Die Komplexität des Strommarktes verstehen
Die Strompreise haben sich seit dem 2. Quartal 2021 massiv verändert. Dieser Beitrag versucht, einige wichtige Aspekte dazu zu beleuchten und Hintergrundinformationen zu liefern. Dabei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben.
Bisher konnte mir niemand wirklich plausibel erklären, wie der Preis zum Zeitpunkt X konkret zustande gekommen ist und welches Kraftwerk etc. dafür ausschlaggebend war. Es wird immer auf das Merit-Order-System verwiesen und dass das Marktmodell den volkswirtschaftlich besten Preis erzielt, aber letztlich ist das Ganze eine Blackbox, die selbst Insider immer wieder überrascht. Als das System entwickelt wurde, waren die Rahmenbedingungen völlig anders und es ist auch glaubhaft, dass die Ergebnisse damals den Absichten entsprachen. Ob das heute noch so ist, kann man glauben oder nicht. Wirklich nachprüfbar ist es auf jeden Fall nicht und es sind einige Zweifel angebracht, die auch in diesem Beitrag angesprochen werden.
Der Merit-Order-Effekt: Ein vereinfachtes Modell
Der Merit-Order-Effekt ist ein häufig zitiertes, aber stark vereinfachtes Modell der Preisbildung am Strommarkt. Es besagt, dass erneuerbare Energien die Preise an der Strombörse senken würden. Dieses Modell geht davon aus, dass Kraftwerke jede einzelne Stunde entscheiden können, ob sie auf Basis von stündlichen Grenzkosten produzieren oder nicht, und den resultierenden digitalen Fahrplan aus Volllast und Nulllaststunden dann auch abfahren können.
Die Realität: Komplexe Kraftwerksflexibilitäten
In Wirklichkeit ist die Situation weitaus komplexer. Konventionelle Kraftwerke können nicht beliebig an und abgeschaltet werden. Die Fahrweise in einer bestimmten Stunde beeinflusst in großem Umfang die Fahrweise in den nachfolgenden Stunden. Diese physikalischen Gegebenheiten und Kraftwerksflexibilitäten werden bei der Preisbildung an der Börse berücksichtigt, da es keinen Sinn macht, dass ein Kraftwerk eine Fahrweise verkauft, die es nicht liefern kann.
Preisbildung an der Strombörse
Der Börsenalgorithmus berücksichtigt nicht nur Angebote für einzelne Stunden, sondern auch ganze Tagesfahrpläne. Kraftwerke können Alternativen anbieten, wie beispielsweise Fahrplan 1 zu Preis P1 oder Fahrplan 2 zu Preis P2. Diese Angebote sind so bepreist, dass das Kraftwerk für den gesamten Fahrplan mindestens seine variablen Kosten deckt. Die Börse optimiert in einem Lauf alle 24 Tagespreise, um die Lastdeckung zu gewährleisten.
Auswirkungen erneuerbarer Energien auf den Strompreis
Durch die Einspeisung von Solarenergie kann es mittags zu einer Überdeckung kommen, die zu negativen Preisen führt und was wir immer häufiger sehen (siehe dazu den eigenen Beitrag Strompreisentwicklungen). Die konventionellen Kraftwerke, die vor und nach der Solareinspeisung die Last decken, müssen jedoch für den gesamten angebotenen Fahrplan ihre Grenzkosten erzielen. Dies kann zu Preisspitzen in den Morgen und Abendstunden führen, um die Verluste aus den Solareinspeisungsstunden auszugleichen.
Empirische Beobachtungen
Entgegen der Annahme des Merit-Order-Effekts ist der durchschnittliche Strompreis seit 2021 deutlich angestiegen, was durch den massiven Anstieg des Gaspreises infolge des Ukraine-Krieges 2022 zu extremen Ausreißern geführt hat. Gleichzeitig sinken oft die Marktwerte der erneuerbaren Einspeisung, obwohl der durchschnittliche Strompreis steigt (Kannibalisierungseffekt). Strom ist billig, wenn Sonne und Wind zur Verfügung stehen, und sonst umso teurer.
Probleme des Merit-Order-Modells
Der Hauptfehler des Merit-Order-Modells liegt in der Annahme einer digitalen Fahrweise der Kraftwerke. In Wirklichkeit stellen Kraftwerke Blockgebote über mehrere Stunden und fahren nur dann, wenn sie für den gesamten Block einen auskömmlichen Preis erzielen. Die Börse bestimmt alle 24 Tagespreise in einem Optimierungslauf. Negative Preise zu bestimmten Tageszeiten können zu Preisspitzen zu anderen Zeiten führen, um insgesamt einen auskömmlichen Durchschnittspreis zu erzielen.
Herausforderungen bei erneuerbaren Energien
Die Subventionierung erneuerbarer Energien verzerrt die Preismechanismen am Strommarkt. Erneuerbare Energien erhalten garantierte Preise, unabhängig vom Börsenpreis, was zu negativen Preisen führen kann, selbst wenn die Einspeisung keinen Mehrwert für die Lastdeckung bietet. Ein rascher Stopp der Subventionen würde jedoch zu Problemen führen:
- Es gibt zu viele nichtsteuerbare Kleinanlagen, die bereits im Frühling 2025 einen kritischen Netzzustand verursachen könnten.
- Wenn der Strompreis das Steuerungssignal ist, merken die Netzbetreiber erst in der Sekunde, wer sich vom Netz nimmt, was dann wiederum systemkritisch werden kann. Daher kann der Strompreis nie das alleinige Steuersignal sein, sondern der Markt muss vielmehr der Physik und nicht umgekehrt folgen.
Fazit
Der Strommarkt ist deutlich komplexer als oft dargestellt wird. Ein Verständnis der tatsächlichen Mechanismen ist wichtig für eine fundierte Diskussion über Energiepolitik und die Integration erneuerbarer Energien. Die Annahme, dass eine Erhöhung der EE-Produktion den durchschnittlichen Strompreis an der Börse senkt, ist nicht korrekt. Stattdessen führt die steigende EE-Einspeisung zu einer unfreundlicheren und teureren Residuallast, während der eigene Marktwert der erneuerbaren Energien sinkt.
Die Schattenseiten des aktuellen Strommarktes
Warum Gestehungskosten allein nicht ausreichen
Systemstabilität in Gefahr: Die Problematik der reinen Kostenorientierung
Der aktuelle Strommarkt belohnt primär jene Erzeugungsanlagen, die die niedrigsten Gestehungskosten aufweisen. Während dies auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, vernachlässigt dieser Ansatz wichtige Nebeneffekte und fördert ein Denken in Einzelteilen, das langfristig die Systemsicherheit gefährdet.
Der österreichische Sonderfall
Österreich verfügt traditionell durch seine zahlreichen Wasserkraftwerke über einen sehr hohen Anteil an erneuerbaren Energien (EE). Interessanterweise spiegelt sich dies kaum in den Marktpreisen wider. Stattdessen bestimmen vor allem die volatilen EE-Quellen wie Wind und Photovoltaik (PV) die Merit-Order.
Der Trugschluss des raschen EE-Ausbaus
Verschiedene Akteure fordern einen schnellen Ausbau weiterer Wind- und PV-Anlagen, in der Überzeugung, dadurch die Strompreise weiter senken zu können. Diese Annahme erweist sich jedoch als Irrtum:
- Zwar sinken die Marktpreise zu bestimmten Zeiten der Überkapazitäten, aber dafür steigen die Systemkosten auf der anderen Seite.
- Die erforderlichen Redispatch- und Engpassmanagementkosten werden in den Netzentgelten „versteckt“ und auf alle Verbraucher umgelegt.
- Die Infrastrukturausbaukosten steigen erheblich und schlagen sich ebenfalls in den Netzentgelten nieder.
- Auch wenn dies nur sehr selten erforderlich ist, wie z.B. Anfang November 2024, werden für die so genannten Dunkelflauten, in denen es keine nennenswerte Wind- und PV-Stromproduktion gibt, nahezu vollständige Back-up-Strukturen und Kraftwerke benötigt. Selbst wenn Batteriespeicher zügig zugebaut werden, reichen diese Kapazitäten bei weitem nicht aus.
Investitionshemmnisse für verlässliche Erzeugung
Ein weiteres Problem: Die Fokussierung auf kurzfristige Kostenvorteile führt dazu, dass immer weniger in zuverlässig verfügbare Erzeugungsanlagen investiert wird. Diese rechnen sich zunehmend weniger, insbesondere aufgrund ihrer hohen Investitionskosten.
Mangelndes Systemverständnis
Der derzeitige Marktmechanismus löst auch kaum Investitionen in dringend benötigte Speichertechnologien aus. Selbst wenn derzeit Speicher gebaut werden, konzentrieren sich diese auf einen sehr begrenzten Zeithorizont von wenigen Stunden, in dem sie wirtschaftlich und rentabel betrieben werden können. Dies ist jedoch bei weitem nicht ausreichend, da Dunkelflauten auch mehrere Wochen andauern können und Puffer über einen sehr großen Zeitbereich zur Verfügung stehen müssen. Diese langfristigen und kostenintensiven Infrastrukturprojekte finden im derzeitigen System keinen Platz.
Fazit: Die Gefahr der Einzelteiloptimierung
Das „System“ optimiert sich so lange selbst, bis es schließlich kollabiert. Der Grund: Es wird nur in Einzelteilen gedacht und gehandelt, die der Systemstabilität entgegenwirken. Ein ganzheitlicher Ansatz, der die Komplexität und Interdependenzen des Strommarktes berücksichtigt, ist dringend erforderlich, um langfristig eine stabile und nachhaltige Energieversorgung zu gewährleisten.
Um die Herausforderungen der Energiewende zu meistern, bedarf es eines umfassenden Systemverständnisses und einer Neuausrichtung des Strommarktes, die über die reine Kostenbetrachtung hinausgeht.
Ein pragmatischer Ansatz
Jeder, der am Strommarkt teilnehmen will, muss eine definierte Anzahl von Stunden im Jahr gesichert einspeisen können. Das würde die EE-Anlagen automatisch zur Kooperation zwingen, sei es mit Speichern oder mit konventionellen Kraftwerken. Dann kann man noch einen CO₂-Rahmen hinzufügen, und das Ganze regelt sich von selbst. Derzeit wird aber in allen Richtungen gefördert, was das Problem nur verschärft, weil jeder nur seinen Eigennutz sieht und verfolgt. Es sollten nur noch systemdienliche Anlagen gefördert werden.
Albert Einstein
„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“
Kannibalisierung der Einnahmen
Der Strommarkt erlebt derzeit in vielen Ländern einen tiefgreifenden Wandel, der hauptsächlich durch den raschen Ausbau erneuerbarer Energien, insbesondere Photovoltaikanlagen, vorangetrieben wird. Diese Entwicklung bringt durch den nicht systemischen Umbau des Stromversorgungssystems enorme Herausforderungen mit sich.
Negative und Nullpreise
Spanien führt in Europa bei der Anzahl der Stunden mit Null- oder negativen Strompreisen. Bis Mitte Oktober 2024 gab es fast 800 Stunden, in denen die Strompreise bei Null oder darunter lagen. Dies ist hauptsächlich auf die hohe Solarstromproduktion während der Spitzenzeiten zurückzuführen. Diese Entwicklung ist in immer mehr Ländern zu beobachten. Auch in Deutschland gab es bis Ende Oktober 2024 bereits 440 Stunden mit negativen Preisen. Zusätzlich 194 Stunden zwischen 0 und 0,5 €/MWh.
Quelle: Julien Jomaux
Siehe auch die interessaneten weiterführenden Beiträge auf seinem Blog.
Kannibalisierung der Einnahmen
Die hohe Produktion erneuerbarer Energien führt zu einer Kannibalisierung der Einnahmen, insbesondere bei Solar- und Windenergie. Im März 2024 lag der Preis in Spanien für fast 50 % der Windkraftstromerzeugung bei 10 € oder weniger. Diese Entwicklung stellt herkömmliche Finanzmodelle für Stromabnahmeverträge (PPAs) in Frage.
Preisvolatilität und Komplexität
Der Markt erlebt eine zunehmende Preisvolatilität, mit niedrigen oder negativen Preisen während Zeiten hoher erneuerbarer Energieproduktion und steigenden Preisen in den abendlichen Spitzenzeiten. Siehe auch den Beitrag Strompreisentwicklungen.
Solarer Marktwertfaktor (Solar Capture Rate)
Die „Solar Capture Rate“ bezeichnet den mengengewichteten Durchschnittspreis, zu dem Solarstrom auf dem Markt verkauft wird. Sie wird häufig in Prozent angegeben. Die Solarsaison 2024 in Europa ist zu Ende, und der Marktwert von PV-Strom ist in vielen Ländern im Vergleich zu den Vorjahren deutlich gesunken. Während in den Jahren 2021 und 2022 die monatlichen Einnahmeraten aus Solarenergie meist über 80 % lagen, sind sie im Jahr 2024 stark zurückgegangen. In Deutschland fielen die Raten in der gesamten Saison unter 60 %, mit einem Tiefstwert von unter 50 % im Mai. Frankreich verzeichnete ähnlich niedrige Werte, und Spanien erreichte im April einen Tiefpunkt von 41 %. Besonders bemerkenswert ist der Rückgang in Griechenland, wo die Abscheidungsraten von einem Tiefstwert von 76 % im Jahr 2023 auf 55 % im April 2024 sanken. Angesichts des erwarteten Zubaus an Solarkapazität zwischen den Saisons 2024 und 2025 ist davon auszugehen, dass diese Raten weiter sinken und PV-Anlagenprojekte ohne Förderung zunehmend unwirtschaftlich werden.
Chancen und Risken für Energiespeicher
Die wachsende Spanne zwischen Höchst- und Tiefstpreisen verbessert das Geschäftsmodell für Energiespeicherung. Allerdings bestehen noch Herausforderungen wie Einschränkungen der Netzinfrastruktur und regulatorische Hürden, die bewältigt werden müssen. Zum anderen ist auch mit dem Speicherausbau mit einer ähnlichen Preis- und Rentabilitätskkannibalisierung zu rechnen.
Neue Denkansätze erforderlich
Ein pragmatischer Ansatz erscheint daher erfolgversprechender: Jeder, der am Strommarkt teilnehmen will, muss eine definierte Anzahl von Stunden im Jahr gesichert einspeisen können. Das würde die EE-Anlagen automatisch zur Kooperation zwingen, sei es mit Speichern oder mit konventionellen Kraftwerken. Dann kann man noch einen CO₂-Rahmen hinzufügen, und das Ganze regelt sich von selbst. Derzeit wird aber in alle Richtungen gefördert, was das Problem nur verschärft, weil jeder nur seinen Eigennutz sieht und verfolgt. Zum anderen braucht es zusätzlich dezentrale Funktionseinheiten mit einem sektorübergreifenden Energiemanagement („Energiezellensystem„). Anders wird die zunehmende Komplexität nicht beherrschbar bleiben, es sei denn, wir hebeln die Naturgesetze und Erkenntnisse der Evolution aus.
Die 70%-Regel der EU
und ihre Auswirkungen auf die Schweizer Stromversorgung
Einleitung: Wenn Mathematik im Strommarkt nicht aufgeht
Im Zuge der Vollendung des EU-Binnenmarktes für Strom wurde die sogenannte 70-Prozent-Regel eingeführt. Diese Regelung, die auf den ersten Blick einfach erscheint, hat weitreichende Konsequenzen – insbesondere für Nicht-EU-Staaten wie die Schweiz. Doch warum ergibt 100 minus 70 in diesem Fall nicht immer 30? Lassen Sie uns tiefer in die Materie eintauchen.
Die 70%-Regel: Was steckt dahinter?
Die EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, ab 2026 mindestens 70 % ihrer Netzkapazitäten für den Handel zwischen EU-Ländern zur Verfügung zu stellen. Diese Regel, Teil des „Clean Energy Package“, soll den Stromhandel innerhalb der EU fördern. Doch wie wirkt sich das auf Länder wie die Schweiz aus?
Geplante vs. ungeplante Stromflüsse
Um die Auswirkungen zu verstehen, müssen wir zwischen verschiedenen Arten von Stromflüssen unterscheiden:
- Geplante Flüsse: Direkte Import-Export-Transaktionen zwischen Ländern.
- Ungeplante Transitflüsse: Strom, der auf dem Weg des physikalisch geringsten Widerstands zum Zielland durch Drittländer fließt.
- Ringflüsse: Strom, der innerhalb eines Landes gehandelt wird, aber physikalisch durch andere Länder fließt (Weg des physikalisch geringsten Widerstands).
Während geplante Flüsse und Transitflüsse zu den 70 % zählen, werden Ringflüsse nicht berücksichtigt – ein entscheidender Punkt für die Schweiz.
Konsequenzen für die Schweiz
- Reduzierte Kapazitäten: Entgegen der einfachen Rechnung stehen der Schweiz nicht 30 % der Kapazitäten zur Verfügung, sondern potenziell deutlich weniger.
- Zunahme ungeplanter Stromflüsse: Mit steigendem EU-internem Handel könnten mehr ungeplante Flüsse durch die Schweiz gehen, was zu Netzüberlastungen führen kann.
- Gefahr von Kapazitätslimitierungen: EU-Nachbarländer könnten gezwungen sein, Exportkapazitäten in die Schweiz zu reduzieren, um die 70%-Regel zu erfüllen.
- Bedrohung der Versorgungssicherheit: Besonders im Winter, wenn die Schweiz auf Stromimporte angewiesen ist, könnte dies problematisch werden.
Lösungsansätze und Ausblick
Swissgrid, der Schweizer Übertragungsnetzbetreiber, bemüht sich um technische Vereinbarungen mit EU-Partnern. Ein Abkommen mit der „Italy North“ Region wurde bereits geschlossen. Langfristig wäre ein zwischenstaatliches Abkommen zwischen der Schweiz und der EU die beste Lösung. Doch nach dem Scheitern der Rahmenabkommensverhandlungen scheint dies in weite Ferne gerückt.
Fazit
Die 70 %-Regel der EU zeigt eindrücklich, wie komplex der europäische Strommarkt ist. Für die Schweiz bedeutet sie große Herausforderungen, aber auch die Notwendigkeit, innovative Lösungen zu finden, um ihre Netzstabilität und Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Situation in den kommenden Jahren entwickeln wird. Quelle: www.swissgrid.ch Siehe auch den Beitrag Stromabkommen EU-Schweiz