Letzte Aktualisierung am 18. April 2016.

Das bereits 2007 erschienene Buch von Karl E. Weick und Kathleen M. Sutcliffe: Das Unerwartete managen: Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen (Systemisches Management) lag schon lange zum Lesen bereit. Alles braucht jedoch den richtigen Zeitpunkt und dieser war vor kurzem gekommen. Umso erfreulicher war der Inhalt bzw. die vielen Bestätigungen für unsere bisherigen Denkansätze. Umso wichtiger sind die Erkenntnisse auch für unsere Zielgruppen und Themen – denn auch hier können wir vieles von anderen lernen und müssen nicht jede (negative) Erfahrung selber machen. Daher eine ganz klare Leseempfehlung.

Zwei wesentliche Zitate auch im Zusammenhang mit strategischen Schocks möchten wir hier voranstellen:

Bei einem flexiblen System zeigen sich die Spuren seiner Begegnungen mit dem Unerwarteten nicht daran, dass es seine Verteidigungsmechanismen ausbaut, sondern daran, dass es seine Reaktionsfähigkeiten erweitert. S. 76.

Wie gut ist Ihr System darauf vorbereitet, das Unerwartete zu managen, wenn es sich doch ereignet? S. 105

Die Erkenntnisse im Buch beruhen auf Menschen und Organisationen, die in Umgebungen arbeiten, in denen das Potential für Fehler und Katastrophen exorbitant hoch ist und die unbedingt zuverlässig funktionieren müssen, sogenannte High Reliability Organizations (HROs):

Das Fehlerpotenzial ist sehr hoch, Fehler können so gravierende Folgen haben, dass sich ein Lernen durch Versuch und Irrtum verbietet, und die Kontrolle einer komplexen Technik verlangt komplexe Prozesse, um Fehler zu vermeiden. Um unter solchen Bedingungen erfolgreich zu arbeiten, betrachten Menschen in HROs Sicherheit als oberste Priorität, bauen Redundanzen ein, dezentralisieren Entscheidungsprozesse, bemühen sich um eine Kultur, die eine zuverlässige Performance fördert, und nehmen umfangreiche Investitionen in Training und Simulation vor; sie lernen aus Beinahe-Unfällen, sind aktiv bemüht, zu klären, was sie nicht wissen, legen großes Gewicht darauf, dass alle Beteiligten über die Gesamtsituation informiert sind und wissen, wie ihr Beitrag sich auswirkt, und belohnen Mitarbeiter, die über Fehler und Schwachstellen berichten. S. 175.

Wobei die Berücksichtigung der Erkenntnisse nicht nur für HROs Sinn macht, ganz im Gegenteil. Gerade in den aktuellen Entwicklungen mit sehr vielen Unsicherheiten (VUCA, Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität) macht sich die Auseinandersetzung mit diesen Erkenntnissen bezahlt.

Und die meisten Probleme tauchen nicht unversehens in voller Größe aus dem Nichts auf. Vielmehr häufen sich über einen längeren Zeitraum die Hinweise auf kleine, unerwartete Ereignisse, die allmählich zu ständigen Begleitern werden. S. VIII.

Auch die aktuelle Flüchtlingskrise ist nicht aus heiterem Himmel gekommen, man hat die Hinweise lange genug ignoriert bzw. das Problem weit entfernt gewähnt.

HROs haben nichts Magisches an sich, doch sie gehen sehr bewusst mit diesen Problemen um. S. 19.

Man muss sich zunächst für die Möglichkeit des Scheiterns öffnen, um es zu vermeiden. S. 49.

Alle Menschen sind fehlbar und am gefährlichsten ist, wenn sie vom Gegenteil überzeugt sind. S. 52.

Kästchen führen zu Silos, und Silos machen es schwierig, systemweite Fehler zu entdecken. S. 53.

Und genau auf diese Aspekte bzw. Hinweise im Zusammenhang mit der Stromversorgungssicherheit versuchen wir hier bzw. in unserem Newsletter immer wieder zu thematisieren. Hinweise, wie etwa die zunehmenden Redispatching-Maßnahmen oder Intradaystops, oder viele Cyber-Sicherheitsvorfälle sowie die Gefahr von Dominoeffekten in vernetzten Systemen weisen auf die steigenden systemischen Risiken hin.

Unerwartete Ereignisse erweisen sich häufig als Prüfung unserer Flexibilität und Widerstandskraft. Sie beeinflussen, wie stark wir belastbar sind, bevor wir zusammenbrechen, und wie gut wir uns wieder erholen. Manchmal laufen diese Prüfungen glimpflich ab, doch manchmal fallen sie auch äußerst brutal. aus. Dieses Buch handelt von beiden Arten, weil sich leichte Prüfungen, die nicht erkannt werden, oft in gnadenlose Belastungstests verwandeln können. S. 1.

Ein flexibles Handeln, das dazu befähigt, Rückschläge zu verkraften, setzt sich aus mehreren Elementen zusammen: Man braucht ein breites Handlungs- und Erfahrungsrepertoire, man muss Elemente früherer Erfahrungen zu innovativen Reaktionen kombinieren können, seine Emotionen im Griff haben, zu einer respektvollen Interaktion fähig sein und wissen, wie das System funktioniert. S. 4f.

Die besten HROs wissen, dass sie nicht alle Möglichkeiten eines Systemversagens aus eigener Erfahrung kennen können und auch nicht alle Spielarten des Scheiterns in Gedanken durchgespielt haben. S. 5.

Ein Blackout ist auch bewältigbar, wenn man sich darauf vorbereitet und ein solches nicht kategorisch ausschließt, wie dies derzeit häufig der Fall ist.

Spannend ist auch, dass wir gerade den Aspekt der Achtsamkeit im technischen Bereich (Stichwort: Industrie 4.0 oder Internet der Dinge) in Zukunft stärker implementieren wollen. Statt eine zeitintervalmäßige Wartung vorzunehmen, sollen zukünftig verstärkt Sensoren (!) zum Einsatz kommen, die eine optimale Nutzung und Wartung ermöglichen sollen. Hier scheint es klar zu sein, dass sich Achtsamkeit bezahlt macht.

HRO-Prinzipien zum erfolgreichen Umgang mit Unerwartetem

Doch es gibt auch ausreichend Erfahrungen, wie man mit Unerwartetem erfolgreich umgehen kann. Diese Erkenntnisse lassen sich in fünf Prinzipien zusammenfassen:

1. HRO-Prinzip: Konzentration auf Fehler. HROs zeichnen sich dadurch aus, dass sie besessen von Fehlern sind. Sie betrachten jedes Lapsus als ein Symptom dafür, dass mit dem System etwas nicht in Ordnung ist, als etwas, das ernsthafte Konsequenzen haben könnte, falls mehrere kleinere Einzelfehler in einem unglückseligen Moment zusammentreffen. (…) HROs motivieren ihre Mitarbeiter dazu, Fehler zu melden.

Mit Fehlern wird offenbar in erster Linie assoziiert, dass es einen Schuldigen geben muss und nicht, dass man etwas daraus lernen kann. S. 54.

Eine Konzentration auf Fehler ist eine Konzentration auf die Aufrechterhaltung zuverlässiger Leistungen. Und zuverlässige Leistung ist abhängig vom System, nicht von einer einzelnen Person. Fehler hängen miteinander zusammen. Durch kleine Ereignisse, die das Resultat von früheren, entfernteren Bedingungen sind, neigen nachfolgende Ereignisse dazu, vom Erwarteten abzuweichen. S. 55.

2. HRO-Prinzip: Abneigung gegen Vereinfachung. Eine weitere Form des Umgangs mit dem Unerwarteten, die man bei HROs beobachten kann, ist die Abneigung gegen vereinfachende Interpretationen. Eine weitverbreitete Erfolgsregel lautet, dass man bei koordinierten Aktivitäten die Dinge vereinfachen muss, damit man sich auf einige Schlüsselprobleme und Schlüsselindikatoren konzentrieren kann. HROs sorgen dagegen mit gezielten Maßnahmen dafür, dass umfassender und komplexere Vorstellungen entstehen. Sie vereinfachen weniger und sehen mehr. Da sie wissen, dass die Welt, mit der sie es zu tun haben, komplex, unbeständig, unbegreiflich und unvorhersehbar ist, bringen sie sich selbst in eine Position, die eine möglichst umfassende Wahrnehmung erlaubt. Sie fördern Grenzgänger, die vielfältige Erfahrungen mitbringen, die der herrschenden Meinung mit Skepsis begegnen und so geschickt verhandeln können, dass Meinungsunterschiede versöhnt werden und gleichzeitig die feinen Unterschiede kontroverser Standpunkte bestehen bleiben. Wenn sie ein Ereignis als etwas „wiedererkennen“, das sie bereits erlebt und verstanden haben, ist dieses Wiedererkennen eher ein Anlass zur Sorge als zur Beruhigung. Die Sorge ist. dass oberflächliche Ähnlichkeiten zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit tiefere Unterschiede, die sich als fatal erweisen können, verschleiern. S. 11.

3. HRO-Prinzip: Sensibilität für betriebliche Abläufe. HROs achten auf die vorderste Front, wo die praktische Arbeit geleistet wird. Der Handlungshorizont in HROs ist weniger strategisch ausgerichtet und eher situationsbezogen als bei den meisten anderen Unternehmen. Wenn Menschen ein gut entwickeltes Gespür für Situationen haben, können sie stetige Anpassungen vornehmen, die verhindern, dass sich Fehler ansammeln und ausweiten. Anomalien werden bemerkt, solange man sie noch leicht in den Griff bekommen und eingrenzen kann. All dies wird möglich, weil in HROs bekannt ist, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Sensibilität für betriebliche Abläufe und der Sensibilität für Beziehungen besteht. Wenn Mitarbeiter Angst haben, den Mund aufzumachen, schaffen sie ein System, das nicht effektiv bleiben kann, weil ihm wichtige Informationen fehlen. Die Mitglieder einer HRO wissen, dass man kein umfassendes Bild von betrieblichen Abläufen entwickeln kann, wenn man Anzeichen für einen gestörten Betrieb verschweigt. Es macht keinen Unterschied, ob die Mitarbeiter sie aus Angst, Unwissenheit oder Gleichgültigkeit verschweigen. All diese Gründe für das Zurückhalten von Informationen hängen mit der Qualität von Beziehungen zusammen. Wenn Manager nicht untersuchen wollen, was zwischen den Menschen in ihrem Unternehmen vor sich geht, werden sie nie verstehen, was in den diesen Menschen vorgeht. S. 13f.

„Wenn jemand anruft und um Hilfe bittet, solle man nicht übers Budget streiten. Es brennt! Das Finanzielle kann man hinterher regeln!“

Budgets erweisen sich häufig als unsensibel für betriebliche Abläufe. Das Problem am Cerro Grande war, dass die Budgetverantwortlichen extrem blind und taub auf die Erfordernisse reagierten, die sich an vorderster Front ergab. S. 14. [Controller!]

Bei der Sensibilität für betriebliche Abläufe geht es um die Arbeit selbst – darum, dass wir erkennen, was wir tatsächlich tun, unabhängig davon, was wir aufgrund von Absichten, Aufgabenbeschreibungen und Plänen tun sollten. S. 63.

Es werden zu viel Aufmerksamkeit auf Forschung und Entwicklung gerichtet und zu wenig auf die „mühsame Kleinarbeit, mit der tagtäglich dafür gesorgt wird, dass alle beteiligten Organisationen tatsächlich jeden Tag alle anstehenden Aufgaben ordentlich erledigen. S. 64.

Außerdem muss man sich klarmachen, dass Beziehungen und laufende Gespräche von wesentlicher Bedeutung sind, wenn man Risiken eindämmen will, die bei der Planung nicht vorausgesehen wurden. S. 64f.

Eine weitere Gefahr bei betrieblichen Abläufen liegt schließlich in der Überschätzung ihrer Verlässlichkeit. S. 64.

Beinahe-Unfälle: In weniger effektiven HROs geschieht genau das Gegenteil. Wenn dort erkannt wird, dass eine Aktion beinahe schiefgegangen ist, sieht man darin einen Beweis für den Erfolg und die Befähigung, Katastrophen abzuwenden. Und dies wiederum stärkt die Überzeugung, dass die derzeitigen Betriebsabläufe zur Eindämmung von Katastrophen ausreichen. S. 65f.

4. HRO-Prinzip: Streben nach Flexibilität. Kein System ist perfekt. Das wissen die Mitarbeiter in HROs genauso gut wie wir alle. Deshalb bemüht man sich dort nicht nur um ein vorausschauendes Handeln, indem man aus Fehlern lernt, sich um eine komplexere Wahrnehmung bemüht und sensibel für betriebliche Abläufe bleibt, sondern alle streben darüber hinaus nach möglichst großer Flexibilität und Widerstandskraft (Resilienz). „Das Wesentliche der Resilienz ist deshalb die innere Fähigkeit einer Organisation (eines Systems), einen Zustand dynamischer Stabilität zu bewahren oder wiederherzustellen, der es ihr ermöglicht, die Arbeit nach einer größeren Störung und/oder unter anhaltenden Belastungen fortzusetzen.“ HROs entwickeln die notwendigen Fähigkeiten, um unvermeidliche Irrtümer, die Teil einer ungewissen Welt sind, zu entdecken, zu begrenzen und sich schnell wieder davon zu erholen. Das Markenzeichen einer HRO ist nicht, dass dort keine Irrtümer vorkommen, sondern dass sie sich durch diese Irrtümer nicht lähmen lassen. S. 15.

Flexibilität ist eine Mischung aus der Fähigkeit, Fehler frühzeitig zu entdecken, und der Fähigkeit, das System durch improvisierte Methoden am Laufen zu halten. Beide Formen der Beweglichkeit erfordern, dass man die Technik, das System, die Kollegen, sich selbst und die Ressourcen sehr gut kennen. S. 15.

Eindämmung unterscheidet sich von Antizipation, weil das Ziel hier eher darin besteht, die unangenehmen Folgen eines bereits eingetretenen unerwarteten Ereignisses zu minimieren als das Ereignis selbst zu verhindern. S. 69.

Organisationen entwickeln Pläne, um sich auf das Unvermeidliche vorzubereiten, das Unerwünschte auszuschließen und das Beherrschbare in den Griff zu bekommen. Aber so rational das alles klingen mag – das Planen hat auch Nachteile. Weil die Planer in Rahmen stabilere, vorhersehbarer Zusammenhänge agieren wiegen sie sich in dem Glauben, dass sich die Welt in einer vorher festgelegten Art und Weise entfalten wird; Henry Mintzberg nennt diesen Fehler den „Irrtum der Vorherbestimmung“. (…) Kurzum, Pläne können exakt das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken, weil sie Unachtsamkeit und nicht die achtsame Antizipation des Unerwarteten erzeugen. S. 70.

Flexibel sein heißt, auf Fehler zu achten, die bereits vorgekommen sind, und sie zu korrigieren, bevor sie sich ausweiten und weitere größere Schäden anrichten. S. 72.

Das Wort unerwartet bezieht sich auf etwas bereits Geschehenes. Wenn Sie das Unerwartete managen, befinden Sie sich bereits im Hintertreffen. Sie sind mit etwas konfrontiert, das Sie nicht vorhergesehen haben und das sich trotzdem ereignet hat. S: 72.

Die Fähigkeit, das Unerwartete zu bewältigen, erfordert eine andere mentale Haltung als die Antizipation. Wenn man innerlich auf Antizipation eingestellt ist, will man in erster Linie mögliche Schwierigkeiten ermitteln, damit man konkrete Gegenmittel ersinnen beziehungsweise sich ins Gedächtnis rufen kann. Beim Streben nach Flexibilität geht es dagegen um etwas ganz anderes. S. 73.

Systeme reagieren auf Störungen häufig mit neuen Regeln und neuen Verboten, die verhindern sollen, dass sich dieselbe Störung in Zukunft noch einmal wiederholt. Diese Reaktion verringert die Flexibilität im Umgang mit späteren unvorhersagbaren Veränderungen. (…) Bei einem flexiblen System zeigen sich die Spuren seiner Begegnungen mit dem Unerwarteten nicht daran, dass es seine Verteidigungsmechanismen ausbaut, sondern daran, dass es seine Reaktionsfähigkeiten erweitert. S. 76.

5. HRO-Prinzip: Respekt vor fachlichem Wissen und Können. Das letzte herausstechende Merkmal von HROs ist ihre Hochachtung vor fachlichem Wissen und Können. HROs pflegen die Vielfalt, nicht nur weil unterschiedliche Perspektiven die Wahrnehmungsfähigkeit in komplexen Situationen erhöhen, sondern auch weil man die wahrgenommene Komplexität auf diese Weise konstruktiver nutzen kann. Starre Hierarchien haben ihre eigene charakteristische Fehleranfälligkeit. Fehler auf höheren Ebenen neigen dazu, Fehler von niedrigeren Ebenen aufzupicken und sich damit zu vermischen, was dazu führt, dass die entstehenden Probleme größer werden, schwerer zu verstehen sind und leichter eskalieren.

Um dieses fatale Szenario zu verhindern, schieben HROs die Entscheidungsfindung nach unten – und in einen größeren Kreis. Entscheidungen werden an vorderster Front getroffen, und die Entscheidungsgewalt „wandert“ zu den Mitarbeitern mit dem größten Fachwissen, unabhängig von ihrem Rang. S. 17.

Die Entscheidungsbefugnisse wandern in der Organisation herum, bis sie eine Person gefunden haben, die sich mit dieser Sache besonders gut auskennt. S. 17.

Ist es wirklich die Ausnahme, dass man optimistische Pläne macht, zu wenig Personal hat, eine Fehleinschätzung der Komplexität vornimmt oder Versprechen nicht eingehalten werden? Ist es uns völlig fremd, dass Details übersehen werden, Revierkämpfe stattfinden, die Kontrolle verloren geht und unvorhergesehene Konsequenzen eintreten? Mit Sicherheit nicht. S. 18.

Das Verständnis bleibt immer lückenhaft, und die Beteiligten sind gezwungen, trotz ungenügender Informationen kluge Entscheidungen zu treffen. S. 22.

Wir sprechen lieber vom Expertenwissen oder Sachverstand als von einzelnen Experten, weil wir den entscheidenden Punkt betonen möchten, dass das fachliche Wissen und Können aus zwischenmenschlichen Beziehungen erwächst. Fachliches Wissen und Können sind eine Mischung aus Kenntnis, Erfahrung, Lernen und Intuition, die selten von einer Einzelperson verkörpert wird. S. 83 [siehe auch „unsichtbare Fäden„].

Die Fähigkeit, sich gegebenenfalls auf informelle Wege zusammenzuschließen, erweitert die Kenntnisse und Handlungsmöglichkeiten, mit denen man einem Problem begegnen kann. Mit dieser flexiblen Strategie der Krisenintervention kann ein System mit den unvermeidlichen Unsicherheiten und Wissenslücken umgehen. S. 83.

HROs gehen von der Annahme aus, dass man die Ungewissheit nicht reduzieren kann und dass die Anzahl der möglichen Fehler- oder Schadensquellen unendlich ist. Deshalb richten HROs ihre Ressourcen eher darauf aus, den Mitarbeitern zu helfen, unerwartete Ereignisse einzudämmen und sich schnell davon zu erholen, nachdem sie stattgefunden haben. S. 85.

Organisationen, die mit hoher Zuverlässigkeit arbeiten, richten mithilfe freier Ressourcen kleine Nischen der Flexibilität ein, wie etwa informelle Netzwerke von Personen, die im Bedarfsfall zusammenkommen, um knifflige Probleme zu lösen. S. 86.

Achtsame Momente sind wichtig, wenn das Umfeld, in dem Sie tätig sind, dynamisch, schlecht strukturiert, mehrdeutig und unvorhersehbar ist. In stabileren Kontexten ist ein weniger achtsames und routinemäßiges Handeln angemessener und häufig kostengünstiger. S. 89.

Fokussieren schließt etwas aus; Erweitern schließt etwas ein. Erinnern Sie sich daran, dass das Personal in HROs meist so vorgeht, dass es vieles in seine Betrachtungen einbezieht und den unterschiedlichsten Hinweisen nachgeht, um die Beschaffenheit des Gesamtsystems zu überwachen. Organisationen mit hoher Zuverlässigkeit zeichnen sich durch die Breite dessen aus, was die Leite überwachen, erwarten und fürchten. S. 92.

Truthahn-Illusion

Je größer der Druck, desto wahrscheinlicher wird es, dass wir intensiv nach bestätigenden Informationen suchen und alle Daten, die nicht zu unseren Erwartungen passen, ignorieren. S. 28.

Immer wenn eine Routine aktiviert wird, gehen die Menschen davon aus, dass die aktuelle Situation sich nicht gravierend von jener Situation unterscheidet, in der sie die Routine erlernt haben. Wie bei den meisten Erwartungen neigen wir dazu, nach Bestätigung dafür zu suchen, dass die bestehenden Routinen in Ordnung sind. Und mit der Zeit entdeckt man immer mehr Bestätigung, die auf immer weniger Daten beruht. S. 28.

Siehe dazu auch die Truthahn-Illusion.

Doch es sind eben diese beunruhigenden Wahrnehmungen, in denen sich die Überraschungen, die unerwarteten Ereignissen und schwerwiegenden Probleme andeuten. S. 34.

Achtsame Menschen sehen den größeren Zusammenhang, aber ihre ganzheitliche Betrachtung gilt dem gegenwärtigen Augenblick. Das wird manchmal als Situationsbewusstsein bezeichnet. S. 35.

Komplexe Systeme

Ein Feuerbrand von wenigen Zentimetern Durchmesser, das Schäden in Höhe von 1 Milliarde Dollar verursachte, ist ein klassisches Muster für unerwartete Ereignisse. Kleine Störungen können weitreichende Folgen haben. In den frühesten Stadien macht sich das Unerwartete durch kleine Diskrepanzen bemerkbar, die schwache Warnzeichen kommenden Ärgers aussenden. Diese Hinweise sind schwer zu entdecken, doch wenn man sie entdeckt, kann man die Probleme noch leicht beheben. Wenn die Warnzeichen erst einmal so deutlich werden, dass man sie kaum noch übersehen kann, sind die Ursachen viel schwerer zu behandeln. Das Unerwartete zu managen bedeutet häufig, dass Menschen starke Reaktionen auf schwache Signale zeigen müssen – ein Verhalten, das uns gegen den Strich geht und nicht sehr „heroisch“ wirkt. Normalerweise beantworten wir schwache Signale mit schwachen Reaktionen und starke Signale mit starken Reaktionen. S. 8f.

Kleine Ursache, große Wirkung oder umgekehrt sind ganz klare Kennzeichen für komplexe Systeme.

Es ist unmöglich, irgendeine Organisation allein durch automatische Kontrollsysteme zu leiten, die auf Regeln, Pläne, Routinen, stabilen Kategorien und festen Leistungskriterien gründen. Niemand verfügt über genügend Wissen, um ein automatisches System so zu gestalten, dass es mit einer dynamischen Umwelt fertig wird. Vielmehr müssen Planer, die dynamische Systeme zusammenhalten wollen, eine Form von Organisation auf die Beine stellen, die ein achtsames Arbeiten fördert. S. 42.

Wenn Menschen Erwartungen entwickeln, halten sie den Eintritt bestimmter Handlungssequenzen für wahrscheinlich. Diese Annahmen, die in Routinen, Regeln, Normen, Ausbildung und Rollen verankert sind, sorgen für geordnete Leistungskriterien und Interpretationsmaßstäbe. Doch dieselben Erwartungen, die Ordnung und Effizienz erzeugen, können eine zuverlässige, flexible Leistung auch untergraben, weil sie die Neigung fördern, nach Bestätigung zu suchen, auf bestehende Denkkategorien zu vertrauen und zu unerwarteten und für unvorstellbar gehaltenen Ereignissen, die an Komplexität zunehmen und umso gefährlicher für den Betrieb werden, je länger sie unbemerkt bleiben. Die Gefahren von Erwartungen lassen sich durch Praktiken abwenden, die das Bewusstsein für charakteristische Details und feine Unterschiede fördern, weil diese Detailwahrnehmungen relevant für Fehler, Vereinfachungen betriebliche Abläufe, Flexibilität und fachliche Kompetenz sind. S. 44.

Das Hauptproblem mit komplexen Systemen besteht darin, dass Designer und Betreiber viel Kenntnis haben über die inneren Mechanismen und Betriebsbedingen der Technik, aber auch wissen, dass sie nicht alle unerwarteten Ereignisse, die diese Technik hervorbringen kann, in Gedanken durchgespielt oder selbst erlebt haben. S. 47.

Siehe etwa Leittechnikstörung der österreichischen Übertragungs- und Verteilerstromnetzbetreiber 02.05.-07.05.2013.

„Je länger problematische Bedingungen herrschen, desto weniger vorhersagbar und umso unkontrollierbarer werden die Wechselwirkungen im System.“ Je früher man eine Diskrepanz entdeckt, desto mehr Optionen hat man, um sie zu beheben. Doch je früher man versucht, eine Fehlerquelle ausfindig zu machen, desto schwerer ist sie zu entdecken. S. 50.

Am ehesten ereignen sich Überraschungen an der Schnittstelle zwischen System und Mensch. S. 51.

Störungen treten in interdependenten Systemen in der Regel geballt auf. S. 52.

Unsere Empfehlung laufen auf folgenden Rat hinaus: Machen Sie Ihr System komplizierter. Diese Empfehlung beruht auf einem Grundprinzip des Systemdesigns, nämlich dem Prinzip der notwendigen Vielfalt. Dieses Prinzip meint im Wesentlichen, dass man eine Vielzahl von unterschiedlichen Beiträgen nur erfolgreich bewältigen kann, wenn man über ein breites Reaktionsspektrum verfügt. Wenn die Reaktionsvielfalt geringer ist als die Beitragsvielfalt könnte das System zerstört werden. S. 120.

Komplexität kann nur mit Komplexität gesteuert werden. Vereinfachungen in der Steuerung (Risikomanagement) führen zwangsweise zum Scheitern. Das ist eine Aufforderung, auf viele autonom handelnde Energiezellen zu bauen, weil das Reaktionsspektrum breiter wird.

Achtsamkeit

Die tägliche Routine führt dazu, dass Menschen starke Erwartungen über den Gang von Ereignissen entwickeln ebenso wie die Neigung, auf Autopilot zu schalten. Vermutlich kommt es auch eher zu achtloser Wahrnehmung, wenn man abgelenkt, in Eile oder überlastet ist. (…) Achtlos wird schließlich auch dann vorgegangen, wenn die Leute dem, was sie erkennen, machtlos gegenüberstehen. S. 93.

Was die Achtsamkeit betrifft, so ist es gut, ein schlechtes Gefühl zu haben, und schlecht, ein gutes Gefühl zu haben. S. 99.

Skeptiker, Brummbären und Bilderstürmer sind in einem achtsamen System immer willkommen, selbst wenn sie ein wenig lästig sind. S. 103.

Auch Ihre Organisation versucht vermutlich genauso wie eine HRO, überraschende Ereignisse zu verhindern oder vorherzusehen, doch genauso wichtig ist die Frage: Wie gut ist Ihr System darauf vorbereitet, das Unerwartete zu managen, wenn es sich doch ereignet? Wir konzentrieren uns auf den Begriff managen, um zu verdeutlichen, dass man Überraschungen nicht nur durch Antizipation handhabt und im Voraus beseitigt, sondern auch durch Flexibilität, die auf überraschende Ereignisse reagiert, während sie stattfinden. Das Entscheidende dabei ist, dass man sich schnell wieder fängt, wenn Fehler passieren, und Überraschungen spontan bewältigt. Die Fähigkeit zur Flexibilität, selbst wenn sie nicht ausgeübt wird, trägt zur Diagnose und Entdeckung unerwünschter Vereinfachungen bei und verhindert, dass Fehlerserien kumulieren. S. 105

Die kurze Phase nach Abschluss der Achtsamkeitsprüfung hat große Ähnlichkeiten mit der Zeit direkt nach dem Chaos eines Kampfes auf dem Schlachtfeld. Überall liegen Wahrheiten herum, die umsonst zu haben sind. Das sind Momente des Lernens. Aber es dauert nicht lange, bis die Momente der Wahrheit den Momenten des Normalisierens weichen, durch die man seine Reputation, seine Entscheidungen und seinen Führungsstil schützt. Nachdem das Unerwartete geschehen ist, werden die kleinen offiziellen Geschichten „zurechtgebogen“ und nachgeplappert, und das Lernen hört auf. S. 116.

Den einzigen Menschen, den Sie ändern können, sind zwar nur Sie selbst, aber wenn Sie selbst achtsamer werden, können Sie diese Haltung verfechten, vorleben und selbst davon profitieren. Die vorherrschende Kultur prägt allerdings nicht nur das Individuum, sondern auch die Art, wie sein Handeln gedeutet wird. Das heißt, dass auch gut gemeinte kleine Portionen eines achtsamen Handelns von der vorherrschenden, sozial tolerierten Gedankenlosigkeit zunichtegemacht werden können. S. 116.

Sicherheitskultur

In einer Kultur der Schuldzuweisungen und Stigmatisierung neigt man dazu, eine Einzelperson oder Gruppe herauszugreifen, die für den Vorfall verantwortlich gemacht wird. Man hat einen Schuldigen gefunden und verurteilt ihn. Das Problem ist gelöst – bis der nächste gravierende Fehler auftritt. S. 140.

Auch wenn Kritik an bestimmten Einzelpersonen angebracht sein kann, greift diese einfache Reaktion häufig zu kurz. Entscheidend ist, dass sie die Aufmerksamkeit vom Kontext ablenkt, in dem das Individuum gearbeitet hat. Das Individuum kann man ersetzten, aber die zugrunde liegenden Bedingung, die das Problem erzeugt haben, bleiben bestehen, Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis dasselbe oder ein ähnliches Problem an derselben oder einer anderen Stelle wieder auftritt. S. 140.

Mehr Offenheit und weniger Schuldzuweisungen führen dazu, dass die entscheidende Frage nicht mehr lautet: „Wer ist schuld?“, sondern „Was ist passiert?“. S. 146.

Small wins

Small wins bewirkt Veränderungen, ohne das System direkt oder aggressiv anzugreifen. S. 147.

Small wins entfalten ihre Wirkung, weil sie fassbare Beispiele für andere liefern, weil sie Verbündete anziehen und Gegner abschrecken, weil etwas Konkretes getan wird und ein Kontext entsteht, in dem Veränderungen plötzlich möglich erscheinen. S. 148.

Es ist immer leichter, irgendetwas zu kaufen, als neue Beziehungsformen, neue Organisationsstrukturen und neue Erwartungen und Normen zu entwickeln und zu festigen. Das sind die harten Brocken: Sie sorgen für die Schwierigkeiten und das Chaos, die einen Wechsel zu mehr Achtsamkeit, Zuverlässigkeit und Flexibilität begleiten. Ehrgeizige finanzielle Investitionen können zwar so aussehen, als konzentriere man sich verstärkt auf Fehler oder entwickle mehr Gespür für betriebliche Abläufe, doch im Grund bedeuten sie nur, dass man weiterhin alte, kaum überarbeitete Kategorien anwendet. Das ist business as usual, wenn auch in einer feindseligeren Umwelt als im Geschäftsleben. S. 149.

Die Schaffung eines Beziehungsnetzwerks [vernetztes Denken und Handeln] stellt eine konkrete Methode zum Abbau von Silos und zur Förderung der notwendigen Vielfalt dar. Eine komplexe Gruppe von miteinander vernetzten Stellen, die ihre Fühler ausstrecken, kann komplexe unerwartete Abweichungen besser aufspüren. S. 150.

Man sollte in Wissen und in die Kontrolle über Ressourcen investieren, weil wir überzeugt sind, dass wir dadurch die Fähigkeit entwickeln, flexibel auf überraschende Ereignisse zu reagieren. Deshalb versuchen wir, das Unerwartete zu antizipieren, aber wir tun es, indem wir unsere Fähigkeit zur Flexibilität trainieren. S. 174.