Quelle: www.welt.de

WELT: Herr Saurugg, mehr als 30.000 Haushalte waren für eineinhalb Tage im Berliner Stadtteil Köpenick ohne Strom. Warum fordern uns solche Situationen heraus?

Herbert Saurugg: Unser Hautproblem in Mitteleuropa ist, dass wir seit Jahrzehnten eine sehr hohe Versorgungssicherheit haben. Nicht nur in Sachen Strom, sondern in allen Bereichen. In anderen Teilen der Welt gibt es immer wieder große Stromausfälle und Blackouts. Wir sind also in keiner Weise auf außergewöhnliche Ereignisse vorbereitet. Uns fehlen die Handlungskompetenzen, weil wir keine Übung haben. Dazu kommt, dass wir auch nicht vorsorgen.

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WELT: Welche Handlungskompetenzen meinen Sie?

Saurugg: 2005 gab es einen großen Stromausfall im Münsterland, der anschließend untersucht wurde. Man hat festgestellt, dass zum Teil vor allem junge Menschen gefroren haben, obwohl sie Schlafsäcke in ihren Wohnungen hatten. Sie hätten etwas gehabt, um sich zu helfen, haben aber nicht so weit gedacht. Es gibt viele einfache Dinge, an die Menschen nicht denken. Zum Beispiel eine Ersatztoilette. Wenn die Spülung nicht mehr geht, was macht man dann?

WELT: Keine Ahnung. Was denn?

Saurugg: Einen Müllsack nehmen. Vielleicht habe ich auch noch einen Eimer, in den ich den Müllsack reinstecken kann. Sonst nehme ich eben nur den Müllsack. Den kann ich wegbringen, ohne dass es stinkt.

WELT: War der Stromausfall aus Ihrer Sicht also ein gutes Training für die Berliner?

Saurugg: Mir hat einmal ein Vertreter eines Netzbetreibers in Österreich gesagt: „Es wäre gut, wenn mal was schiefgehen würde, weil dann würden die Leute aufwachen und merken, dass das nicht alles gottgegeben ist.” Wenn ich das Szenario eines Blackouts kenne und weiß, was mich erwartet, ist das angenehmer und ich bin besser in der Krisenbewältigung.

WELT: Sie differenzieren zwischen einem Stromausfall und einem Blackout. Was ist der Unterschied?

Saurugg: Für mich handelt es sich um einen Blackout, wenn mehrere Länder in Europa betroffen sind und die Infrastruktur zusammenbricht. Was wir in Berlin gesehen haben, war ein lokaler Stromausfall. Das ist nicht so schlimm, weil Sie den Bereich verlassen können. Wenn ich Hilfe von außen hinzuführen kann, dann wird nichts passieren. Nach Köpenick wurde zum Beispiel viel Polizei geschickt.

WELT: Bei einem länderübergreifenden Blackout wäre das anders. Ist Deutschland darauf vorbereitet?

Saurugg: Europa und Deutschland sind überhaupt nicht auf einen Blackout vorbereitet, weil die Masse der Bevölkerung sich der Bedrohung nicht bewusst ist und nicht vorsorgt. Auch öffentliche Einrichtungen und Unternehmen sind nicht auf das Szenario vorbereitet. Es gibt natürlich einzelne Ausnahmen. Wenn die Masse der Menschen sich aber nicht selbst helfen kann, bringt das nichts. Es gibt Untersuchungen, die ergeben haben, dass Städte in Deutschland sich spätestens nach einer Woche nicht mehr selbst versorgen könnten.

WELT: Könnte es bei einem großflächigen Blackout zu Versorgungskämpfen in Deutschland kommen?

Saurugg: Es wird häufig erwartet, dass dann Chaos und Anarchie ausbricht. Dazu gibt es aber keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, im Gegenteil. Es zeigt sich, dass die Leute zusammenhalten und das Beste aus der Situation machen. Problematisch wird es dann, wenn die eigene Versorgung nicht mehr gesichert ist. Gerade im städtischen Bereich wäre nach etwa zwei Tagen zu erwarten, dass Menschen hungern müssen oder die Nerven verlieren. Dann würden vermutlich Plünderungen beginnen. Es geht aber niemand davon aus, dass es dann gleich zu einem Flächenbrand kommen würde. Auf dem Land sind die Auswirkungen weniger dramatisch. Die Menschen haben in der Regel mehr Vorräte, weil sie seltener einkaufen. Und sie sind eher daran gewöhnt, miteinander zu reden und einander zu helfen.

WELT: Warum ist das Stromnetz in Europa anfällig für das Szenario eines Blackouts?

Saurugg: Weil wir kein nationales oder lokales Stromnetz haben, sondern ein europäisches Verbundsystem, das nur im Ganzen funktioniert. Wenn der Strom an einem Ort ausfällt, betrifft das auch andere Teile des Systems. Ein Beispiel: 2006 wurde in Norddeutschland eine Stromleitung planmäßig abgeschaltet. Durch einen Fehler hatten binnen 19 Sekunden 10 Millionen Haushalte in Europa keinen Strom mehr. Damals kam es zum Glück zu keinem Totalausfall, also einem Blackout.  Der lokale Ausfall kann sich wie eine Infektionskrankheit exponentiell verbreiten. Wenn es ganz schlimm kommt, kollabiert das ganze System.

WELT: Was ist das zentrale Problem an einem Blackout?

Saurugg: Dass unsere Kommunikation zusammenbricht. Zunächst würden viele Menschen wahrscheinlich gar nicht mitbekommen, dass es ein großer Stromausfall ist. Dabei ist gerade dann schnelles Handeln notwendig. Ein ganz heikles Thema sind zum Beispiel Computer und Server. Die haben bei einem Stromausfall manchmal nur Minuten, um noch geordnet heruntergefahren zu werden. Wenn das nicht passiert, sind die Daten korrumpiert. Anschließen ist es dann sehr schwierig, aufwändig und teuer das System wieder hochzufahren. Ähnlich ist es in der Produktion. Wenn der Strom und das Handy nicht mehr funktionieren, muss ich wissen, was zu tun ist, um z. B. Produktionsprozesse noch sicher herunterfahren zu können, damit keine unnötigen Schäden entstehen. Ein Rückfragen oder organisieren von Improvisationsmaßnahmen ist dann kaum mehr möglich.

WELT: Aber es gibt doch beispielsweise bei wichtigen Einrichtungen Notstromaggregate.

Saurugg: Gerade im Gesundheitsbereich sieht man gut, dass das alleine nicht hilft. Dort gibt es zwar eine Notstromversorgung, aber nur für eine gewisse Zeit. Das heißt, sie sind zwar auf einen Stromausfall vorbereitet, aber nicht auf einen Blackout. Bei diesem Szenario geht es aber um alles, was Sie brauchen, aber nicht mehr bekommen, weil die Versorgung zusammenbricht: Medikamente, Lebensmittel, Kleidung. Das geht dann bis hin zu Personalablöse: Wer kommt noch? Wer kann überhaupt noch kommen?

WELT: Wie bereite ich mich denn auf ein Blackout vor?

Saurugg: So wie Sie sich auf einen Campingurlaub vorbereiten würden. Überlegen Sie einfach: Was brauche ich, um 14 Tage unabhängig überleben zu können, ohne dafür einzukaufen zu müssen? Wasser, Lebensmittel, Medikamente, Campingkocher, Taschenlampe, Powerbank für das Smartphone mit Kopfhörer als Radio. Mit vielen Handys kann man nämlich noch normales Radio hören. Der Kopfhörer fungiert dabei als Antenne. Wenn das nicht geht, weil Sie nur eine kleine Stadtwohnung haben, dann sollten Sie es nicht einfach lassen, sondern unterbringen, was Sie unterbringen können. Das würde helfen, auch wenn der Strom nach einer Woche wieder da ist.

WELT: Warum sollte man über diesen Zeitraum hinaus planen?

Saurugg: Das Problem beim Blackout ist auch der Zeitraum nach dem Stromausfall. Wenn es tagelang keinen Strom gibt, müssen die Telekommunikationsversorgung und dann erst die Produktion, Logistik und Treibstoffversorgung erst mal wieder anlaufen. Das kann zumindest mehrere Tage dauern.

WELT: Und für den Fall, dass ich mich nicht vorbereitet habe?

Saurugg: Mein Appell ist immer, die Kommunikation aufrecht zu erhalten – mit dem Umfeld, mit der Nachbarschaft. Gegenseitige Hilfe verkleinert das Eskalationspotential. Solange wir uns kennen und im Gespräch bleiben, für einander da sind und gemeinsam improvisieren, bleibt die Lage beherrschbar.

WELT: Wie lange wird es Ihrer Einschätzung nach dauern, bis in Berlin-Köpenick alles wieder normal funktioniert?

Saurugg: Das kommt drauf an, welche Schäden durch den Stromausfall entstanden sind. Gerade im Bereich der Telekommunikation entstehen bei lokalen Stromausfällen oftmals Hardwareschäden. Es fallen Netzteile aus oder einzelne Komponenten sind kaputt. Das könnte sich im Nachgang zeigen, jetzt, wo der Strom wieder eingeschaltet ist.