Auftakt bei Goethe: Mit allem haben wir gerechnet – aber damit?

Das Buch „Unberechenbar – Das Leben ist mehr als eine Gleichung“ von Harald Lesch und Thomas Schwartz bietet einige interessante Reflexionen zum Thema komplexe Systeme, Vorrat und Grenzen von Systemen. Hier einige Zitate als Anregung weiterzulesen:

Wie viel Unsicherheit, wie viel Unberechenbarkeit ertragen wir Menschen? Können wir diese Unsicherheit ausschalten? Wie können wir das Leben berechenbar machen, uns versichern und absichern? Gibt es die große Lebensversicherung – vielleicht sogar mit einer Rückversicherung? Und: Was passiert mit uns, was passiert mit der Welt, wenn wir alles zu berechnen versuchen?

Wenn wir von Souveränität sprechen, dann mehr im Sinne von Gelassenheit – wir müssen selbstverständlich auf Krisen entschlossen, zügig und trotzdem wohlüberlegt reagieren. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden dabei Fehler passieren, es werden Irrtümer entstehen, das ist menschlich. Wichtig ist es aber – und das gehört zur Gelassenheit und Souveränität –, diese Fehler und Irrtümer angstfrei und offen benennen zu können und zu dürfen. Einen Wissenschaftler, der sich nie irrt, gibt es nicht. Das ist eigentlich fast zu banal, um es hier zu erwähnen, in Zeiten weitverbreiteter Allwissensfantasien ist es jedoch ausnahmsweise angebracht, diese Banalität noch einmal ins Bewusstsein zu heben. Gelassenheit und Souveränität bedeuten, dass Fehler passieren können und dass sie passieren werden, dass aber zugleich vorausschauend agiert wird, dass man mit der Unberechenbarkeit von Fehlern rechnet.

Unsere Gesellschaft ist durch das Virus zutiefst gestört und getroffen, wesentliche Grundvollzüge, das gelernte Spiel von Distanz und Nähe, funktionieren nicht mehr.

Um noch einmal die Bayerische Biergartenverordnung zu zitieren: »Biergärten erfüllen wichtige soziale und kommunikative Funktionen, weil sie seit jeher beliebter Treffpunkt breiter Schichten der Bevölkerung sind und ein ungezwungenes, soziale Unterschiede überwindendes Miteinander ermöglichen. Die Geselligkeit und das Zusammensein im Freien wirken Vereinsamungserscheinungen im Alltag entgegen.«

Berechenbarer = beherrschbarer = besser. Das ist die Grundgleichung des Technikwahnsinns, und sie hat Auswirkungen auf alle Bereiche unseres Lebens.

Spezialisierung als ein Charakteristikum unserer Zeit führt auch zu einer mentalen Gettoisierung, einem Rückzug aus dem öffentlichen Raum in die Nische des Expertentums. Ich (Harald Lesch) habe ich mich vor nicht allzu langer Zeit mit einem Mann unterhalten, der an Quantencomputern baut und forscht. Der Quantencomputer ist der Stein der Weisen der Digitalisierung, mit dem Unterschied, dass wir tatsächlich bereits Splitter dieses Steins gefunden haben, seine vollständige Entdeckung kann also nicht mehr fern sein. Die Bundesregierung hat gerade erst ein Milliardenprogramm aufgelegt, um den Stein endlich zu fassen zu kriegen. Solch ein Computer, voll verwirklicht, wäre extrem schnell, und mit ihm wären Dinge möglich, die wir uns kaum vorstellen können. Die Rechenleistung einer solchen Maschine betrüge ein Vielfaches derer, die die heutigen besten Computer aufweisen. Außerdem wäre er fast »unknackbar«, d. h. man könnte Programme verwenden, die man nicht mehr manipulieren kann. Und wer den ersten Quantencomputer besitzt, könnte auf einmal das ganze Internet beherrschen. Ich fragte also diesen Spezialisten, wie er denn mit den Möglichkeiten dieser Technologie umgehe, wie er solch eine Verantwortung trage. Er antwortete knapp: »Ja, aber das ist doch Technik! Ich entwickle Technik – was die Leute dann damit machen, das geht mich nichts an. Darüber mache ich mir keine Gedanken.« Absurd. Als ob beides voneinander abgekoppelt werden könnte. Als ob die Verantwortung nicht einer der wichtigsten Aspekte bei der Entwicklung und Verwendung einer Technologie wäre, die gerade aus so abstrakten Wissenschaftsformen herrührt wie der Quantenmechanik oder der Relativitätstheorie.

Die Digitalisierung kann durchaus intelligente Lösungen bereithalten, beispielsweise für den Klimawandel, den wir Menschen wiederum verursachen. Nur: Auch dazu benötigt die Digitalisierung Energie, und zwar nicht wenig. Die Notwendigkeit, mit immer neuerer Technik für neue Technik Energie zu erzeugen, wird zu einem Kreislauf. Wir brauchen immer neue Technik, um Technik zu betreiben, zu kontrollieren und einzusetzen. Die Gefahr des technischen circulus vitiosus, also eines Teufelskreises der Technikabhängigkeit, ist absolut real.

Klar, ein Bauer in früheren Zeiten, dessen Pflug während der Ernte zerbrach, hatte auch ein massives Problem. Aber die tatsächliche nicht nur die gefühlte Abhängigkeit von Technik ist heute ohne Zweifel größer. Und diese Abhängigkeit macht sich an einem Phänomen besonders bemerkbar, das selbst kein technisches ist, sondern ein mentales: an dem völligen Ausblenden der Tatsache nämlich, dass Technik fehlerhaft sein kann und Maschinen nicht perfekt sind.

Fehler von Maschinen dienen dann sogar als Beleg dafür, dass man noch mehr Maschinen benötige, und zwar noch präzisere und damit bessere, weil der Mensch eben ein Mängelwesen sei und man nur durch mehr Technik dieser menschlichen Defizienz entgegentreten könne. Die Fehlerhaftigkeit der Maschine wird im Technikwahn also zum Beleg menschlicher Fehleranfälligkeit und umgekehrt: Aus der Fehlerhaftigkeit der menschlichen Natur ergibt sich geradezu zwangsläufig die Fehleranfälligkeit der Technik. Ein zweiter Trick besteht darin, die Fehler der Maschine zwar einzugestehen, aber dann zu erklären, dass Maschinen besonders schnell lernen und nichts vergessen würden. Schnell bedeutet hier übrigens gut. Tatsächlich ist die Fehleranfälligkeit der hochdifferenzierten Technologie inzwischen faszinierend klein. Sie wird allerdings dann wieder groß, wenn sie entsprechend skaliert wird. Ein Beispiel: Vor einiger Zeit wurden am Berliner Südkreuz Geräte zur Verhaltens- und Mustererkennung eingesetzt, wahre Wunderwerke moderner Technik. Die Fehlerquote lag bei weniger als einem Prozent, Jubel brandete auf, quer durch Politik und Wissenschaft. Multipliziert man allerdings dieses Ergebnis mit den 100.000 Passanten, die im Bahnhof Südkreuz jeden Tag ein-, aus- und umsteigen, so ergibt dieses eine Prozent bereits 1000 Fehler, worauf ein Kommentator hinwies. Multipliziert man diese Fehlerquote nun mit der Gesamtzahl der Bahnfahrgäste pro Tag – und vor der Corona-Krise waren das über 30 Millionen –, so steht dort auf einmal eine horrend hohe Zahl als reale bzw. nominale Fehleranzahl, nämlich 300.000. Das einzelne Gerät oder die einzelne Maschine an sich mag also relativ genau funktionieren und in diesem Sinn vielleicht sogar »besser« als der Mensch. Aber es kommt immer auf den Kontext und auf die Skalierung an. Schaut man mit dieser Perspektive auf die Fehlerhaftigkeit von Maschinen, kann das Ergebnis ernüchternd sein: Es gibt keine absolute Berechenbarkeit bei der Technik, auch nicht im Zeitalter 4.0.

Technologie richtig und damit verantwortungsbewusst eingesetzt, birgt viele Vorteile. Entscheidend ist aber einerseits, dass nicht plötzlich, wie oben beschrieben, das »Unfehlbarkeitsdogma der Technik« ausgerufen wird. Andererseits sollten wir uns stets bewusst sein, dass der Technikwahn nichts anderes ist als das, was wir in diesem Buch das »Karussellprinzip« genannt und ausführlich beschrieben haben: Der ungebrochene Glaube an ein Höher, Schneller und Weiter.

Der Begriff der Disruptiven Innovation oder Disruptiven Technologie, also einer Technologie, die die Erfolgsserie einer bereits bestehenden Technologie nicht etwa fortsetzt und ergänzt, sondern abbricht und ersetzt, treibt das im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spitze.

Die Up-to-date-Kultur ist Ausdruck einer Gesellschaft, die süchtig ist nach Disruption, nach Zerstörung und Ablösung, manchmal nur um der Disruption willen – die Entfremdung durch Beschleunigung im Sinne von Hartmut Rosa lässt grüßen. Diese Entfremdung geht mit einer Verselbstständigung der Technologie und einer immer größeren Abhängigkeit des Menschen von der Technologie einher. Ein Einzelner kann bei komplexen Technologien die Vorgänge gar nicht mehr begreifen oder gar überschauen. Und das gilt grundsätzlich: Je enger ein System geknüpft wird, je enger die Verbindungen in einem komplexen System werden, desto schneller müssen die Reaktionszeiten sein. Je weiter sich also ein System entwickelt, desto kürzer muss die Response Time werden – und umso mehr gewinnt die maschinelle Kontrolle an Bedeutung. Doch was passiert, wenn beispielsweise beim Flashtrading, einer extrem schnellen Form des automatisierten Börsenhandels, ein Rechner kurz einen Softwarefehler hat und das Ganze implodiert? Der Mensch kriegt das nicht mit, weil er erstens in den Prozess nicht mehr einbezogen ist und er zweitens diesen Fehler auch kaum noch nach – und erst recht nicht mitvollziehen kann. Dann gilt das »Unfehlbarkeitsdogma der Technik«, das den Fehler beim Menschen sucht und deshalb nach besseren, also berechenbareren und damit nichtmenschlichen Lösungen ruft. Diese Problematik wird sich durch die Künstliche Intelligenz noch zuspitzen – ein warnender Hinweis dazu stammt ausgerechnet von Alan Turing, einem der Pioniere der Computerforschung und legendären Kryptoanalytiker: »If a machine is expected to be infallible, it cannot also be intelligent.«»Wenn wir von einer Maschine Unfehlbarkeit erwarten, kann sie nicht auch noch intelligent sein.« Was Turing damit sagt, ist direkt gegen das »Unfehlbarkeitsdogma der Technik« gerichtet und völlig berechtigt. Maschinen sind nicht unfehlbar – und dies zu antizipieren und sein Handeln daran zu messen, genau das bedeutet Verantwortung. Verantwortung in diesem Sinne ist ein zentraler Begriff der Technisierung, und sie ist, ob nun im Zusammenhang mit der Technisierung oder in anderen Bezügen, in Theater oder Dichtung – und der Ethik sowieso – oft und eindrucksvoll dargestellt und thematisiert worden.

Die Geister, die wir jetzt rufen, können sich noch viel quälender und schrecklicher auf unsere Nachkommen auswirken als auf unsere Gegenwart.

Die Vielfalt der Möglichkeiten, die uns die Digitalisierung schenkt, bedeutet in anderen Bereichen unseres Lebens auch einen Verlust an Vielfalt – und eine Vereinheitlichung der Welt.

Quantität ist messbar, Qualität bemisst und hat etwas mit Bewertung zu tun. Das heißt nicht, dass man das, was man gemessen hat, nicht auch bewerten kann. Doch Quantitäten sind Dinge, die man auf irgendeine Weise zählen, in mathematische Relation bringen, in Gleichungen einsetzen kann.

Die Komplexität unserer Welt basiert wesentlich auf den angedeuteten Beziehungen, Prozessen und Qualitäten.

Früher bezeichnete man Lager und Rücklage als Vorrat. Dafür gab es einen eigenen Raum im Haus: die Vorratskammer oder den Vorratskeller. Am Fehlen der Vorratskammer wird ein Problem augenfällig, das nicht nur spezifisch für das Streckengeschäft ist, sondern sehr grundsätzlicher Natur. Wir kennen es unter dem sehr plastischen Begriff: »auf Kante genäht«. Heute ist alles auf Kante genäht. Eine Vorratskammer ist in unseren Häusern und Wohnungen nicht mehr vorgesehen, geschweige denn ein Vorratskeller. Nichts im oder auf Lager zu haben, das bedeutet, über keinen Vorrat zu verfügen. Ein voller Vorratskeller, das ist toll, wenn Wein darin altert oder Zigarren vor sich hinschlummern. Ansonsten sind die Vorratskeller in vielen Bereichen aus der Mode gekommen. Vorräte anlegen, das war einmal. Man lebt im Moment, holt sich jeden Tag alle benötigten Dinge oder bestellt über Nacht. Nichts spricht dagegen, das Gemüse frisch vom Markt zu holen und damit den lokalen Handel zu stärken, im Gegenteil. Im übertragenen Sinne ist das Aus der Vorratskammer jedoch durchaus ein Problem. Früher gab es die Speis, die Speisekammer, es konnten ja mal schlechte Zeiten kommen. Ohne Speis keine Speise. Und was, wenn wir wirklich alles nur noch »just in time« wollen? Wenn alles »on point« sein muss, nicht nur das Fleisch oder unser Gemüse, sondern wirklich alles, auch Essenzielles? Diese Frage wirft uns mit aller Wucht in die Gegenwart, denn unsere Gegenwart ist bestimmt von einem Leben allein im Moment – nicht in der Zukunft, erst recht nicht in der Vergangenheit. Wer sich an schlechte Zeiten erinnert, legt möglicherweise Vorräte für zukünftige Flauten oder Notsituationen an. Wer aber nur im Moment lebt, der lebt geschichtsvergessen und zukunftsblind. Für eine gewissen Zeit kann das funktionieren, und es hat den großen Vorteil, dass es den Moment so herrlich unbeschwert macht.

Verschwunden sind all die lästigen Gedanken oder düsteren Erinnerungen. Man muss genießen und die Augenblicke auskosten, man muss auch im Hier und Jetzt leben können. Gerne wird in diesem Zusammenhang der Dalai Lama mit seinem berühmten Spruch zitiert: »Lebe dein Leben heute. Gestern ist vorbei. Und morgen noch nicht da.« Das ist nicht verkehrt. Aber angewandt auf eine ganze Gesellschaft funktioniert das nicht. Es kann nicht funktionieren. In der Corona-Krise haben wir die Abhängigkeiten des Just-in-time-on-point-Diktums mit aller Wucht wahrgenommen, wahrnehmen müssen. Das Agieren bestimmter Branchenriesen, nach deren Parametern sich entscheidet, was geliefert wird und was nicht, hat sowohl Produzenten als auch Konsumenten die ganze Abhängigkeitskeule einer auf Kante genähten Wirtschaftsordnung spüren lassen. Das Vertrauen darauf, dass es eine Mobilitätsgarantie gibt, dass ich alles, was ich zum Leben brauche, just-in-time haben kann – und das heißt heute meistens innerhalb eines Tages –, ist ein Versprechen des Konsumismus und der Globalisierung, der neoliberalen Globalisierung aller Märkte. Dieses Versprechen wird durch radikales und tatsächlich globales Outsourcing gehalten. Durch ein Outsourcing in alle Welt – um Kosten zu sparen und effizienter zu werden. Aber damit diese Prozesse wie geschmiert laufen können, muss diese Maschinerie gut geölt sein. Doch jede Maschine benötigt auch einmal eine Wartung, jede Maschine ist irgendwann einmal so weit, dass sie nicht mehr funktioniert. Und dann? Wenn wir in solchen Momenten nicht sofort über einen entsprechenden Ersatz verfügen, kann ein Zustand eintreten, der völlig unberechenbar ist. Die Berechenbarkeit und Sicherheit des Streckengeschäfts und des Just-in-time-Versprechens sind – das lässt sich gerade in solchen Situationen erkennen – nur vorgegaukelt, die Unberechenbarkeit der Realität selbst kann nicht outgesourct werden. In den Corona-Tagen haben wir diese Unberechenbarkeit und ihre Folgen am eigenen Leib zu spüren bekommen. Sehr viel war plötzlich überhaupt nicht mehr just-in-time da. Plötzlich waren viele Sachen nicht mehr vorrätig, und wir konnten sie nicht mehr innerhalb weniger Stunden beziehen. Die Mobilitätsgarantie wurde in ihrer ganzen Vorläufigkeit und Zerbrechlichkeit entlarvt. Zugleich mussten wir ein anderes Phänomen erleben, das Gegenteil des vernünftigen Lagerns: Hamsterkäufe. Hamsterkäufe als Ausdruck von Angst und Egoismus, das Toilettenpapier als Sinnbild der Krise. Wer sich das Bad mit Toilettenpapier vollknallt und sich auch noch darüber freut, der Oma oder der alleinerziehenden Mutter die letzte Packung weggeschnappt zu haben, der hat von dem richtigen und wichtigen Anlegen eines Vorrats nichts kapiert. Wer nur die Gleichung Vorrat = Vorteil kennt – womit natürlich der eigene Vorteil gemeint ist –, der vergeht sich am gemeinsamen Vorrat, der stiehlt gewissermaßen aus der gesellschaftlichen Vorratskammer.

Nachhaltiges und achtsames Sammeln von Vorräten bezieht immer den Zweck, die Verhältnismäßigkeit, das Umfeld und die Konsequenzen mit ein. Vorräte anzulegen oder auch nur darauf zu achten, genug von allem Lebensnotwendigen zu haben, ohne zu hamstern, das bedeutet, Reserven zu schaffen.

Reserven für das Alter oder auch nur für eine Krisensituation anzulegen, das ist für viele unmöglich. In der Corona-Krise haben wir das mit der Wucht und Dramatik der uns alle berührenden Bilder erlebt.

Das ist, was wir in einer Gesellschaft ohne Reserven erleben. In einer Gesellschaft ohne Reserven locken in der Krise einige wenige alle anderen aus der Reserve.

Reserven anzulegen bedeutet auch, einen Blick für Ressourcen zu entwickeln. Wir müssen wissen, was wir haben, wie viel wir verbrauchen können und was wir möglicherweise nicht mehr bekommen.

Beispiel: Die Deutschen verbrauchen je nach Berechnung pro Tag und pro Haushalt ungefähr siebzehn Kilowattstunden Strom. Wer zehn Stunden am Tag geradelt ist, hat damit gerade mal eine Kilowattstunde produziert. Das heißt, jeder von uns braucht jeden Tag noch einmal 16 andere Menschen, die für ihn die Kilowattstunden bereitstellen, die er verbraucht.

Just-in-time-Konzepte sind etwas für Betrunkene, nüchtern betrachtet sind sie Sklavenkonzepte. Die Vorstellung, öffentlich finanzierte Infrastruktur bis über ihre Belastungsgrenzen hinweg für den privaten Dauertransport zu nutzen, der nichts anderes ist als ein von allen geduldetes mobiles Lager auf öffentlichen Plätzen und Straßen, ist nachgerade abenteuerlich.

Wer in einer Runde einmal beginnt, solche katastrophalen Entwicklungen zu thematisieren, trifft oft gerade bei Angestellten und Arbeitern auf Gegenargumente, die von ausgesprochen unternehmerischem Denken geprägt sind. Und das ist merkwürdig, denn gerade diejenigen, die ausgenutzt und ausgenommen werden – schließlich sind es ihre monatlich abgezogenen Lohn – und Einkommensteuern, die dazu verwendet werden, öffentliche Infrastrukturen zu finanzieren –, gerade diejenigen nehmen die Position der Unternehmen ein. Ausgerechnet sie verteidigen diese merkwürdige Logik, Kosten zu sozialisieren und Gewinne zu individualisieren. Etwas Besseres kann den Giganten der Globalisierung gar nicht passieren.

Denn eine Gesellschaft, die Energie in erster Linie von außen bezieht – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne –, ist vom regelmäßigen und verlässlichen Nachschub abhängig. Bleibt der Nachschub aus, kommt es auf die Reserven an, die man angelegt hat. Gehen die zur Neige, hat man ein Problem – und andere auch.

Ressourcenknappheit ist eben nicht nur der Anfang effizienten und effektiven Wirtschaftens, sondern auch die Mutter aller Kriege. Deswegen hat unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem etwas Gewalttätiges an sich. Wer keine Vorräte anlegt und nicht auf Reserve schalten kann, der wird aggressiv.

Noch im 19. Jahrhundert waren die Frauen und Männer schlau genug, zu wissen: Alles, was wir verbrauchen und nicht wieder zurückführen, das ist weg. Und ausgerechnet in diesem 19. Jahrhundert wurde der zweite Hauptsatz der Thermodynamik entdeckt, der vereinfacht aussagt: Wenn du ein System allein lässt, wächst die Unordnung darin. Das heißt also, es wird schwieriger und schwieriger, aus den Abfällen, die wir durch Produktionsprozesse aller Art erzeugen, die Materialien wieder herauszulösen und voneinander zu isolieren, um sie dann wieder neu verwenden zu können. Und das bedeutet in der Konsequenz, dass wir immer mehr Energie benötigen, um die Unordnung zu beseitigen und die Ordnung im System aufrechtzuerhalten. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik könnte also ein wahrer Zaubersatz sein, der uns dabei hilft, nicht auf der Strecke zu bleiben. Wenn wir wollen, dass unser System in Ordnung bleibt, dann müssen wir schnell und konsequent handeln. Wir müssen endlich all unsere Anstrengung darauf richten, durch unseren ungesteuerten Ressourcenverbrauch nicht unser ganzes Ökosystem in immer größere Unordnung zu bringen und es damit derart zu destabilisieren, dass essenzielle Bedingungen für unser Weiterleben in höchste Gefahr geraten.

Um es einmal klar und unmissverständlich in Zahlen auszudrücken: Von unserem gesamten Energieverbrauch stammt gerade einmal ein Sechstel aus erneuerbaren Energiequellen. Wir verfahren, verheizen und verwandeln nach wie vor hauptsächlich fossile Ressourcen. Angesichts dieses Befundes von einer Energiewende zu sprechen, ist schon fast zynisch!

So wie wir später das »Lob der Grenze« anstimmen wollen, singen wir jetzt das »Lob des Vorrats«. Nachhaltigkeit bedeutet, Vorräte anzulegen, und zwar durch bewusstes Produzieren, durch achtsames Konsumieren, durch sorgfältiges Verbrauchen. Achtsamkeit für das zu entwickeln, was wir auf Vorrat legen, das ist nachhaltig, egal ob in der Wirtschaft oder in der Politik. Wer nachhaltig agiert, hat Vorbehalte gegen das Auf-Kante-Nähen. Mehr noch: Nachhaltigkeit ist Achtsamkeit gegenüber uns und unseren Kindern und Kindeskindern. Und auch im übertragenen, im existenziellen Sinn brauchen wir Vorräte und Speisekammern. Ohne innerliche Vorräte wird es schnell kalt und einsam, ohne sie kommen wir uns bald so vor wie ein Kühlschrank ohne Inhalt, gähnend leer, wir fühlen uns unbewohnt, wie es Herbert Grönemeyer so treffend in einem Lied beschreibt. Existenzielle und innerliche Streckengeschäfte machen uns abhängig von stetiger Belieferung, davon, dass immer Nachschub da ist. Was aber, wenn der Nachschub ausbleibt? Wenn niemand an der Wohnungstür klingelt, um den nächsten Eilauftrag abzugeben? Dann bleibt die Speisekammer leer und die innere Küche kalt. Und wir haben zukünftigen Generationen nichts aufgehoben. Wo keine Vorratskammer mehr da ist oder wo sie leer bleibt, hungert man aus. Das gilt für uns, es gilt aber auch für unsere Gesellschaft. Unser Wirtschaftsmodell macht uns nimmersatt und ewig hungrig. Deswegen kann eine übertriebene Streckengeschäftsmentalität auch auf unser inneres Leben übertragen werden. Wenn wir mit unseren Kindern nicht so umgehen, dass sie innere Energiereserven bilden, werden sie auf eine stete Zufuhr von außen angewiesen sein. Wer sich keine inneren, wer sich keine spirituellen Vorräte anlegt, kann in einer Krise schnell leer und hohl dastehen. Solche inneren Ressourcen sind Zuneigung, Aufmerksamkeit, Respekt, Liebe und viele andere mehr. Wir können sie auch Werte nennen, und sie müssen in unsere menschlichen Beziehungen und letztlich auch in unsere Seelen eingelagert werden. Der Gedanke hinter dem Streckengeschäft ist der, dass Dinge, die auf Lager liegen und sich nicht verkaufen lassen, abgeschrieben werden müssen. Sie sind nichts mehr wert, haben keinen Wert, sind wertlos

Was nicht unmittelbar konsumiert werden kann, ist wert- und bedeutungslos. Kein Wunder, dass in einer solchen Sichtweise alle Dimensionen unseres Lebens ökonomisiert werden. Wer nichts mehr leistet, verliert seinen gesellschaftlichen Wert und wird abgeschrieben. Eine Gesellschaft, die wie ein Streckengeschäft funktioniert, erkennt keinen Sinn in der Bildung von Reserven. Vorratshaltung gilt ihr als ineffizient und zwecklos.

Kultur ist von allem Anfang an geradezu untrennbar mit dem Anlegen von Wissensvorräten, mit dem Vorhalten von Erkenntnisreserven verbunden.

Je mehr Speicher und Reserven ein System besitzt, umso eher kann es verhältnismäßig reagieren und sich an neue Umstände anpassen und sich weiterentwickeln. Von der Natur lernen heißt überleben lernen! Haben wir den Mut, Vorräte anzulegen und anderen dabei zu helfen, Reserven zu bilden. Kümmern wir uns um unsere innere Speisekammer und halten wir sie gut gefüllt. Leben wir nicht nur just-in-time, sondern auch darüber hinaus und in andere Dimensionen hinein. Leben wir global und lokal und ziehen wir die Vorteile aus einem fein austarierten und fair ausbalancierten Streckengeschäft, das nichts Schlechtes an sich ist. Doch machen wir uns nicht zu Sklaven einer totalen Streckengeschäftsmentalität und Abschreibungskultur. Trauen wir uns zu, Dinge auf unser Lager zu legen.

Zahlreiche Studien haben den Zusammenhang von Auszeiten für das Privatleben und für Gesundheit und Muße und für Produktivität und Effektivität gezeigt. Die Human Resources sind nun einmal nicht unerschöpflich, sondern müssen regelmäßig aufgefüllt werden – etwas, was wir interessanterweise nicht nur bei uns, sondern auch bei der Natur gerne vergessen.

Mit der Physik lässt sich nicht verhandeln und mit elementaren Gegebenheiten unserer Welt und unseres Ökosystems auch nicht. Das Weltklima ist ein hochkomplexes System und reagiert selbst auf leichteste Störungen enorm sensibel. Diese Störungen wurden in den vergangenen Jahrhunderten immer massiver, und die Frage lautet nicht, wann dieses System instabil werden könnte, sondern, ob es das nicht schon längst ist.
Der Begriff der »Heißzeit« lässt grüßen. »Bitte, bitte«, werden jetzt sicher einige rufen, während sie die Augen über die ganze Ökohysterie verdrehen: »Dagegen gibt es doch wunderbare technische Möglichkeiten«. Nur fragt sich erstens, woher die Energie dafür kommen soll. Und zweitens schreitet die Erderwärmung unerbittlich voran und hat schon zum Spurt angesetzt. Während die Gletscher immer kleiner werden und verschwinden, steigt der Meeresspiegel, und immer häufiger erleben wir Wetterextreme. Dieses Faktum leugnet kaum noch einer. Aber die Ursache dafür wird infrage gestellt. Es ist so wie bei einem pubertären Kind, das einen Ball wild durch die Gegend schießt. Ein Fenster wird getroffen, doch angesichts des Sprungs in der Scheibe dreht sich das Kind schnell um und spielt pfeifend weiter. Wenn es darauf angesprochen wird, antwortet es nur: »Echt, ist da was? Ich war das nicht. Ganz bestimmt.« Kommt jemand mit einer Erklärung oder Beobachtung, dann stellt sich das Kind dumm. Hauptsache, nichts zugeben. Und bei der nächsten Gelegenheit wird wieder wild herumgebolzt. Ist ja nur ’ne blöde Scheibe, die kann man doch auswechseln. Doch die Erde ist keine Scheibe, und wir sollten endlich begreifen, dass wir sie nicht auswechseln können. Die Öko-Grenze unseres Planeten ist nicht verhandelbar. Trotzdem hat unsere Generation viel zu lange genau das versucht: verhandeln. Ein absolutes Versagen. Ein Versagen, das auf dem Leugnen der Tatsachen an sich, dem Leugnen von Kausalitäten beruht. Oder auf einer völligen Technikergebenheit. Gar keine Frage, es gibt fantastische Techniken, die wir auch einsetzen sollten. Und es ist beeindruckend, was der Mensch erfinden und konstruieren kann. Und wenn wir unseren Schöpfergeist nutzen sollten, dann gerade im Kampf für unseren Planeten und nicht gegen ihn. Noch wichtiger wäre es jedoch, die Grenzen unseres Planeten zu schützen: durch Grenzen, die wir uns selbst auferlegen. Wir müssten uns selbst rote Linien ziehen, um die rote Linie der Erde nicht zu überschreiten. Gerade davor haben politische Parteien Angst, denn sie wissen, dass man sie sofort als Verbotsparteien diskreditieren würde, und wer wählt schon eine Verbotspartei? Ermöglicher sind gewünscht, Gestalter. Dabei handelt es sich bei vielen der nötigen Begrenzungen weniger um Verbote als vielmehr um Gebote, Gebote der Stunde. Wissenschaftler haben errechnet, dass jeder Mensch pro Kopf und pro Jahr ein Kohlendioxidbudget von rund zwei Tonnen verbrauchen könnte – derzeit sind es im Durchschnitt zehn Tonnen. Wobei die Hauptverursacher vor allem in den reichen Staaten sitzen. Gerade dort könnte jeder Einzelne etwas tun: Warum immer den großen SUV im Stadtverkehr herummanövrieren? Warum nicht einfach etwas weniger Fleisch essen? Und es gibt etliche weitere Gebote, die hier gar nicht aufgeführt werden müssen, weil sie jeder schon einmal gehört hat. Viele können sie schon nicht mehr hören, weil sich einerseits niemand begrenzen will und andererseits jeder die vielen apokalyptischen und ideologischen Klagegesänge leid ist. Nur: Bei bestimmten Grenzen geht es nicht um Ideologie, sondern um Fakten und um Notwendigkeiten. Und die Grenze unserer Erde ist nicht nur ein Faktum, sie ist nicht nur eine Notwendigkeit, sie ist, um es mit Immanuel Kant zu sagen, die Bedingung der Möglichkeit, jeder Möglichkeit von Leben. Wer diese Bedingung nicht schützt, entledigt sich dieser Möglichkeit. Doch eigentlich entledigt er sich ihrer nicht selbst, sondern erleben und nichts lieber tun, als anderen wohlfeile Ratschläge zu geben. Das müssen wir uns doch nicht mehr anhören, oder? Leider doch. Denn leider scheint dieses Lied noch gar nicht oft genug gesungen worden zu sein, zumindest nicht laut genug, wird es doch noch immer äußerst erfolgreich überhört und übertönt. Um dies vorauszuschicken: Hier meldet sich keine Wachstumsfeindlichkeit per se zu Wort. Im Gegenteil, in bestimmten Bereichen darf es ruhig ein ordentliches und kontinuierliches Wachstum geben. Doch ähnlich wie beim menschlichen Wachstum existieren natürliche Hürden, irgendwann wird es ungesund.

Aber braucht man für notwendige Veränderungen – egal auf welcher Ebene und in welchem Bereich – nicht Leute, die genau das machen: Stacheln ertragen und sich die Finger schmutzig machen? Die braucht es. Weil genau sie es sind, die die Grenzen kennen, setzen und beachten. Führung, egal in welchem Zusammenhang, bedeutet, Grenzen zu kennen und sie bewusst zu setzen – den anderen und sich selbst. Doch um genügend Menschen für dieses Vorhaben zu gewinnen, müssen Fragen beantwortet werden. Fragen nach der Sinnhaftigkeit und Möglichkeit dieser Grenzsetzung. Aber auch sehr konkrete Fragen, die ins Detail gehen. Und es ist zu beachten: Die Frage nach der Wachstumsgrenze darf letztlich nicht nur Warnungen zur Folge haben, sie braucht auch Antworten auf eine ökonomisch formulierte Frage: Was kommt dabei heraus, wenn wir diese Grenzen akzeptieren? Was springt für uns heraus, was haben wir davon? An beiden Grenzen, der ökologischen wie der ökonomischen, zeigt sich ein Paradox: Einerseits können wir diese Grenzen anhand verschiedener Ursachen, Wirkungen und klarer Daten und Fakten berechnen. Beim Klimawandel beispielsweise geht es nicht um das Ob, sondern um das Wann, wenn nicht eher um das Wie bald. Zugleich stoßen wir auf Grauzonen, müssen auf Schätzungen und Annahmen zurückgreifen. Eine gewisse Unberechenbarkeit bleibt.

Wer nicht an seine Grenzen gekommen ist, ist nicht zu sich selbst gekommen. Seine Grenzen zu kennen, sie zu akzeptieren oder auch zu übersteigen, das bedeutet Identität. Nur wer sich in seinen Grenzen erfährt, erfährt seine Identität.

Ein Gemeinsinn, der Freiheit garantiert, braucht Grenzen. Freiheit an sich besteht darin, Grenzen zu kennen und anzuerkennen, das ist das Paradoxon der Freiheit.

Wir werden unweigerlich auf der Strecke bleiben, wenn es uns nicht gelingt, neue, alternative Wege zu finden, nicht erneuerbare Ressourcen zu sparen und gleichzeitig nachwachsende zu fördern. Die Rückkehr zur Vorratskammer, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, stellt dabei eine zentrale Notwendigkeit dar: Wir brauchen Vorratskammern – auch existenzielle. Wir müssen Dinge wieder vorrätig haben, wir müssen sie vorhalten und dürfen nicht alles auf die Strecke verschieben – und vor allem nicht alles auf weite Strecken.

Wir beide sind in einem Dorf aufgewachsen, und wir kennen auch die Schattenseiten des Dorfes. Das argwöhnische Beäugen, den Neid, die Enge, vor allem die Enge in den Köpfen. Und dennoch bietet das Dorf in vielerlei Hinsicht das, was jene Gesellschaft, in der wir leben wollen, auszeichnen sollte. Der große Vorteil von Dörfern oder von kleinen Städten sind die Wege. Denn die sind kurz. Aber nicht nur das. Entscheidender ist, dass wir auf diesen Wegen selten allein sind.

Das Dorfprinzip der kurzen Wege bildet etwas von dem ab, was unserer Gesellschaft manchmal fehlt: Relation und Personalität.

Wenn man Außenseiter ist, kann das Dorf Enge bedeuten, es kann sogar zum Sinnbild für Ausgrenzung und gesellschaftliche Stigmatisierung werden. Dieses Dorfprinzip meinen wir nicht. Was wir meinen, ist ein Dorfprinzip der kurzen Wege zueinander – emotional und ehrlich, kommunikativ und konkret helfend. Ein Prinzip der Komplexitätsreduktion, das sich durch eine Einfachheit auszeichnet, die auf den ersten Blick schnell mit Spießigkeit verwechselt werden kann. Durch ein Interesse, das auch in Voyeurismus umschlagen kann, das sei durchaus zugestanden.

Umso wichtiger wird es deshalb, Unberechenbarkeit von Unüberschaubarkeit zu unterscheiden und Berechenbarkeit von Überschaubarkeit. Überschaubarkeit bedeutet zum Beispiel, dass man den Überblick über einen gewissen Grad von Komplexität behält. »Überschaubar« heißt aber auch, dass man weiß, dass es Grenzen gibt, dass man Grenzen anerkennt. Überschaubarkeit impliziert deshalb auch ein menschliches Verhalten: »Pass auf, bis dahin kann ich blicken, da kann ich dir auch einen vernünftigen Rat geben – aber was dahinter kommt, und da kommt etwas dahinter, das kann ich nicht mehr sehen, nicht mehr überblicken.« Sich vorzugaukeln, man könne alles überblicken, wie das in manchen wirtschaftlichen oder politischen Belangen getan wird, erkennt die Unüberschaubarkeit, die sich hinter dem Überschaubaren verbirgt, nicht an – und auch nicht die Unberechenbarkeit. Zum dörflichen Charakter gehört deshalb auch ein bestimmtes Verhalten, in dem sich bemerkbar macht, dass man sein Dorf oder seinen Kiez – im wirklichen wie existenziellen Sinne – überschaut, das andere Dorf aber nicht mehr.

Damit sich Vertrauen bilden kann, braucht es Verlässlichkeit, Erwartungssicherheit, und es braucht Persönlichkeit und Personalität.

Es geht, um das noch einmal klar zu betonen, nicht um das Lob des Dorfes, sondern um eine Gruppe, ob es nun Gemeinschaft oder Community heißt. Sie muss eine überschaubare Größe haben, eine Nähe, die eine stärkere Relationalität zulässt, und sie muss vor allem Vertrauen ermöglichen, um damit eine neu ausbuchstabierte Nachbarschaft entstehen zu lassen.

Eine wichtige Facette des Spielens hat viel mit Freiheit und Freiraum zu tun, mit dem Unberechenbaren unseres Lebens. Ein Spiel gehorcht keiner Gleichung. Weder das Karten- noch das Würfelspiel. Wir lernen dabei die Improvisation und das Experiment. Wer spielt, der experimentiert. Experimente sind kein Privileg der Wissenschaft, sondern essenzieller Bestandteil des Lebens. Der Mensch ist deshalb nicht nur Mensch, wo und wenn er spielt, sondern auch wo und wenn er experimentiert. Das steckt hinter dem wunderbaren Ausdruck, dass jemand sich »ausprobiert«.

Es klingt wie eine Binsenweisheit, aber nur wer die Zeit erhält, Fehler zu machen, kann wachsen. Und daher braucht es Spielzeit und eine Gesellschaft, die Rückschläge und Niederlagen nicht verdammt, sondern ermutigt, dass auch danach das Leben weitergeht. Und die den Menschen im und durch das Spiel Mensch sein lässt – mit Schiller und Stepi im Ohr und im Gedächtnis.

Uneindeutigkeit ist einer der Schlüsselbegriffe unserer Zeit und die Sucht nach Eindeutigkeit eines der Schlüsselprobleme der Gegenwart. In seinem bahnbrechenden Werk »Die Vereindeutigung der Welt«, das den bezeichnenden Untertitel trägt: »Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt«, hat der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer das eindrucksvoll beschrieben.

»Ambiguität ist nur schwer und nie restlos zu beseitigen, ganz einfach aus dem Grund, weil es eine Welt ohne Ambiguität gar nicht geben kann. Es ist aber auch nicht einfach, einen Zustand der Ambiguität aufrechtzuerhalten, weil Menschen ihrer Natur nach nur beschränkt ambiguitätstolerant sind und eher danach streben, einen Zustand der Eindeutigkeit herzustellen, als Vieldeutigkeit auf Dauer zu ertragen.« Die Vieldeutigkeit ist aber zunehmend zum Makel geworden, und unsere Bereitschaft, Uneindeutigkeit zu akzeptieren, wird immer geringer. Gerade die Naturwissenschaften spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Doch gerade in den Naturwissenschaften hat sich in den letzten Jahren bei der Untersuchung von komplexen Systemen (der Stabilität von Strömungen in der Atmosphäre, der Anpassung von Lebewesen an neue Umweltbedingungen und dem Klimawandel) herausgestellt, wie empfindlich scheinbar ewig stabile Systeme sind, so empfindlich, dass sie auf einmal kippen können. Ein deutlicher Beleg dafür, dass die Welt nicht einfach eindeutig ist. Weshalb Uneindeutigkeit so entscheidend sein kann, kann man also gerade dann erkennen, wenn man sich mit physikalischen Systemen beschäftigt. Systeme, die uneindeutig sind, sind flexibel. Das ist gewissermaßen die Goldene Regel der Theorie der komplexen Systeme: Uneindeutigkeit bedeutet Möglichkeit, bedeutet, Optionen zu haben, Uneindeutigkeit ermöglicht es uns, Interpretationsspielräume zu besitzen, also Spielräume. Spielräume sind wiederum unsere einzige Chance, auf die Komplexität der Welt zu reagieren, ohne daran zu zerbrechen. Die Sucht nach Vereindeutigung und Vereinheitlichung, die mit einem Drang zur Normierung in vielen Bereichen einhergeht, beraubt uns dieser Spielräume und damit unserer Fähigkeit, flexibel auf die Komplexität der Wirklichkeit zu reagieren. Wo Kreativität fehlt, neigt man dazu, immer nur einheitliche Antworten auf Störungen oder Entwicklungen zu suchen, und meist findet man dann auch nur eine einzige.

Wenn man es einmal salopp, aber durchaus passend ausdrücken will, führt Vereinheitlichung in der Theorie der komplexen Systeme dazu, dass die Systeme immer starrer und damit härter und unflexibler reagieren, bis sie irgendwann brechen und kollabieren, und zwar komplett. Ein resilientes System, also ein widerstandsfähiges System, ist hingegen biegsam und beweglich, es hat lockere und vielfältige Möglichkeiten, Antworten auf äußere Störungen zu geben. Dabei verändert sich solch ein System selbst ständig, weil es auf Einflüsse reagiert. Das sehen wir in der Natur, das erleben wir aber auch bei uns selbst. Der Körper regelt sich normalerweise im Rahmen der natürlichen Schwankungen all unserer Lebensfunktionen, er reagiert auf diese verschiedenen Reize und verändert sich. In einem mechanistischen Weltbild, das von Normierung, Vereinheitlichung und vor allem von Vereindeutigung bestimmt ist, wird die Flexibilität und diese Fähigkeit zur vielfältigen und damit auch natürlicheren Reaktion genommen.

Die Sucht nach Eindeutigkeit und die von Thomas Bauer konstatierte Tendenz zur Vereindeutigung der Welt gehen einher mit dem Wunsch nach kontinuierlichem Fortschritt. Der Fortschrittsglaube, der in den letzten Monaten zumindest teilweise ganz gehörig ins Wanken geraten ist, sodass er für einige sogar ausgedient hat, hat gerade Forscher und Wissenschaftler immer wieder zu vorläufigen Antworten gezwungen (dies einzugestehen, könnte übrigens selbst wiederum einen großen Fortschritt darstellen!).

Das, was sich in der Vergangenheit abgespielt hat, ist der nicht zu bestreitende Ausgangspunkt der Gleichung. Selbst wenn man in der Gleichung die Zeit t auf null setzt, ist vorher etwas passiert und zwar definitiv. Man spricht von Anfangsbedingungen und Randbedingungen. Diese Bedingungen sind kontingent, sie sind möglich, aber nicht notwendig, sie können also so oder auch ganz anders sein. Aus naturwissenschaftlicher Sicht stellt man nun fest, dass dieses oder jenes Naturgesetz notwendigerweise so sein müsse, wie man es gefunden hat, weil es sich im Experiment entsprechend bestätigt habe. Nur: Das Experiment umschreibt lediglich eine sehr eingeschränkte Wirklichkeit, und zwar die des Labors, in dem man Störeinflüsse abschirmen kann.

Die Welt und unser Leben hängen immer von Bedingungen ab, die für uns im Letzten unberechenbar sind.

Lesch, Harald; Schwartz, Thomas. Unberechenbar (German Edition) (S.171). Verlag Herder. Kindle-Version.