren.

Demokratie bedeutet, dass Menschen mitreden, von denen man nicht will, dass sie den Mund aufmachen. Demokratie bedeutet, dass Menschen mitentscheiden, von denen man nicht will, dass sie das tun. Dass das Volk nicht herrschen kann, sondern erzogen, belehrt, bevormundet und mehr oder weniger sanft in die richtige Richtung gedrängt werden soll, ist überall spürbar.

In einer Demokratie, und nur in einer solchen, gehört es zur Würde des Einzelnen, sich im Feld der Politik dem Willen der Mehrheit zu beugen. Das kann höchst unangenehm sein, aber die Demokratie wurde erfunden, um die Mehrheit vor den Machtansprüchen von Minderheiten zu schützen — nicht umgekehrt. Doch die Mehrheiten können wechseln. Dafür ist Sorge zu tragen, denn einzig dadurch wird die Macht kontrollierbar und halbwegs erträglich.

Dass das Wort Mehrheitsgesellschaft mittlerweile durchgängig mit einem negativen Beigeschmack versehen wird, ist eigentlich ein Alarmsignal. Offenbar sollen die ideologischen Positionen von exklusiven Gruppen, die sich keiner Wahl stellen wollen, weil sie sich für erwählt halten, die Gesellschaft dominieren. Das lässt sich an vielen Beispielen beobachten. Die inflationäre Moralisierung politischer Fragen ist eines davon. Geht es um das Gute, muss man nicht lange diskutieren, schon gar nicht kann man darüber abstimmen lassen. Anstatt sich für seine Konzepte — sei es in Sachen Klimawandel, sei es in gesellschafts- oder sprachpolitischen Fragen — Mehrheiten zu suchen, genügt es, mit Hilfe von Medien, Netzwerken und Aktionen aller Art die eigenen Wertvorstellungen gegen die Mehrheit durchzusetzen.

Man versteht das Unbehagen an und in der Demokratie. Es ist so alt wie diese selbst. Mehrheiten können irren. Das bedeutet aber nicht, dass Minderheiten deshalb schon im Besitz der Wahrheit wären. Natürlich ist es für Menschen, die den Fortschritt auf ihrer Seite wähnen, schwer auszuhalten, dass dieser von bornierten Stimmbürgern gebremst, womöglich blockiert wird. Und es stimmt: Viele Ideen wie die Menschenrechte oder die Forderungen nach Gleichberechtigung waren ursprünglich Minderheitenpositionen. Diese sind der notwendige Stachel im Fleisch der Demokratie. Sie selbst jedoch lebt langfristig vom Vertrauen in die Vernunft der Mehrheit. Manchmal wird dieses auf eine harte Probe gestellt. Geht es aber verloren, tritt anstelle der Demokratie die politische Willkür.

In diesen wenigen Worten offenbart sich das aktuelle Dilemma von Führungsansprüchen. In Krisensituationen wird von Entscheidungsträgern Führungsstärke erwartet: rasches, konsequentes Handeln, hartes Durchgreifen, klare Positionierung.

Im Stillstand gibt es nichts zu führen, in diesem genügt es, zu verwalten.

Führungsansprüche signalisieren stets eine Dynamik, und wer sich der Führung eines anderen überlässt, weiß vielleicht nicht, wohin die Reise geht, wohl aber, dass nichts so bleibt, wie es ist.

Ohne Führung wird es schwierig. Umgekehrt provoziert jede Form von Führung eine Debatte darüber, ob diese denn überhaupt notwendig sei, ob es nicht zum Selbstbild freier und autonomer Menschen gehört, dass sie ohne Führung auskommen, weil sie selbst am besten wissen, was sie zu tun und wie sie zu kooperieren haben. Führung wird deshalb gleichermaßen bewundert wie gehasst, gefordert und misstrauisch beäugt.

Führungsarbeit ist immer in hohem Maße Motivationsarbeit, als gute Führungskraft gilt, wer seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen motivieren kann. Dazu gehören Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen, das Wissen um die richtigen materiellen und immateriellen Anreize, Überzeugungskraft und die Fähigkeit, als Vorbild zu fungieren. Wer »Mir nach!« ruft, muss etwas vorgeben können.

Eine Kultur des Misstrauens, wie sie sich nach diversen Skandalen jedes Mal aus guten Gründen entwickelt, ist stets Anzeichen einer Führungskrise, auch wenn überzeugte Anhänger dazu tendieren, ihren Führern sehr viel zu verzeihen. Niemand gibt gerne zu, auf das falsche Pferd gesetzt zu haben.

Führen ergibt dann einen Sinn, wenn es Menschen gibt, die sich auch ohne direkte und indirekte Gewaltmaßnahmen führen lassen wollen.

Wer führt, übernimmt damit, ob er dies will oder nicht, die Verantwortung für andere. Die Möglichkeiten des Führens beruhen geradezu auf der Delegation von Verantwortung an eine oder wenige Personen.

Wer sich dieser Verantwortung nicht bewusst ist oder sich ihr nicht gewachsen zeigt, sollte abgelöst werden. Entwickelte Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie für diesen Fall verbindliche Regeln und Verfahren des Machtwechsels vorgesehen haben. Wer sich vom verführerischen Duft des Führens nicht betören lassen will, sollte wissen, wann es Zeit ist, die Führung abzugeben oder die Gefolgschaft zu kündigen.

Heute muss alles leicht gehen. Sich anzustrengen ist verpönt, noch verpönter ist es, jemandem eine Anstrengung abzuverlangen. Bis zu vierzig Prozent der Erwachsenen, so lesen wir, sind des Lesens und Schreibens so entwöhnt, dass sie normalen schriftlichen Kommunikationen nicht mehr folgen können. Zwar sollten diese Menschen in der Schule einmal die grundlegenden Kulturtechniken erworben haben, aber wer diese nicht ständig nutzt, verliert offenbar diese Fähigkeiten wieder. Nun könnte man versuchen, davon Betroffene wieder an die Sprache, an anspruchsvollere Texte, an Bücher heranzuführen — aber das wäre für alle Beteiligten viel zu anstrengend. Einfacher ist es, alles zu vereinfachen.

Dieselben besorgten Menschen, die sich darüber beklagen, dass die Populisten alles vereinfachen, in den sozialen Medien nur noch primitive Zustimmungs- oder Ablehnungsvokabeln verwendet werden und dem Volk deshalb nicht mehr zu trauen sei, fördern durch die Propagierung der leichten Sprache ebendiese Entwicklung. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Jenseits der Frage, ob das Klima so gerettet werden kann, lohnt sich vielleicht überhaupt ein Blick auf die Jugend als Hoffnungsträger. Diese Gedankenfigur ist wahrlich nicht neu, und seit Sturm und Drang, Jungem Deutschland, dem Jugendstil und den Hippies wimmelt es in der Geschichte von Jugendlichen, die die Rettung der Welt auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Nicht, dass deren Proteste, Utopien und Attacken ganz ohne Wirkung geblieben wären — aber das, was ursprünglich intendiert gewesen war, wurde in der Regel verfehlt. Das hat nicht nur mit individuellem Versagen oder der grundsätzlichen Korrumpierbarkeit von Menschen zu tun, sondern mit dem Phänomen Jugend an sich. Wer auf die Jugend baut, baut auf Sand. Und dies aus einem einfachen Grund: Nichts verfliegt so schnell wie die Jugend. Allen Versuchen, die Pubertät ins Unendliche auszudehnen, und allen Infantilisierungsstrategien moderner Medien zum Trotz werden Menschen nach wie vor schneller erwachsen, als ihnen lieb ist. Dann ändern sich die Präferenzen, die Ideale verblassen, die Kraft lässt nach, und man muss nun selbst alle Hoffnung in eine neue Jugend setzen. Die notorischen Klimasünder und ihre politischen Vertreter hatten in ihrer Jugend ja auch von einer besseren Welt geträumt.

Das Himmelreich ist nahe. Da dieses nach einem gerne zitierten Wort Jesu nur den Kindern offenstehen soll, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. Zumindest mehren sich die Anzeichen, dass die Gesellschaft den Weg zu ihrer Infantilisierung eingeschlagen hat — der könnte allerdings auch in die Hölle führen.

Dass Menschen Freundschaften abbrechen, wenn sie erfahren, dass man nicht mehr derselben Meinungsblase angehört, erinnert an den trotzig – enttäuschten Ausruf von Kindern, denen am Spielgefährten etwas missfällt: »Jetzt mag ich dich nicht mehr!« Dass jedes Bedürfnis unmittelbar befriedigt werden muss und die Versagung eines Wunsches als Menschenrechtsverletzung gewertet wird, gleicht dem unerbittlichen »Ich will aber!« der Kleinen.

Dass die Welt überhaupt friedlicher, klimafreundlicher und toleranter wäre, ließe man Kinder und Jugendliche an die Macht, ist Ausdruck einer romantischen Hoffnung, die in der Infantilisierung die Erlösung sehen will. Die Realität spricht allerdings eine andere Sprache.

Ein Blick auf die verblüffenden Ergebnisse dieser Umfrage zeigt, wie sehr das reale Lebensgefühl der Generation der 16 – bis 29 – Jährigen sich von jenem Bild unterscheidet, das die Medien gerne von dieser zeichnen. Eine signifikante Zahl junger Menschen fühlt sich in erster Linie der Gaming – Szene verbunden. Der Schiller’sche Spieltrieb feiert im Zeitalter des Smartphones ungeahnte Triumphe. Vor allem bei Burschen ist Zocken zu einer Lebensform geworden. Mädchen und junge Frauen hingegen definieren sich eher über ihre Aktivitäten auf Instagram. Dass die intensive Nutzung digitaler Geräte die CO2-Bilanz zusätzlich belastet, schlägt dabei wenig zu Buche, denn die Jugend ist nicht besonders klimabewusst. Bei jungen Männern hat — ganz gegen den grünen Zeitgeist — die Motorrad – und Autoszene deutlich an Attraktivität gewonnen, und wenn den Nachwuchs etwas bewegt, dann die Sorge um die Ästhetik des eigenen Körpers. Fitness und die dazugehörigen Lebensstilprodukte florieren auch in Zeiten der Pandemie. Nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz identifiziert sich mit Fridays for Future, noch geringer ist der Anteil derjenigen, die sich in der LGBTQ + – Community wiederfinden. Immerhin: In Deutschland gibt es wenigstens kleine Gruppen, die sich zu Fahrrad und Veganismus bekennen, in Österreich liegen diese Szenen unter der statistischen Wahrnehmungsschwelle.

Die Idealisierung der Jugend ist ein Projektionsprojekt akademischer Eliten.

Jungsein ist kein Garant für Aufgeschlossenheit, Engagement, nachhaltiges Wirtschaften und weitsichtiges Denken.

Freiheit ist zu einem »konträren« Standpunkt geworden, der unter Rechtfertigungsdruck gesetzt wird.

Gerade an Universitäten, die die Freiheit von Forschung und Lehre noch irgendwo in ihren Satzungen verankert haben, macht sich ein Ungeist breit, der besorgniserregend ist. Der Ruf nach Vorschriften, nach Verboten, nach Regelungen des Sprachgebrauchs, nach Normierung von Leselisten, nach Verbannung aller Positionen und Meinungen, die einem vermeintlich unfehlbaren Zeitgeist widersprechen, wird dabei nicht von übergeordneten Instanzen autoritär vorgeschrieben, sondern er kommt von unten. Von der Basis. Von den Studenten. Von kleinen, aber lautstarken Gruppierungen.

Und dass jene, die ansonsten mit der Phrase »Wehret den Anfängen« schnell bei der Hand sind, hierzu schweigen und keine Anfänge sehen wollen oder können, stimmt auch nicht gerade zuversichtlich. Immanuel Kant hat in seiner kleinen Schrift über die Aufklärung angemerkt, dass es vor allem Faulheit und Feigheit sind, die die Menschen daran hindern, ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entkommen.

Unterricht auf das beschränken zu wollen, was später nützt, ist deshalb immer der falsche Ansatz. Niemand weiß, was später nützen wird.

Lehrer sollten sich ruhig dazu bekennen, dass sie einen Stoff anbieten, von dem vieles früher oder später wieder vergessen werden wird. Aber jeder Schüler wird anders und anderes vergessen. Und genau darum geht es.

Die Aufgabe der Politik besteht in der Ordnung des Gemeinwesens.

Dass Experten die besseren Politiker wären, war immer schon ein Irrtum. Die Technokratie ist keine Lösung, weil diese selbst einen verengten Blick auf die Welt darstellt.

Kultur bedeutet schlechthin, mehr zu wissen und auch anderes zu tun als das Notwendige.

Da kein Mensch weiß, was die Zukunft bringen wird, ist es schlechterdings verantwortungslos, dieses Unwissen zum Maßstab und zur Zielvorstellung für die Formen und Inhalte des Unterrichts zu machen. Das führt nur zu Scharlatanerie und falschen Propheten.

Das Geld, das in manchen Ländern im Bildungsbereich an allen Ecken und Enden fehlt, ist plötzlich da, wenn es darum geht, Großaufträge an die entsprechenden Industrien und Konzerne zu vergeben, die ja nicht nur die Geräte, sondern gleich auch die Programme dazu liefern — auch eine Form der Privatisierung des Wissens.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es manchen nicht schnell genug gehen kann, bis die jungen Menschen jede Form des Denkens, Fühlens und Handelns, die nicht von den Algorithmen der Internetkonzerne bestimmt ist, nicht nur ver-, sondern erst gar nicht gelernt haben und dadurch in jeder Hinsicht von ihren Geräten abhängig werden: digitale Drogen, nun auch staatlich verordnet.

Zur Bildung eines Menschen nur zwei Dinge nötig sind: Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen.

Niemand möchte ausschließlich in einer prädigitalen Welt leben. Das wäre auch unsinnig. Doch wer sich nur im Digitalen bewegt, hat auch aufgehört zu leben.

Einem unbefangenen Beobachter fiele doch weniger ein Machtrausch als vielmehr eine geradezu verblüffende Hilflosigkeit auf, die das politische Handeln europaweit kennzeichnet..

Die oft gestellte Frage, was das Virus mit uns und der Gesellschaft, in der wir leben, macht, war immer schon falsch formuliert. Richtig müsste sie lauten: Wie reagieren wir auf die pandemische Bedrohung? Eine naheliegende, aber selten gegebene Antwort wäre: Wir sind gekränkt. All das, was die moderne Gesellschaft angesichts einer Pandemie durchmachen musste, war in ihrem Fortschrittsprogramm nicht vorgesehen. Dieses orientierte sich an Parametern wie Wachstum, Beschleunigung, Optimierung, Sicherheit, Offenheit und Austausch. Seuchen gab es höchstens in Weltgegenden, die weder die europäischen Hygiene- und Gesundheitsstandards noch das unbedingte Vertrauen in eine aufgeklärte Wissenschaft kannten. Dass ein Virus die Dynamik einer technologisch hochgerüsteten Gesellschaft bremsen, ja außer Kraft setzen kann, überstieg unser Vorstellungsvermögen.

Mit Recht ist angemerkt worden, dass wir dem Virus lange nichts anderes entgegenzusetzen wussten als jene Maßnahmen, die schon die Seuchenbekämpfung des Mittelalters gekennzeichnet hatten: Absonderung, Kontaktvermeidung, Desinfektion. Schlimmeres, als in solch finstere Zeiten zurückgestoßen zu werden, kann einer Zivilisation, die überzeugt davon ist, technisch und moralisch alle vergangenen Epochen überflügelt zu haben, nicht passieren.

Eine gekränkte Gesellschaft ist eine trotzige Gesellschaft.

Die Krise offenbarte, dass viele ihre individuelle Freiheit ohne jenen politischen und sozialen Rahmen denken wollen, der diese überhaupt erst ermöglicht.

Die gekränkte Gesellschaft ist eine zögerliche Gesellschaft. Es liegt im Wesen einer Pandemie, dass sie nur durch rasches und koordiniertes Verhalten bekämpft werden kann. Darin gründet die viel beklagte Zunahme staatlicher Macht. Die dagegen ins Spiel gebrachte Selbstverantwortung war allerdings immer schon eine Ausrede für politische Unentschlossenheit.

Politisches Handeln bedeutet immer, Komplexität zu reduzieren — auch in einer Demokratie. Wer dies tut, egal, in welcher Weise, macht sich angreifbar. Das Wesen der Reduktion besteht darin, Aspekte zu vernachlässigen, die dann locker als Gegenargument starkgemacht werden können. Dogmatiker haben es einfacher. Sie verkünden Wahrheiten, die keine sind. Doch man kann daran glauben. Die gekränkte Gesellschaft ist eine ungeduldige Gesellschaft. Sie kann nicht warten. Und sie hat schon lange auf den Verzicht verzichtet.

Vorübergehende Einschränkungen werden deshalb nicht als Unannehmlichkeiten wahrgenommen, sondern als dramatische Einschnitte. Bei der ersten Gelegenheit macht man dort weiter, wo man aufgehört hat, und verlängert damit genau jene Misere, der man entkommen möchte. Von der gerühmten Resilienz, die vor Corona als neue Modetugend propagiert worden war, ist kaum etwas zu spüren.

Die gekränkte Gesellschaft ist eine gespaltene Gesellschaft.

Doch die These von der gespaltenen Gesellschaft ist selbst Ausdruck einer medial verzerrten Wahrnehmung. Tatsächlich öffnen sich die spektakulärsten Gräben an den Rändern der Gesellschaft, nicht in deren Mitte, wie gerne behauptet wird. Die Lautstärke, mit der sich Minderheiten dank der sozialen Medien bemerkbar machen können, nützt jenen, die als Querdenker die Kraft einer Opposition simulieren, der in der Realität wenig entspricht.

Es kommt nicht darauf an, was die Dinge mit uns, sondern was wir mit den Dingen machen.

Nahezu alles, was das Leben und Denken der Menschen heute zu bestimmen scheint, wirkt übertrieben. Das trifft die Hoffnungen und Erwartungen ebenso wie die Ängste und Befürchtungen. Nach Corona, so lasen wir vor noch nicht allzu langer Zeit, wird alles anders werden. Oder nichts wird mehr so sein wie zuvor.

Der bescheidene Hinweis, dass man aus Einzelfällen nicht vorschnell verallgemeinernde Schlüsse ziehen sollte, gilt bereits als Kollaboration mit dem Feind. Wer differenziert, abwägt, nach Angemessenheit strebt, gilt als Verharmloser, Verräter oder Vertreter des Bösen in der Gesellschaft.

Wenn es um alles geht, ist auch alles erlaubt. Auf das Fehlverhalten von Staatsorganen mit rechtsstaatlichen Mitteln zu reagieren, gilt mittlerweile als anrüchig. Krawalle, Ausschreitungen, Attacken und Plünderungen müssen es schon sein, um auf vermeintliches Unrecht aufmerksam zu machen.

Natürlich können Übertreibungen sinnvoll und legitim sein. Um etwas zu erkennen, müssen Begriffe geschärft, Gedanken zugespitzt, Konturen durch Überzeichnung verdeutlicht werden. Als kunstvoll eingesetzte rhetorische Figur mag die Übertreibung manches Vergnügen bereiten, und nicht zuletzt kommen die Satire und die Karikatur nicht ohne sie aus. Das Unangenehme an den Übertreibungen der aktuellen Diskurse liegt in dem Anspruch, damit eine politische Wahrheit zu verkünden.

Warum ist das so? Warum werden alle Debatten, ob über den Rassismus oder das Klima, über das Virus oder den politischen Auftrag der Kunst, sofort hysterisch zu einem Entweder-oder stilisiert, das keine Zwischentöne mehr kennen darf. Je mehr von Diversität die Rede ist, desto einförmiger wird das Denken.

Der Klimawandel wird sich hingegen schleichend bemerkbar machen und im schlimmsten Fall zu Konflikten führen, die aus der Vergangenheit bekannt sind: erbitterte Kämpfe um Ressourcen, Wanderungsbewegungen in Richtung lebenswerter Zonen, asketische Übungen, die man den Schwächeren so lange auferlegt, bis diese sich zu wehren beginnen, Machtkämpfe um Privilegien und Ausgleichszahlungen, Kriege und Bürgerkriege. Möglich, dass es unter verschärften klimatischen Bedingungen weniger Menschen geben wird, aber es wird Menschen geben. Anstatt den Kampf um die Biosphäre religiös zu verklären, aktionistisch zu instrumentalisieren und moralisch zu kontaminieren, sollte man sich nüchtern auf solche Szenarien einstellen und seine Chancen abwägen. Gerade wenn man barbarische Zustände vermeiden will, muss man angesichts der weiteren Entwicklung auf vieles vorbereitet sein. Alles zu unternehmen, um die globale Erwärmung zu verlangsamen, ist das eine; alles zu tun, um die sozialen Folgekosten dieser Anstrengungen abzufedern, das andere; alles zu versuchen, um die nicht mehr abzuwehrenden Folgen des Klimawandels durch Technologie, Innovationskraft und Verhaltensänderungen gering zu halten, ein Drittes.

Trost kommt, wie so oft, von Karl Marx: »Die Menschheit stellt sich immer nur Aufgaben, die sie lösen kann.«

Unter rechtsstaatlichen Verhältnissen stellt ein Notstand für ein Gemeinwesen eine punktuelle, unvorhergesehene und höchst bedrohliche Ausnahmesituation dar, deren Bekämpfung die Verletzung von Bürgerrechten und die Schädigung von Menschen zugunsten der Abwehr einer größeren Gefahr in Kauf nimmt und legitimiert.

Der zwielichtige Status des Touristen wird nur den anderen zuerkannt, man selbst versteht sich, wo immer man sich auf der Welt auch gerade befindet, nie als ein solcher. Dass der Individualtourist als Scout fungiert, der dem Massentourismus den Weg bahnt, vergessen die Connaisseurs des alternativen Reisens meistens sehr schnell. Der Massentourismus verdeutlicht so ein Paradoxon, das moderne Gesellschaften insgesamt kennzeichnet: Das, was für wenige gut sein mag, wird zu einer problematischen Angelegenheit, wenn alle es anstreben. Die Anwendung des in der Ethik Immanuel Kants so hoch geschätzten Prinzips der Universalisierung als Kriterium für das Gute führt angesichts solcher sozialen Bewegungen glatt zu dessen Gegenteil.

Traut man den Worst-Case-Szenarien der Klimaforscher, droht nämlich kein plötzliches Ende intelligenten Lebens auf diesem Planeten, sondern eine sich zuspitzende Verschärfung von sozialen, politischen und militärischen Konflikten. Hungersnöte, Wassermangel, durch Umweltveränderungen bedingte Migrationsströme, Verteilungskämpfe. Kriege und Bürgerkriege sind aber nichts, was die Menschheit nicht kennt. Niemand wünscht sich das — aber es wäre nicht das erste Mal. Von solchen realpolitischen Konsequenzen lenkt die aufwühlende Predigt vom großen Ende ab.

Die immer radikaleren Aufrufe zum Handeln suggerieren, dass die Gefahr durch entschlossenes Auftreten rasch gebannt werden könnte. Offenbar hat man das Wesen des Klimas noch nicht ganz erfasst: Dieses nimmt sich Zeit — für alles. Klimapolitik ist eine Politik, die prinzipiell keine Aussicht auf raschen Erfolg hat. Und was geschieht eigentlich, wenn alle Klimaimperative hierzulande befolgt würden und man nach etlichen Jahren ernüchtert erkennen müsste, dass sich nichts verbessert, vieles womöglich verschlechtert hat, weil alle Anstrengungen durch eine demographische Entwicklung anderenorts zunichtegemacht wurden, die man nicht gewagt hatte zu thematisieren, als es dafür noch Zeit gewesen wäre? Auch das könnte dann ein schöner Schrecken sein.

Radikale Klimaaktivisten fühlen sich zunehmend an keine legalen Schranken mehr gebunden. Wer davon überzeugt ist, dass die Rettung des Klimas den Einsatz aller Mittel rechtfertigt, begibt sich auf gefährliches Terrain. Die Vorstellung, dass es so schlimm um uns bestellt sei, dass bei Protesten auf Rechtsstaat und Demokratie, auf eine funktionierende Infrastruktur sowie auf die Bedürfnisse von Menschen keine Rücksicht mehr genommen werden muss, enthält ein totalitäres Moment. Auch eine Ökodiktatur bliebe eine Diktatur. Es ist in einem politischen Sinn stets verhängnisvoll, ein Anliegen zu einer absoluten Größe zu stilisieren und damit alles andere, was Menschen bewegt, zu diskreditieren.

Wichtiger sind offene Diskurse, vernünftige Rahmenbedingungen für Verhaltensänderungen und innovative Ideen. Das Vertrauen in demokratische Institutionen wäre deshalb zu stärken, nicht mutwillig zu demontieren. Dogmatismus und aggressive Störaktionen verärgern auch Sympathisanten der Bewegung.

Bau einer Stadtautobahn zu demonstrieren. Der Klimawandel ist zum Deckmantel geworden, unter dem sich die unterschiedlichsten Interessen, Anliegen und Aktivitäten bis hin zum Rechtsbruch versammeln können. Und paradoxerweise dient das Klima als wohlfeile Entschuldigung für so manches Versäumnis.

Wenn alles dem Klima zugeschrieben werden kann, dann waren es eben nicht riskantes spekulationsgetriebenes Bauen, Flussbegradigungen, Bodenversiegelungen, Abholzungen und Monokulturen, die uns die sommerlichen Miseren bescheren. Die Bereitschaft, in jeder Naturkatastrophe den definitiven Beweis für den Klimawandel zu sehen, darf nicht die Einsicht blockieren, dass vieles aus unterschiedlichen Gründen falsch gemacht werden kann.

Abgesehen davon, ob es gelingen kann, den Temperaturanstieg in absehbarer Zeit tatsächlich zu verlangsamen oder gar zu stoppen, sollte man sich allmählich den Kopf über Strategien der regionalen Anpassung an veränderte klimatische Bedingungen zerbrechen.

Wir kämpfen heute nicht für etwas, das uns erstrebenswert erscheint, sondern gegen die Folgen dessen, was uns erstrebenswert erschienen war: Industrialisierung und Mobilität für alle.

Verzichten wir einfach auf Wertedebatten. Es genügt doch, Menschen, die nach Europa wollen, die Rechtsordnung der europäischen Gesellschaften klarzumachen und sie auf die damit verbundenen Ansprüche, aber auch auf die daraus resultierenden Pflichten zu verweisen. Im Namen von Werten, die heute so, morgen anders aussehen können, diese Rechtsordnung tendenziell außer Kraft zu setzen, ist leichtfertig.

Das Klima markiert die neue Gretchenfrage der Moral, die Produktion von CO₂ wurde zum neuen, leicht quantifizierbaren Maßstab für Gut und Böse, der ökologische Fußabdruck definiert den moralischen Status eines Menschen heute. Religiös angehauchte Begriffe wie Klimaschützer und Klimaretter, Klimaleugner und Klimasünder begleiten und verdeutlichen diese Entwicklung.

Die Moralisierung politischer Konflikte hat große Vorteile. Sie erspart die Auseinandersetzung. Moral ist schlechthin durch den Gegensatz von Gut und Böse gekennzeichnet, und mit dem Bösen diskutiert man nicht. Ist es einmal gelungen, die eigenen Interessen und Ansprüche als moralisch gut zu klassifizieren, geht es nur noch darum, das Böse, das sich in den Vorstellungen der anderen manifestiert, mit allen Mitteln zu bekämpfen. Dass das Eintreten für das Gute zudem auch ein ruhiges Gewissen und das wunderbare Gefühl der moralischen Überlegenheit verschafft, kann als willkommener Bonus dieser Strategie verbucht werden.

Wer sich auf der Seite des Guten wähnt, muss nicht mehr argumentieren. Es genügt, sich über diejenigen zu entrüsten, die sich dem Guten widersetzen. Denen unterstellt man dann auch weniger andere Sichtweisen als vielmehr böse Absichten. Eine Kontroverse ist nicht mehr möglich.

Der Eindruck gesellschaftlicher Mobilität als neue Normalität wird von einer kleinen Gruppe forciert, die ihre Lebensform irrtümlicherweise für ein allgemeines Phänomen hält. Die meisten Menschen auf dieser Erde bewegen sich nämlich nicht, bleiben ein Leben lang in der Region, in der sie geboren wurden. Alles andere wäre übrigens undenkbar. Mobilität in jeder Form lebt von einem antikantischen Imperativ: Wir können uns bewegen, weil alle anderen bleiben. Die Staus auf den Autobahnen zu Urlaubszeiten geben ja nur eine Ahnung davon, was geschähe, setzten sich wirklich einmal alle in Bewegung.

Die Lust an der inflationären Verkündigung zusätzlicher Rechte korrespondiert mit einem fatalen Hang zu einer neuen selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Aus dem Recht der Bürger, nach ihrem Glück zu streben, wurde längst die Pflicht des Staates, für dieses Glück zu sorgen.

Die Einsicht, dass es keine Rechte ohne Pflichten gibt, wird heute ziemlich einseitig interpretiert: Die Rechte des einen sind jedoch stets die Pflichten des anderen. Wenn ich das Recht habe, nur mit moralisch einwandfreien Produkten versorgt zu werden, haben andere die Pflicht, dies sicherzustellen. Hinter manchen Forderungen steht deshalb der unbewusste Wille, Verantwortung einfach abzuschieben.

Schon Immanuel Kant hat lakonisch darauf aufmerksam gemacht, dass man von niemandem verlangen kann, die »Wahrheit« zu sagen, da sich diese so leicht einfach nicht eruieren lässt. Bestenfalls kann man »Wahrhaftigkeit« einfordern.

Je klarer wir zwischen Gut und Böse unterscheiden können, desto offener werden wir für diesen Hass. Nicht der Hass ist schlimm, ein Laster, Ausdruck eines üblen Charakters oder einer defizitären Persönlichkeit, sondern das Objekt des Hasses wird zu etwas Verwerflichem erklärt, das die Entstehung und Artikulation dieses so heftigen wie negativen Affekts legitimiert. Deshalb gilt: Böse ist immer nur der Hass der anderen, der eigene Hass ist gut, denn er richtet sich gegen das Böse. Werden wir selbst zum Ziel eines Hassgefühls, empfinden wir dies zu Recht als Angriff auf unsere persönliche Integrität; als Hassende jedoch beanspruchen wir, das von uns als »böse« Erkannte in die Schranken zu weisen, zu verfolgen, zum Schweigen zu bringen und, wenn es gar nicht anders geht, zu vernichten.

Den Hass zu neutralisieren wird nur gelingen, wenn uns klar wird, wie tief wir in dieses Gefühl gerade dann verstrickt sind, wenn wir uns frei davon wähnen.

Wehret den Anfängen! Kaum eine Floskel wird — und dies nicht nur im Zusammenhang mit dem Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs — so gerne gebraucht wie diese. Um zu verhindern, dass sich Schlimmes wiederholt oder Verhängnisvolles unbemerkt zu wuchern beginnt, ist höchste Wachsamkeit geboten. Beim ersten Anzeichen, dass die Dinge in eine problematische Richtung laufen, muss eingegriffen werden. Dieses Mantra klingt gut und hat lediglich den Nachteil, von der Wirklichkeit stets aufs Neue widerlegt zu werden.

Die vorausschauende Klugheit hat es schwer: Sie weiß nicht, was geschehen wird. Im Getriebe der Gegenwart ist kaum auszumachen, was wirklich zukunftsträchtig ist. Mit der Pandemie, so konnten wir es seinerzeit lesen, beginnt eine neue Epoche der modernen Zivilisation. Welch ein Irrtum! Hegel hat darauf aufmerksam gemacht, dass wir erst dann wissen, wann etwas begonnen hat, wenn dieses zu einem Ende gekommen ist.

Da das Handeln von Menschen keiner naturgesetzlichen Determination unterliegt, lässt sich schwer abschätzen, welche unserer Entscheidungen im Nachhinein einmal als Anfang einer positiven oder negativen Entwicklung gesehen werden.

Machen wir uns nichts vor: Wir haben keine Ahnung. Wir können bestenfalls das tun, was wir im Moment für richtig halten, und hoffen, dass wir dabei weder ideologisch verblendet noch gutgläubig oder befangen sind. Ob wir durch unsere Taten eine verhängnisvolle Eskalationsspirale der Gewalt gerade noch rechtzeitig gestoppt haben oder sehenden Auges in eine Katastrophe geschlittert sind, werden wir erst im Nachhinein erfahren. Wir sollten deshalb aufhören, so zu tun, als hätte man immer alles voraussehen können.

Nach dem Ende des Kalten Krieges tat man so, als könne man die Gefahr eines nuklearen Schlagabtausches in die Geschichtsbücher verbannen. Das war ein Irrtum.

Das Gleichgewicht des Schreckens, das bisher einen Dritten Weltkrieg, wenn auch manchmal nur äußerst knapp, verhinderte, setzt voraus, dass bei allen Akteuren ein Minimum an Rationalität vorhanden ist, das es verbietet, alles Leben auf diesem Planeten zu vernichten. An die Vernunft des Menschen zu glauben und sich dieser auf Gedeih und Verderb auszuliefern, ist jedoch höchst riskant.

In der aktuellen Debatte setzt sich überdies eine unselige Tendenz der letzten Jahre fort: Was nicht ins Bild passt, wird gecancelt.

Klar ist: Kein Staat kann ein Interesse daran haben, dass seine Integrität massiv bedroht wird. Diese sollte übrigens unabhängig von der politischen Verfassung respektiert werden. Doch das ist nicht alles. Kein Staat kann zum Beispiel ein Interesse daran haben, von seiner Energieversorgung abgeschnitten zu werden; kein Staat kann ein Interesse daran haben, eine ökonomische Schwächung und damit Verarmung der Bevölkerung längerfristig hinzunehmen; kein Staat kann ein Interesse daran haben, in ein eskalierendes Kriegsgeschehen hineingezogen zu werden; kein Staat kann ein Interesse daran haben, zum Einsatzgebiet für nukleare Waffen zu werden. Bei all dem dürfen wir aber auch jene Lobbys nicht vergessen, die an jedem Krieg ein Interesse haben, weil sie zu den Profiteuren zählen werden.

Doch es gehört zum Ernst der Lage, dass es in dieser keine richtigen, sondern nur noch höchst riskante Entscheidungen geben kann.

In diesem Sinne haben Krisen tatsächlich ihr Gutes: Man erfährt etwas über die Hintergründe des Stücks, das gerade zum Besten gegeben wird.

Die Zeit nötigt uns zu einigen Einsichten in unangenehme Wahrheiten. Gewissheiten sind verlorengegangen, felsenfeste Überzeugungen verflogen wie ein Hauch im Wind. Wie es weitergeht, weiß niemand.