Quelle: www.wienerzeitung.at

Blackout-Experte Herbert Saurugg im Interview über das immer gebrechlichere System der Stromversorgung.

Nur haarscharf ist Europa Anfang Jänner einem Blackout entkommen. Seither herrscht Aufregung in der Strombranche, aus der Politik melden sich vereinzelt Stimmen und die Industriellenvereinigung hat zu einem runden Tisch aufgerufen. Am Flughafen Wien müssen aufgrund des stattgefundenen Frequenzabfalls am 8. Jänner hunderte Hardware-Teile ersetzt werden. Was ein Totalausfall der Versorgungsstruktur in Europa bedeutet, darüber hat die „Wiener Zeitung“ mit dem Blackout-Experten Herbert Saurugg gesprochen.

„Wiener Zeitung“: Der Beinahe-Blackout am 8. Jänner ist Thema. Sollten wir uns Sorgen machen?

Herbert Saurugg: Sorgen vielleicht nicht, aber wir sollten es ernst nehmen und uns vorbereiten. Schon seit Jahren gibt es Hinweise. In der Sicherheitspolitischen Jahresvorschau 2020 des Verteidigungsministeriums wurde gewarnt, dass in den nächsten fünf Jahren mit einem Blackout zu rechnen ist. Da es sich um ein extrem seltenes Ereignis handelt, können wir das auch schwer einordnen. Es ist vergleichbar mit Jänner 2020 in China, als wegen des Coronavirus eine Stadt abgeriegelt wurde. Wenig später waren wir in der gleichen Situation. Der Unterschied zum Blackout: Es gibt keine Ankündigung. In wenigen Sekunden sitzen wir im Finstern. Es ist wichtig vorzusorgen, ohne in große Aufregung zu verfallen.

Was ist der Unterschied zwischen Stromausfall und Blackout?

Beim Blackout gibt es keine klare Definition. Ich meine damit einen überregionalen, weite Teile Europas betreffenden, länger dauernden Strom-, Infrastruktur- und Versorgungsausfall. Der Stromausfall ist nur der Auslöser für eine Kettenreaktion. Alles, was ich nicht jetzt vorbereite, fehlt dann.

Immer wieder ist von Frequenzschwankungen als Gefahr die Rede. Welche Bedeutung hat eine stabile Frequenz für ein intaktes Versorgungssystem?

Das europäische Versorgungssystem funktioniert mit 50 Hertz. Das ist der Gradmesser für die aktuelle Stabilität. Der Normalbetrieb läuft zwischen 49,8 und 50,2 Hertz. Ab 48 bzw. spätestens 47,5 Hertz würden sich alle Kraftwerke zum Eigenschutz abschalten. Erst dann ist von Blackout die Rede. Eine Unterschreitung von 49,8 Hertz gab es bisher erst zweimal.

Warum können diese Schwankungen so ursächlich sein?

Im Stromversorgungssystem müssen Erzeugung und Verbrauch permanent im Einklang sein, denn Strom kann man im Netz nicht speichern. Weil der Verbrauch nicht immer gleich ist, muss nachgeregelt werden. Am 8. Jänner kam es zu einer gröberen Abweichung, die vermutlich in Rumänien ihren Ursprung hatte. Aufgrund einer Unterdeckung durch den dadurch ausgelösten Frequenzeinbruch wurden Großbetriebe in Italien und Frankreich vom Netz genommen. Gleichzeitig wurden Kraftwerke angefahren, um wieder Balance zu schaffen.

Gerade der viel gepriesene Bereich der erneuerbaren Energien, der als Hoffnungsschimmer für ein Gegensteuern beim Klimawandel gilt, zeigt sich in diesem Bereich als Sollbruchstelle. Wie das?

Bei den Erneuerbaren haben wir das Problem, dass wir ein kritisches Systemelement, nämlich die konventionellen Kraftwerke, durch nicht gleichwertige Kraftwerke ersetzen. Mit Kohle, Gas oder Atom und den Generatoren dahinter ist es relativ leicht, schwankende Verbräuche zu regeln. Man bräuchte sehr viele Speicher, um die ungleiche Erzeugung mit erneuerbaren Systemen ausbalancieren zu können. Doch bisher schaut man nur auf die Erzeugung. Zudem wird das System mit zunehmender Vernetzung und Digitalisierung sowie mehr Akteuren immer komplexer. Komplexe Systeme kann man nur beherrschen, indem man dezentrale Strukturen schafft, funktionale Einheiten, wo sich Erzeugung, Verbrauch und Speicherung ausgleichen. Damit stabilisiert sich das Gesamtsystem. Doch wir machen genau das Gegenteil – vor allem mit der EU-Vorgabe, in den nächsten Jahren 70 Prozent der Grenzkupferstellen zu öffnen, um den Handel über Länder noch mehr auszuweiten. Eine Störung führt dann viel schneller zum Kollaps.

Welche anderen Ursachen gibt es?

Grundproblem ist die steigende Instabilität des Systems. Waren im Jahr 2011 noch zwei Eingriffe bei Kraftwerken nötig, um alles zu stabilisieren, gab es 2018 Eingriffe an 301 Tagen. Wenn ein System schon permanent unter Stress läuft, steigt die Gefahr, dass irgendeine Kleinigkeit das ganze zum Kippen bringt. Das kann eine technische Störung sein, aber auch ein Extremwetterereignis. Auch Cyberangriffe oder Sonnenstürme zählen dazu. Mein erwartetes Szenario ist ein Systemkollaps durch Komplexitätsüberlastung.

Blackout in Zeiten von Corona?

Dann haben wir zwei große Probleme, wobei die Gesundheitskrise in den Hintergrund treten würde. Die Schweiz hat ein solches Szenario schon 2014 geübt – Pandemie, Blackout und eine folgende Strommangellage, weil es durch eine gestörte Infrastruktur längerfristig weniger Strom gibt. Kurz gesagt: Murphys Law – Dinge treffen leider auch dann zusammen, wenn man es gerade nicht brauchen kann. Viele Menschen, auch Entscheidungsträger, wollen sich aktuell aber nicht noch eines Themas annehmen. Doch wir müssen hinschauen.

Und was passiert, wenn nichts mehr geht?

Dann kommt alles ziemlich abrupt zum Stillstand. Das Licht ist aus, Aufzüge bleiben stecken, der Verkehr bricht zusammen, U-Bahnen bleiben stehen, Kassensysteme versagen, der Mobilfunk ist binnen Minuten aus.

Für gewöhnlich sind Störungen in kurzer Zeit behoben. Was ist bei einem Blackout anders?

Anders ist, dass es großflächig ist und die Dinge exponentiell eskalieren. Kraftwerke schalten sich aus Eigenschutz ab und benötigen die besagten 50 Hertz, um selbst wieder starten zu können. In Österreich gibt es zwei Kraftwerke, die unabhängig vom Stromnetz wieder hochfahren können – Malta und Kaprun. Simulationen zeigen, dass das rund einen Tag dauern wird. Auf europäischer Ebene geht man von einer Woche aus, bis wieder überall Strom fließt. Jedes Land wird dann versuchen, seine Inseln wieder zu starten. Diese müssen in Folge wieder zusammengeschaltet werden, was nicht trivial ist. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist die Telekommunikation. Ohne sie lassen sich Produktion und Synchronisation von Warenströmen nicht durchführen. Damit dauert ein Anlaufen der Versorgung vermutlich bis in die zweite Woche. Geschätzt wird, dass in Europa innerhalb von Stunden Millionen Tiere der industrialisierten Haltung sterben werden. Das hat langfristige Auswirkung auf die Versorgungslage. Die vollen Regale, wie wir sie kennen, wird es dann länger nicht geben.

Sprich, der Einzelne sollte die Eigenversorgungsfähigkeit sicherstellen?

Definitiv. Es gibt Vorbereitungen in verschiedenen Organisationen, aber die greifen wahrscheinlich nicht, weil die Mitarbeiter fehlen werden. Aus Untersuchungen wissen wir, dass zwei Drittel der Menschen schon nach einer Woche im gefühlten Überlebenskampf ankommen. Und ein knurrender Magen macht nicht vernünftiger. In solch einer Situation zerreißt es uns als Gesellschaft möglicherweise bald. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass sich jeder von uns auf zwei Wochen vorbereitet. Das ist überschaubar und kostet etwa 50 Euro pro Person an Lebensmitteln.

Welche Vorteile ergeben sich daraus, wenn viele versorgt sind – auch für die Gesellschaft als Insgesamtes?

Es gibt immer einen Kipppunkt. Dann bricht der soziale Friede zusammen und wir kommen in Richtung Anarchie. Das Ziel der Vorsorge ist, das hinauszuschieben. Der Kipppunkt ist nach jetziger Lage vor allem im urbanen Raum schon nach wenigen Tagen erreicht. Wichtig ist, Ruhe zu bewahren und auf sich selbst und die Nachbarn zu schauen. Gehen wir von zwei Wochen Stromausfall aus, sind wir zurück in der Steinzeit. Dann hat sich unsere Lebensweise mit all ihren Vernetzungen und Digitalisierungsbestrebungen als evolutionärer Irrtum herausgestellt. Wir hoffen nicht, dass das so enden wird, aber das Potenzial ist da.