Quelle: kurier.at

Die deutsche Philosophin Natalie Knapp über Umbrüche in der Gesellschaft und im Leben – und wir wir damit umgehen sollen.

Klimawandel, Migration oder die Krise der Demokratie: Die Welt ist im Umbruch, was vielen Menschen Angst macht. Warum Zeiten der Unsicherheit dennoch wertvoll sind, erklärt die Philosophin Natalie Knapp in ihrem Buch „Der unendliche Blick.“

Natalie Knapp: Der Begriff der Krise ist schon alt – er stammt vom griechischen Arzt Hippokrates, der damit den Moment in einer fieberhaften Erkrankung bezeichnete, in der sich entscheidet, ob das System sich stärkt oder ob der Mensch stirbt. Jetzt benutzen wir den Begriff für gesellschaftliche Krisen. Es sind aber nicht Stunden oder Tage, bis die Entscheidung fällt, sondern Jahre oder Jahrzehnte. Vielleicht dauert es noch länger. Angst ist in solchen Phasen immer ein schlechter Ratgeber – oder um bei Ihrer Frage zu bleiben: Rezeptgeber. Der Versuch, das größere Ganze zu sehen, kann dabei helfen der Angst zu begegnen. Deswegen hole ich so weit aus. Und das Verständnis für das größere Ganze kann schließlich helfen, uns eine Richtung zu geben und zu verstehen. Das kann auch die Erkenntnis sein, dass wir lernen müssen, mit Nicht-Wissen umzugehen. Weil man so lange Prozesse nicht vorausplanen kann.

Was können wir aus diesem letzten großen Übergang in der Geschichte lernen?
Damals waren die Menschen mit einem ähnlichen Bündel von Krisen konfrontiert, wie wir sie heute haben – es waren die ersten Impulse zur Globalisierung: Spanische und portugiesische Seefahrer haben neue Welten entdeckt; die Türkenbelagerung hat Angstpsychosen ausgelöst; die Bevölkerung ist gewachsen und in den Städten wurde es eng, sodass Ressourcen  und  Geld knapp wurden.  Wie die Welt sich weiterentwickeln würde, konnten sich die Menschen nicht vorstellen. Auch Martin Luther war noch ganz im Mittelalter verhaftet und wollte diese Welt retten. Er glaubte, dass der Weltuntergang bevorsteht. Und seine mittelalterliche Welt ging auch unter.

Er  hat aber Impulse gesetzt, die eine neue Zeit einleiteten.
Ja, aber ohne zu ahnen, was daraus entstehen kann. Genau so müssen wir akzeptieren, dass wir Impulse geben, von denen wir nicht wissen, was aus ihnen wird. Trotzdem ist es wichtig, dass wir sie setzen. Nicht zu wissen, wie es weitergeht, ist überhaupt die Voraussetzung dafür, dass Neues entsteht. Denn wenn wir schon wüssten, was kommt, dann wäre es nichts Neues.

Zeiten der Umbrüche waren immer Zeiten, die für die Menschen hart waren. Das macht Angst.
Wir leben aber nun einmal in dieser Zeit.  Wir müssen lernen, uns nicht nur als Individuen zu betrachten, die ihr eigenes Glück vorantreiben, sondern uns als Teil von sehr viel größeren Entwicklungen begreifen.   Wenn man erkennt, dass das große Ganze einen Wert hat, bleibt man handlungsfähig.

Jede Zivilisation ist auf Phasen der Unsicherheit angewiesen,  um sich entwickeln zu können. Vermutlich dauern die Zeiten des Wandels ebenso lang wie die Zeiten der Stabilität.

Es kommen sicher  große Herausforderungen auf uns zu, weil wir im ökologischen Bereich in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig gehandelt haben und immer noch zu wenig handeln. Aber es gibt durchaus  Dinge, die sich verbessern könnten. Ich würde es z.B. als Fortschritt empfinden, wenn Verbindungen zwischen Menschen wieder einen höheren Wert bekommen als das nächste Auto. Ob wir das als Verbesserung erleben, hängt davon ab, wie wir das bewerten.

Kann ich als einziger etwas tun, um diesen Wandel zu gestalten? Gerade wenn ich nicht weiß, wohin die Reise geht.
Jeder einzelne zählt. Denn die Verwandlung einer Gesellschaft entsteht immer durch ein Zusammenspiel von vielen kleinen Handlungen. Das ist so ein komplexer Prozess, dass es dafür gar keinen Plan geben kann.  Und man muss aushalten lernen, dass die Verbesserungen zuerst nur im Kleinen sichtbar werden. Auch Martin Luther hat übrigens nie erfahren, wie viel er bewirkt hat.
Auf globaler Ebene werden die großen Verbesserungen vielleicht erst in der übernächsten Generation sichtbar. Aber wenn ich in meinem Dorf aktiv werde –  etwa ein Fest mit Menschen organisiere, mit denen ich sonst nicht rede –  habe ich unmittelbar etwas bewirkt. Ich trage dazu bei, dass ein friedlicher demokratischer Austausch stattfindet. Und das ist eine Grundlage dafür, dass wir weiterhin gemeinsam Probleme lösen können. Große Veränderungen brauchen ein stabiles Fundament der Menschlichkeit und der Kommunikation. Dieses Fundament dürfen wir nicht unterschätzen. Und das erschaffen wir im Kleinen.

Der erste Auftrag an unsere Generation wäre daher, mehr Unsicherheitstoleranz zu entwickeln, um auf  solch großspurigen Versprechungen nicht hereinzufallen. Denn niemand hat im Augenblick einen Masterplan, weil sich zu viele Dinge gleichzeitig verwandeln, die alle miteinander zusammenhängen. Das ist aber keine Katastrophe, sondern der Normalfall, wenn sich die Welt weiterentwickelt. Man muss nur begreifen, dass es den Weg, der uns da durchführt, noch gar nicht gibt. Wir erschaffen ihn erst mit jedem Schritt den wir gehen. Denn gerade weil unsere Zukunft noch nicht feststeht, können wir sie gemeinsam gestalten.

Worauf kommt es also an?
Es kommt  darauf an, dass möglichst viele  zusammenarbeiten und  wir nur solchen Menschen politische Macht geben, die auf Zusammenarbeit setzen. Wir müssen uns  einerseits lokal engagieren, Ideen einbringen und Verantwortung übernehmen und andererseits Verantwortung teilen, indem wir etwa Klimaspezialisten vertrauen und ihren Empfehlungen folgen. Auch dann, wenn sie uns etwas abfordern. Denn das, was gerade global passiert, ist lokal nicht sofort sichtbar und ohne Fachwissen nicht abschätzbar.  Dieses Fachwissen muss   in Projekte übersetzt werden, die man vor Ort umsetzen kann.   Wir müssen nur kreativ werden und  anfangen, anstatt darauf zu warten, dass irgendjemand das 17. Klimaabkommen unterzeichnet und  doch nicht umsetzt. Global ist es schwierig, aber vor Ort kann man immer etwas tun.

Kommentar

Tolles Interview zu den aktuellen Umbrüchen. Hierzu sind auch die weiteren Interviews hörenswert. Im Wesentlichen geht es um die Transformation zur Netzwerkgesellschaft, in der wir uns gerade befinden und die noch einige Überraschungen für uns haben wird. Aber insgesamt lässt sich diese Transformation auch mit der Metamorphose einer Raupe zum Schmetterling vergleichen: Wollen wir die Raupe sein, die sich gerade verpuppt und wo es nun eng und dunkel wird? Oder doch lieber der Schmetterling, der „weiß“, dass das nur ein Übergangsstadium ist, um in eine neue, schönere Welt zu gelangen? Zukunft passiert nicht einfach, wir können Zukunft gestalten. Es liegt daher an uns, wie diese aussehen wird.