Quelle: risknet.de (Auto Herbert Saurugg)

Die Ausbreitung des Coronavirus (SARS-CoV-2 / COVID-19) in Europa hat viele Menschen und Entscheidungsträger auf dem falschen Fuß erwischt. Die Experten sind noch auf der Suche nach Antworten, was das Virus und dessen Ausbreitung sowie Gefährlichkeit betrifft. Gleichzeitig wird von offiziellen Stellen beteuert, dass man alles im Griff habe. Die Menschen sind trotzdem verunsichert. Regale bleiben leer, weil die Logistik nicht schnell genug auf die gestiegene Nachfrage reagieren kann. Die Börsen reagieren heftig. Massive Kursverluste sind die Folge. Die tatsächlichen gesellschaftlichen Folgen sind aber aufgrund der erwartbaren vielschichtigen und zeitverzögerten Neben- und Folgewirkungen noch in keiner Weise absehbar. Daher sollten wir wohl eine unbeständige Zeit erwarten.

Das Konzept einer VUCA-Welt (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) ist bereits 30 Jahre alt. Die Komplexität steht dabei eigentlich im Vordergrund und führt zu mehr Volatilität, Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, aber auch zu zeitverzögerten Wirkungen oder zu kleinen Ursachen, große Wirkungen („Schmetterlingseffekt“). Die Dynamik steigt vor allem bei großen Störungen, was wir gerade unmittelbar miterleben dürfen.

In den vergangenen drei Jahrzehnten wurde durch die technologische Vernetzung und Globalisierung die gesellschaftliche und logistische Komplexität enorm gesteigert. Das war vielen bisher wohl nur am Rande, wenn überhaupt, bewusst. Die globalen Logistikketten sind ein unfassbares Wunderwerk, hoch optimiert und effizienzgesteigert. Ob das jedoch auch nachhaltig war, wird sich möglicherweise in den kommenden Monaten zeigen. Erste große Zweifel treten bereits zu Tage.

„Small is beautiful“ und Diversität als zentrale Überlebensstrategien

So stellt sich etwa die Frage, ob es wirklich Klug war, einen Großteil der Medikamentenproduktion oder sonstiger wichtiger Güter nach Asien auszulagern. Wie heftig und umfassend die Produktionseinbrüche in den vergangenen Wochen in China waren bzw. noch sein werden, weiß wahrscheinlich niemand. Aufgrund der langen Lieferzeiten werden uns die tatsächlichen Auswirkungen erst zeitverzögert voll treffen. In einzelnen Bereichen, wie in der Autoindustrie, gibt es bereits Hinweise, dass es möglicherweise bereits in Kürze zu Produktionsstillständen kommen könnte. In den großen Schiffreedereien scheint es zu knirschen, da die ersten Mega-Containerschiffe nicht mehr ausreichend ausgelastet werden können. Mangels Transportkapazitäten durch fehlende LKW-Fahrer am Land gibt es in China übervolle Häfen, was zu einem Rückstau bei Anlieferungen aus anderen Regionen führt. Die Supply Chains könnten zunehmend aus dem Takt geraten. Insbesondere, wenn sich das Virus jetzt weiter in andere Regionen ausbreitet und es dort zu Verzögerungen und Unterbrechungen kommt.

„Too-big-to-fail“-Systeme haben sich nicht nur in der Pharmaindustrie und in der Reederei etabliert. Ein Ausfall von Teilsystemen könnte sich daher rasch in andere Bereiche fortpflanzen und eine Kettenreaktion auslösen. Nicht umsonst haben sich in der Natur „small is beautiful“ und Diversität als zentrale Überlebensstrategien durchgesetzt. Das ist zwar nicht so effizient, aber dafür umso effektiver und robuster. Etwas, was wir Menschen offensichtlich erst lernen müssen.

Bei COVID-19 gesellschaftliche Gelassenheit erforderlich

Zurück zum Ausgangspunkt: Das Coronavirus. Von offizieller Seite ist man weiterhin bemüht, zu vermitteln, dass „alles bestens vorbereitet sei und man alles im Griff habe“, auch wenn Alltagsbeispiele eher etwas anderes vermitteln. In der jetzigen Situation können die Akteure aber nur falsch handeln: Entweder es wird überreagiert oder man war zu leichtfertig. Daher wäre eine gewisse gesellschaftliche Gelassenheit erforderlich, um sich auf die neuartige und ungewisse Situation einzustellen und anzupassen. Aber darauf sind wir nicht wirklich vorbereitet.

Viele Experten erwarten, dass sich die Infektionen weiter ausbreiten werden. Es wird daher bei weitem nicht ausreichen, wenn einzelne Akteure im Gesundheitswesen oder Krisenmanagement vorbereitet sind. Vielmehr ist zu erwarten, dass wir alle als Gesellschaft gefordert sein werden. Wir sollten daher beginnen, uns auf eine länger anhaltende Krisenentwicklung einzustellen und die entsprechenden Vorbereitungen treffen.

Nicht optimale Risikokommunikation

Wie internationale Fachleute immer wieder betonen, haben die bisherigen Eindämmungsmaßnahmen nur dazu gedient, um uns Zeit für die dringend notwendigen Anpassungen und Vorbereitungen zu schaffen. Diese wird aber bisher kaum genützt, was wohl auch an der falschen Risikokommunikation liegen dürfte. Man erwartet offensichtlich nach wie vor, dass es zu keiner weiteren Eskalation kommen wird. Das könnte sich als fatale Fehleinschätzung herausstellen.

Denn auch wenn vorgegeben wird, dass das Gesundheitswesen vorbereitet sei, kann das nur eine Selbsttäuschung sein. Denn gerade unsere hochspezialisierte Individualmedizin ist kaum auf einen Massenanfall von Patienten vorbereitet. Auch wenn bisher über 80 Prozent der Erkrankungen sehr mild verlaufen, können die restlichen 10 bis 20 Prozent der erkrankten Patienten unser Gesundheitssystem rasch überfordern, wenn wir nicht rechtzeitig auf einen Krisenmodus umschalten. Krisenpläne gibt es zwar auf Papier, vor Ort schaut dann die Realität aber meist anders aus. Denn wir, sowohl als Einzelpersonen als auch als Organisationen oder Gesellschaft insgesamt, sind nicht mehr darauf vorbereitet und trainiert, um mit größeren und längeren Störungen und Krisen umzugehen. Uns fehlen die Erfahrungen, also die notwendigen Handlungskompetenzen.

PR- statt Krisenkommunikation von öffentlichen Stellen

Das kann man auch bei der aktuellen Kommunikation der öffentlichen Stellen beobachten. Hier wurde bisher vor allem PR- statt Krisenkommunikation angewendet. Permanent wird der „rosarote Elefant“ angesprochen und die ganze Situation heruntergespielt, obwohl niemand weiß, wie es jetzt wirklich weitergehen wird. Die Fachexperten sprechen das durchaus offen an, aber die Politik verwendet weiterhin ihre Stehsätze. Der Versuch, die Kontrolle über eine Situation zu vermitteln, die es längst nicht mehr gibt, wird sich kontraproduktiv auswirken.

Natürlich wird es nicht sehr beruhigend wirken, wenn man eingestehen muss, dass man es auch nicht viel besser weiß. Es würde aber zumindest von Ehrlichkeit zeigen, was eher Vertrauen schafft. Niemand mag hinters Licht geführt werden, auch wenn es in bester Absicht ist. Zum anderen müssen wir als Gesellschaft auch gewisse Widersprüchlichkeiten aushalten können, da es genug Gegenstimmen gibt, die meinen es aus der Oppositionsrolle besser machen zu können. All jene, die in komplexen Situationen mit einfachen Antworten auftrumpfen, liegen so gut wie immer daneben. Was kurzfristig plausibel und logisch klingen mag, erweist sich längerfristig meist als nachteilig und falsch. Ein Mitgrund, warum Populisten derzeit einen so hohen Zulauf haben. Sie bieten einfache Antworten auf komplexe Sachverhalte an. All diese Zusammenhänge werden aber kaum in unserem Bildungssystem vermittelt. Damit werden wir aber als Gesellschaft angreifbarer und verwundbarer.

Wir sollten uns rasch auf eine längere Krise einstellen

Letztendlich kommt es bei einer solch vernetzten Krise immer auf jeden Einzelnen von uns an, also auf unsere Eigenverantwortung. Denn niemand kann die Bevölkerung schützen, auch wenn das nach wie vor behauptet wird. Wir können das nur selbst tun. Das muss man uns aber auch sagen und fördern. Natürlich trägt der Staat hier auch Verantwortung, indem er die entsprechenden Rahmenbedingungen und Klarheit schafft. Die bisherige Vollkaskomentalität wird sich nicht aufrechterhalten lassen. Viele sind nicht mehr gewohnt, mit Unsicherheit und Ungewissheit umzugehen, was die Sache natürlich nicht einfacher macht. Es wird uns aber nicht erspart bleiben, auch wenn wir Menschen eine gewisse Zeit brauchen, bis wir uns an eine neue Situation gewöhnt haben.

Daher wird sich der weitere Verlauf, wie bei vielen Krisen, durch eine gelungene oder verpatze Krisenkommunikation entscheiden. Schaffen wir es, den Ernst der Lage zu vermitteln und gleichzeitig die notwendige Besonnenheit einzufordern, oder wird an der PR-Kommunikation festgehalten, die dann zum Bumerang und in die Chaosphase führen wird.

Ob der Schwarze Schwan bereits gelandet ist, können wir noch nicht wirklich abschätzen. Dass dieses Jahr einfach so weitergehen wird, wie wir das vor ein paar Wochen noch erwartet haben, ist aber unwahrscheinlich. Auch wenn die momentane Situation noch beherrschbar und vor allem durch eine mediale Überreaktion gekennzeichnet ist, sollten wir uns trotzdem rasch auf eine längere Krise einstellen. Die ersten Dominosteine sind bereits umgefallen und es werden wohl noch viele weitere folgen.

Präventives Krisenmanagement in der Familie und im Unternehmen

Der erste und wichtigste Schritt beginnt dabei wieder in der eigenen Familie. Sich zu überlegen, was es bedeuten könnte, wenn gewisse Dinge eintreten: Etwa eine Erkrankung. Wie könnten die Pflege und Versorgung organisiert werden, ohne sich selbst und andere unnötig zu gefährden. Wenn jemand bereits im Alltag eine externe Hilfe benötigt, wie könnte das funktionieren, wenn niemand kommen kann, weil das Pflegepersonal erkrankt ist. Wie kann die Exponierung verringert werden? Was passiert, wenn die Schule geschlossen und die Kinder zu Hause beaufsichtigt werden müssen? Für wie lange reichen die eigenen Vorräte, sollte es zu Lieferengpässen kommen? Kann man zwei Wochen ohne Einkaufen gehen zu müssen, über die Runden kommen? Werden wichtige Medikamente benötigt? Und noch viele Fragen mehr.

Im Unternehmen gibt es sicher ähnliche Fragestellungen. Was würde passieren, wenn gewisse Lieferungen oder mehr Personal ausfallen sollte? Was muss unbedingt aufrechterhalten werden? Wo drohen größere Schäden?

Beginnen wir jetzt mit der Auseinandersetzung mit möglichen Entwicklungen. Dann werden wir weniger überrascht werden und besser darauf reagieren können. Wie erfolgreich wir diese Krise bewältigen können, hängt nicht nur von den staatlichen Strukturen, sondern von jedem Einzelnen von uns ab. Die Auseinandersetzung beginnt daher bei uns selbst, auch, um wieder eine gewisse Gelassenheit trotz Ernst der Lage zu erlangen.