Quelle: www.wienerzeitung.at
Ob Flugzeuge, Lawinen, Luftballons oder die Finanzwirtschaft. Der Kollaps eines jeden Systems ist laut Chemiker Ugo Bardi nicht vorhersagbar – aber mit Sicherheit zu erwarten.
Was haben das Römische Reich und die Finanzkrise von 2008 gemeinsam? Es sind komplexe Systeme, die langsam gewachsen und unverhältnismäßig schnell zusammengebrochen sind. Von dieser knappen Beschreibung des Stoikers Seneca leitet der Chemiker Ugo Bardi die These seines Buches „Der Seneca Effekt“ ab und versucht zu klären, wie etwa das komplexe System Erde und seine Biosphäre in Zukunft reagieren, wenn sie noch mehr strapaziert werden, und wie ein Zusammenbruch ablaufen könnte.
Wiener Journal: Gemeinhin will man, dass Systeme robust und widerstandsfähig, also resilient sind – wer wünscht sich schon einen Zusammenbruch? Sie sagen aber, dass der Kollaps eines jeden Systems unvermeidlich sei…
Ugo Bardi: Zusammenbruch ist unvermeidlich. Aber das ist auch eine gute Sache. Denn wenn das Alte nicht ginge, wäre kein Platz für das Neue.
Resilienz ist also gar nicht immer wünschenswert?
Ich komme aus der Technik. Ich habe den Großteil meiner beruflichen Laufbahn mit Ingenieuren, Maschinen, Gasturbinen und Flugzeugen gearbeitet. In der Technik ist das Konzept der Resilienz sehr klar: Materialien oder Maschinen sind resilient, wenn sie nicht kaputtgehen.

Kommentar: Mit dieser Beschreibung zeigt sich, dass der Begriff Resilienz in der Technik häufig nur Widerstandsfähigkeit meint und daher insgesamt zu kurz greift, wie auch im Interview noch ausgedrückt wird. Daher macht es Sinn von Robustheit in der Technik und von Resilienz, also der Lernfähigkeit und Antizipation, bei Menschen und Gesellschaften zu sprechen. Ansonsten kommt ein Einheitsbrei heraus, der wenig nützt.

Sie übertragen den Begriff der Resilienz aber auch auf Gesellschaften …
Wir sagen, ein soziales oder ein ökonomisches System ist resilient, wenn es stabil ist. Wenn es also nicht zusammenbricht und widerstandsfähig gegenüber Angriffen von Außen ist. Aber ein soziales System ist anders als ein technisches. Ein Flugzeug ist ein Flugzeug – und bleibt ein Flugzeug. Man kann es nicht auseinanderziehen, modellieren, verändern. Ich kann aus einem Düsenflugzeug keine Propellermaschine machen. Aus einem Flugzeug wird auch kein Schiff, wenn es ins Wasser fällt. Ein Flugzeug darf sich nie ändern. Es muss immer fliegen können. Scheitern ist keine Option. Ein Zusammenbruch ist inakzeptabel.
Und in einer Gesellschaft?
Auf gesellschaftlicher Ebene müssen wir uns verändern. Es gibt keine Alternative. Eine Gesellschaft ist viel anpassungsfähiger als ein technisches System. Das ist der Kern der Resilienz: Die Fähigkeit, sich zu verändern, sich anzupassen und sich zu bewegen. Das kann natürlich auch Zusammenbruch bedeuten – das wäre der Worst Case. Das nennt man dann Revolution, Aufstand oder Unruhen.

Kommentar: Resilienz bezieht sich eben auf etwas lebendiges, das auch Anpassungsfähig ist. Wobei eine scharfe Auftrennung natürlich nicht möglich ist, da Menschen immer eine Rolle spielen und involviert sind, womit auch technische Systeme nicht starr zu betrachten sind. Das ist auch ein Teil der IT-Sicherheitsprobleme. Die Technik alleine würde sich wahrscheinlich so verhalten, wie sie konzipiert wurde. Mit menschlichen Interaktionen („Störungen“) erheben sich aber nicht intendierte Nebenwirkungen. Hacking ist im Grunde so etwas: Nicht vorgesehene Funktionen und Möglichkeiten finden und ausnutzen. Im negativen Fall, um jemanden Schaden zuzufügen.

Wir scheinen uns aber nicht gut verändern zu können …
Das ist das Problem. Schauen wir uns die Politik in Italien, aber auch in Österreich, an. Man wählt rechts, will keine Ausländer, keine EU, keinen Euro. Hier wird versucht, in der Zeit zurückzugehen – das können wir aber nicht. Die Linke hingegen sagt oft, wir brauchen mehr EU, mehr Wachstum, mehr Einwanderung, mehr Bevölkerung, damit alles so bleibt, wie es ist. Es scheint, es gibt dazwischen aktuell keine Alternative.
Wenn Zusammenbrüche von Systemen unweigerlich stattfinden – warum sollten wir uns überhaupt die Mühe machen, etwas zu ändern?
Wir müssen zulassen, dass sich Systeme verändern, sonst werden sie zusammenbrechen. Zusammenbruch ist nichts anderes als eine sehr schnelle, drastische Veränderung. Und wenn wir uns im Kollaps befinden, müssen wir ihn zulassen – umgehend. Es bringt nichts, dagegen anzukämpfen, im Gegenteil, er zieht sich dann in die Länge.
Stichwort Klimawandel. Dass wir uns ändern müssen, wissen wir schon lange, und doch passiert viel zu wenig …
Die Menschen halten am Alten fest, weil sie es kennen. In Italien engagiere ich mich dafür, dass wir von Verbrennungsmotoren wegkommen. Es gibt aber unglaublich viele Menschen, die daran festhalten. Sie wollen keinen E-Motor. Die werden richtig aggressiv. Sie erleben die Forderung nach Veränderung als persönlichen Angriff.
Klingt ziemlich hoffnungslos …
Wir hätten zu den E-Autos bereits vor 20 Jahren übergehen sollen. Das wäre technisch möglich gewesen. Die Hälfte unserer Fahrzeuge wäre heute elektrisch betrieben, die Menschen daran gewöhnt. Aber da wir das nicht getan haben, müssen wir uns nun sehr schnell verändern – und das birgt Risiken. Diese Schritte schnell zu vollziehen fordert wiederum einen Zusammenbruch heraus. Schauen wir uns in Deutschland, den Dieselskandal, an: Volkswagen ist nicht zerbrochen, aber sie müssen viele Milliarden zahlen, und es gibt ein ernsthaftes Risiko, dass sie Bankrott gehen – eine Form des Zusammenbruchs. Sie haben zu viel, zu schnell gewollt. Hätte Volkswagen aber zeitig auf die Veränderungen am Markt reagiert und etwa vor zehn Jahren begonnen E-Autos zu produzieren, hätten sie diese Probleme umgangen.
Es gibt auch die These, dass der Umstieg auf das E-Auto nicht reicht. Die Zeit des Individualverkehrs sei vorbei. Es brauche radikalere Schritte …
Ja, wir müssen unsere Sicht auf Autos verändern. Denn wir können es uns schlicht nicht mehr leisten, dass jeder einzelne ein großes Auto, geparkt vor dem Haus, besitzt. Das ist ein Modell, das in Zukunft nicht mehr funktioniert. Wir werden weniger und kleinere Autos haben, die gemeinsam genutzt werden.
Wo sehen Sie sonst akute Abgründe nahen?
Es gibt einige Probleme, die sehr schwierig zu lösen sind. Plastik etwa. Neun Milliarden Tonnen sind über die ganze Welt verstreut – und wir wissen nicht, was wir damit tun sollen. Wir entdecken immer mehr Probleme und haben keine Lösungen. Aber manche dieser Probleme sieht man, im Gegensatz zum Klimawandel. Kohlendioxid ist nicht sichtbar. Die Folgen sind indirekt. Natürlich sieht man, dass der Hurrikan das Land verwüstet, dass die Ernte eingeht, wenn eine Dürre herrscht, dass der reißende Fluss die Hütten wegschwemmt. Aber die Menschen tun sich schwer, eine Verbindung zu sehen. Deshalb ist es so schwierig, etwas zu bewegen.
Und auf sozialer, politischer Ebene – sehen Sie die Seneca-Kurve der EU schon am Abfallen?
Klar ist: Anpassung und Veränderung sind auch bei der EU nicht optional. Die Frage ist: schnell oder langsam? Das hört man von Politikern aber nicht. Die Ursache der Probleme Europas ist doch, dass wir wissen, es läuft nicht gut. In Italien reagierten die Leute aber damit, dem Euro die Schuld zu geben, der EU, Angela Merkel und den Einwanderern. Das sind aber nicht die Ursachen, sondern die Folgen.
Wie sieht demgegenüber eine Politik aus, die sich der Probleme und des nahenden Kollapses bewusst ist?
Leider haben wir Politiker an der Macht, die auf die Ignoranz der Menschen setzen. Auch in Italien. Das Land war viele Male bereits eine Art politisches Labor für die Welt. Der Faschismus hatte seine Wiege in Italien. Wir haben in Italien insbesondere einen Politiker, der viel Lärm macht gegen Einwanderer, gegen den Euro, gegen Merkel. Und je mehr Matteo Salvini Lärm macht, desto mehr mögen ihn die Menschen. Das System scheint kurzfristig zu funktionieren, aber es kann nicht lange gut gehen. Die Idee hinter dieser Politik ist: Wir kehren zurück zu besseren Zeiten. Aber wer so redet, und wer das glaubt, hat die Ursachen der Probleme nicht verstanden.
Was sind die Ursachen?
Ressourcenverschwendung und Verschmutzung. Das kommt aber in keiner Schicht der Gesellschaft an. Diese Faktoren ziehen die Gesellschaft hinunter, sie gefährden und zerstören unseren Wohlstand, unseren Lebensstil, unsere Gesundheit. Denn wir haben weniger Ressourcen zur Verfügung und müssen immer mehr Verschmutzung bekämpfen. Die Menschen reagieren aber nur mit Unverständnis und sagen: Es ist nicht unsere Schuld. Jemand anderer ist schuld. Dieses „Blame-Game“ spielt auch die Politik, das ist leider ihre bewährte Erfolgsstrategie.
Wirtschaftswachstum gilt als notwendig für Wohlstand. Es verbraucht aber Ressourcen und verschmutzt die Umwelt …
Wachstum ist nicht prinzipiell schlecht. Es gibt Wachstum auch in der Kreislaufwirtschaft. Die Hauptaufgabe hier ist zu recyclen, um Güter wieder in das System zurückzuführen. In der konventionellen Wirtschaft werden Güter produziert, benutzt und weggeworfen. Der Abfall wird als Problem gesehen und behandelt. Wohingegen in der Kreislaufwirtschaft Müll eine Chance ist. Wir müssen Wachstum nicht verteufeln. Wir müssen aber daran arbeiten, den Kreislauf zu schließen.
Welche Rolle spielt Diversität – bewahrt sie vor dem Kollaps oder führt sie ihn herbei?
Wenn wir mehr Resilienz wollen, müssen wir Diversität kultivieren. In der Systemwissenschaft weiß man, ein System passt sich besser an, wenn es divers ist. Wenn das System simpel und linear verläuft, kann es sich nicht verändern. Es ist wie das Flugzeug. Die Gesellschaft könnte sich aber, bildlich gesprochen, von einem Flugzeug etwa in ein Schiff oder Auto verwandeln. Wenn du dich in der Luft, im Wasser, an Land fortbewegen willst – dann musst du dich den Bedingungen anpassen. Diese Denkweise brauchen wir dringend.

Kommentar

Ein hervorragendes Interview, das leider auch viele hier aufgeworfene Themen bestätigt. Das europäische Stromversorgungssystem wurde für einfach berechenbare und steuerbare Großkraftwerke errichtet. Wir bauen das System gerade fundamental um. Aber leider nur ein Systemelement: Die Erzeugung. Es ist absehbar, dass das nicht gut gehen kann. Und zwar nicht in weiter ferne, sondern in naher Zukunft. Und die Umbrüche finden gerade auf vielen Ebenen statt (Stichwort: Transformation zur Netzwerkgesellschaft). Damit sind viele Unsicherheiten und Ungewissheiten verbunden, wobei sicher nicht alles negativ ist, ganz im Gegenteil. Aber die Veränderungen und mögliche nicht intendierte Nebenwirkungen erfordern auch eine gewisse Offenheit und Resilienz, also die Fähigkeit, mit diesen Dingen umzugehen. Derzeit sehen wir aber genau das Gegenteil: Festhalten und Kultivieren von bisher Erfolgreichem. Damit treffen uns die Überraschungen umso härter.